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Der neue Roman von Christian Kracht Eurotrash

Der Plot des neuen Romans von Christian Kracht geht so: Der nicht mehr junge Mann Christian Kracht reist zu seiner Mutter nach Zürich, gemeinsam fahren sie mit dem Taxi durch die Schweiz zu Erinnerungsorten seiner Kindheit – eine Vergangenheitsbesichtigung. Es geht ins heimatliche Saanenland, nach Morges, wo der Vater lebte und starb, nach Genf ans Grab des Schriftstellers Jorge Luis Borges und nach Winterthur, wo der Protagonist die Mutter in eine Nervenklinik bringt. Die sentimental journey, durchwirkt von absurd-assoziativen Einfällen, wird zum geistigen und emotionalen Kräftemessen von Mutter und Sohn, zeigt aber auch die Beschädigungen ihrer beider Existenz.

In Eurotrash geht es um Vater, Mutter, Kind, und um viel Geld: »Geld ist das Instrument der Unterdrückung«, sagt die Mutter, »damit kriegen sie Dich, besonders hier in der Schweiz«. Mit viel Geld hantierte der geschäftlich höchst erfolgreiche Vater, der Verlagsmanager Christian Kracht in Diensten von Axel Cäsar Springer. Der Vater sei ein Aufschneider gewesen, ein Geldvermehrer, der dem Personal auf seinen vielen Reisen kleingefaltete 20-Franken-Scheine zusteckte. »So war mein Vater ein enormer Machtmensch gewesen, der durch die Quälerei und die Erniedrigung anderer sich den für ihn nötigen Abstand und eine undurchdringliche Schutzhaut erschaffen konnte. Und manchmal hatte ich mich gefragt, ob nicht meine ganze Familie sich von der Erniedrigung anderer nährte, von einem Elitebewußtsein, das in Wirklichkeit das Gebaren einer Mittelschicht war, die in die Oberschicht hinaufwollte und gleichzeitig vor nichts mehr Angst hatte als vor ihrer eigenen proletarischen Herkunft.« Der Sohn bekam bei jedem Abschied einen 1.000-Franken-Schein.

Doch Eurotrash ist vor allem ein episodisches Mutter-Buch voller anrührender Momente zwischen Mutter und Sohn. Anders als der wohlstandsverwahrlost gezeichnete, vorwiegend bedröhnte Dandy aus Faserland trifft Christian nun auf seine 80-jährige Mutter, gezeichnet von übermäßigem Alkohol- und Psychopharmaka-Konsum, verwirrt und hellsichtig. Wenn er ihr die fettigen Haare kämmt, sagt sie ihm dankbar, wie gut ihr das tue. Sie, die Geldverschwenderin, die sich von Schlemmerfilets und Scheibletten ernährt und die Reisekasse von 600.000 Franken in eine Plastiktüte stopft wie Tand, erscheint ihm mit ihren Ferragamo-Taschen und ihrer Bulgari-Sonnenbrille wie aus der Zeit gefallen. Beide verbindet eine unerhörte Begebenheit, die Erfahrung des sexuellen Missbrauchs.

Abrechnung mit der Schweiz

Der Schriftsteller Christian Kracht hatte 2018 in seiner ersten Frankfurter Poetikvorlesung öffentlich gemacht, als Junge von einem Priester missbraucht worden zu sein. Nun erzählt die Mutter in Eurotrash, »was ihr mit elf Jahren in Norddeutschland im Jahre 1949 widerfahren war, daß sie vergewaltigt worden war, immer wieder, worauf ich weinte, weinte und sie in den Arm nahm und ihr sagte, daß mir Ähnliches wie ihr, ebenfalls mit elf Jahren, widerfahren sei, im kanadischen Internat. Das habe sie immer gewußt und es mir geglaubt, sagte sie, auch schon damals, sie habe nur nicht darüber sprechen können, niemals, der Schmerz habe es verhindert, der Schmerz über ihre eigene Mißhandlung und die Scham darüber, es bei ihrem eigenen Kind nicht verhindert haben zu können, exakt drei Jahrzehnte später.« Fragil und derangiert, kommt sie ihm nah wie nie: »Sie war eigentlich eine ganz außerordentliche Person. Und wenn sie nicht meine Mutter gewesen wäre, hatte ich gedacht, hätte ich sie vielleicht gerne kennengelernt.«

Die Mutter kann gemein sein, schlagfertig überrascht sie den Sohn, den sie »Egomonster« nennt, mit literarischen Anspielungen und Zitaten. Sie will Geschichten von ihm hören, bettelt danach, wie ein Kind vor dem Einschlafen. Als er die Fantasie einer zur Diktatur werdenden Schweiz entwirft, macht sie ihm ein doppeldeutiges Kompliment: »Du erzählst das so spannend, als ob es wahr wäre.« Dann verlangt sie, er solle schreiben wie Marcel Beyer oder Daniel Kehlmann, solle von Meistern wie Flaubert lernen. Hellsichtig mischt sie sich in seine Schreibarbeit ein: »Wie können wir denn gleichzeitig echt sein und erfunden?« Und sie wirft ihm vor, er schöbe letztlich immer alles auf die Schweiz, die Nazis und den Zweiten Weltkrieg. Saanen mit seinen Bergbauern, deren kleine Liegenschaften Hunderte Millionen Franken wert sind, weil nun Oligarchen hierher zum Skifahren kommen, nennt er ein Tal der Absurditäten. Überhaupt kommt die Schweiz schlecht weg. Die Zürcher seien von affektierter, auf rein gar nichts basierender Großspurigkeit, findet Kracht. Ja, der Erzähler wird zum Bezichtiger in bernhardscher Manier: »Es gab keine Musik und keine Filme und keine Literatur, es gab gar nichts in der Schweiz, lediglich die Gier der Schweizer nach mehr Luxus, das Verlangen nach Sushi und bunten Turnschuhen und Porsche Cayennes und dem Bau weiterer immenser Baumärkte in den wuchernden Agglomerationen.«

Unschärfe und Wahrhaftigkeit

Der raffinierte Schriftsteller Christian Kracht verleiht seiner Hauptfigur schon durch die Gleichnamigkeit eine gewisse Authentizität. Sein Roman spielt nicht nur mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion, die Tarnung verwischt auch die Differenz zwischen Autor und Werk: »Ich hatte mich nämlich mit 25 entschlossen, einen Roman in der Ich-Form zu schreiben, erinnerte ich mich, bei denen ich mir selbst und dem Leser vorgaukeln würde, ich käme aus gutem Hause, wäre wohlstandsverwahrlost und hätte etwas von einem autistischen Snob.« Dank dieses gedoppelten Kracht sind die Figuren in Eurotrash von Gerhard Richterscher Unschärfe und Wahrhaftigkeit zugleich. Die Mutter im neuen, seinem sechsten Roman lebt in Zürich, wo Krachts erster Roman endete: »Dazu muss ich außerdem sagen, daß ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun leider nicht mehr einfällt, Faserland genannt hatte.« Hinzu kommt die tatsächliche Namensgleichheit von Vater und Sohn – Christian Kracht schreibt in Eurotrash (s)eine Geschichte in der Fiktion fort und offeriert Variationen seiner Erinnerungen. Ihn beschäftigt vor allem die Unausweichlichkeit der familiären Prägung, die Unentrinnbarkeit von Heimat, Herkunft, Familie. Die Plastiktüte mit seines Vaters Asche war damals bei Finkenwerder in die Elbe geworfen worden. Kann der Aufbruch zur Reise mit der Mutter ein Ausbruch sein? »In diesem Augenblick wusste ich, daß es alles jetzt exakt entweder so weitergehen würde bis zu ihrem Tod oder daß ich jetzt, nur jetzt, genau jetzt in diesem Moment ausbrechen könnte aus dem Kreis des Mißbrauchs, aus dem großen Feuerrad, aus dem sich drehenden Hakenkreuz.« Refrainartig wiederkehrend erinnert Kracht an Guy Debord und das lateinische Palindrom In girum imus nocte et consumimur igni (Im Kreise gehen wir bei Nacht und werden vom Feuer verzehrt). Es führt ihn ins Herz der Finsternis.

Diese Mutter-Reise zeigt Christian Kracht – im Changieren von Autor und Hauptfigur – als gezeichnetes Ich. Er versucht, die Kräfte zu bannen, die sein Leben bestimmen: einen Nazi-Großvater zu haben, privilegiert zu sein, den familiären Reichtum auch aus NS-Verstrickung und Rüstungsaktien bezogen zu haben, schließlich Missbrauch, Scham und Lieblosigkeit, das Empfinden des eigenen Ungenügens: »Niemals war irgendetwas, was ich sagte, auf irgendeine Weise relevant gewesen, nie konnte mein Gesprochenes es mit meinem Inneren aufnehmen.«

In seinem einzigen Interview zu Eurotrash hat Christian Kracht gesagt, sein Vater sei ein sehr charmanter, zuvorkommender, humorvoller Mann gewesen. Seine Mutter sei gestorben, als er die Arbeit an dem Roman gerade beendet hatte, und er bedaure, mit ihr nicht nochmal auf eine Reise gegangen zu sein. Er habe bis zum Schluss große Angst vor ihr gehabt, körperliche Angst. »Als ob es wahr wäre« – Krachts Literatur spielt mit den Leiden an der Wirklichkeit. Der Romancier versucht in Eurotrash, dem eigenen Leben eine andere Richtung zu erschreiben, sich aus dem Kreis wiederkehrender Erinnerungen und schmerzhafter Wiederholungen zu befreien. Beim Abschied sagt die Mutter: »Ich? Das bist doch schon Du.« Sie trifft ins Schwarze.

Christian Kracht: Eurotrash. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 210 S., 22 €.

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