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Neue literarische Blicke auf die deutsche Wendegeschichte Fragen der Perspektive

Im März standen auf den Nominiertenlisten für den Preis der Leipziger Buchmesse drei Bücher, die sich auf höchst unterschiedliche Weise mit der Geschichte der DDR, ihrem Ende durch den Fall der Mauer und deren Folgen auseinandersetzen: In der Kategorie »Belletristik« Lutz Seilers Roman Stern 111 und Ingo Schulzes Roman Die rechtschaffenen Mörder sowie in der Kategorie Sachbuch/Essayistik Jan Wenzel mit Das Jahr 1990 freilegen. Letzteres ist ein aufwendig illustriertes Buch, basierend auf einer Berliner Fotoausstellung gleichen Titels. Obwohl dieses sich eigentlich jeder Genrezuschreibung entzieht, war es in Leipzig der Rubrik »Sachbuch« zugeordnet. Welche Perspektiven lassen sich durch die Lektüre der drei Bücher auf die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung gewinnen? Die großformatige Publikation Das Jahr 1990 freilegen hat Jan Wenzel mithilfe der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegeben. Der Band beschäftigt sich mit historisch datierbaren Ereignissen aus dem Jahr der Vereinigung und ihrer Wirkung: Fotos, Zitate, Gesprächs- und Sitzungsprotokolle aus dem Jahr 1990 werden essayistischen Reflexionen und Geschichten gegenübergestellt, und das, um es gleich vorweg zu sagen, in höchst erhellender und eindrucksvoller Weise. Ausgangsüberlegung für Das Jahr 1990 freilegen war die Beobachtung, dass ein Vergleich der Jahre 1989 und 1990 zeigt, um wieviel deutlicher das Jahr des Mauerfalls in der kollektiven Erinnerung präsent ist. Während mit 1989 viele Menschen spontan etwas verbinden und es auch mit dem Abstand von 30 Jahren leichtfällt, die Abfolge der Ereignisse jenes Herbstes zu schildern, nimmt sich das darauffolgende Jahr, in dem sich das Land neu orientieren und sortieren musste, dagegen bei vielen in der Erinnerung eher blass aus. Dabei zeigt das Buch, das chronologisch angelegt ist und sein Material um einschneidende Daten herum geordnet hat, dass zahlreiche Ereignisse für die deutsche Geschichte retrospektiv als grundstürzend einzuordnen sind: Im Januar 1990 stürmten Demonstranten die Stasi-Zentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße. Die Fotos von zerfledderten Akten in den Büros sprechen von der Wut derer, die sich endlich aufzulehnen wagten. Am 18. März gewinnt die Allianz für Deutschland die Volkskammerwahlen in der DDR, am 1. Juli tritt die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR in Kraft. Aber auch zentrale Ereignisse abseits des deutschen Taumels werden nicht ausgespart: die Freilassung Nelson Mandelas am 11. Februar, die Unabhängigkeit Namibias am 21. März oder die Wahl Václav Havels am 29. Dezember zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei.

Jan Wenzel hat ein ganzes Jahr lang recherchiert, und dabei Erstaunliches über 1990 zutage gefördert, indem er etwa durch Interviews mit Fotografen deren Erinnerungen aufgefrischt hat, vor allem aber, indem er durch die Montage von Bild und Text Wechselwirkungen herstellt, die den Leseprozess selbst zu einem werden lässt, der die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die Unmöglichkeit Geschichte im Moment ihres Verlaufs zu verstehen, mimetisch nachbildet. Wenzel betätigt sich hier als Materialsammler, als Geschichtsarchäologe und als Interpret, indem er, und darin liegt eine entscheidende weitere Qualität des Bandes, den Strukturwandel der Kommunikation mit ins Spiel bringt: Wir sehen etwa Michail Gorbatschow, der sich Ende 1989 ein Nokia-Handy vorführen lässt, das 800 Gramm wog und 10.000 Mark kostete. Wenzel merkt an: »Auf YouTube gibt es einen Filmschnipsel dazu. Man sieht, wie Gorbatschow in das ihm unbekannte Gerät spricht: »Hören Sie mich? – Ich grüße Sie. – Mit wem spreche ich? – Wo befinden Sie sich? – Ist das wirklich echt, oder wie?« Wie würde eine Revolution heute, unter Zuhilfenahme der digitalen Technik verlaufen? – Indem sich Fragen wie diese verdichten, erweist sich das Buch, dem Alexander Kluge 32 Essays beigesteuert hat, nicht nur als Geschichtsbuch post festum, sondern als eines, das im vertiefenden Blick auf das Material den Blick zugleich zu weiten versteht.

Wer Lutz Seilers Roman Stern 111 gelesen hat, der in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewann, wird bei der Lektüre von Das Jahr 1990 freilegen womöglich an einer Stelle aufmerken. Dokumentiert wird in Das Jahr 1990 freilegen der Bericht einer Putzfrau aus Gießen über ein bereits nach dem Zweiten Weltkrieg und dann wieder 2015 geöffnetes Erstaufnahmelager. Darin wurden viele DDR-Übersiedler zuerst empfangen und dann weiter in andere Städte des Landes verteilt. Die Putzfrau berichtet: »Was vor dem 9. November kam, die hatten auch noch Absicht zu arbeiten und ihr Geld sich einzuteilen. Aber was jetzt läuft, ist nicht mehr schön (…) Dass sie uns immer so einen Dreck hinterlassen und furchtbar frech sind sie.«

Die Eltern von Seilers Erzähler Carl Bischoff – »die unwahrscheinlichsten Flüchtlinge, die Carl sich vorstellen kann« – machen sich noch im November 1989 auf in den Westen. In das Raster der Putzfrau würden sie aber dennoch nicht passen. Inge und Walter Bischoff kommen in Gießen an und zeichnen sich stets durch ihre Bemühungen aus, möglichst nicht anzuecken. Inge Bischoff, in DDR-Zeiten Erfinderin von »Ersatz-Backrezepten«, zieht in Seilers Roman nach der Ankunft in Gießen weiter nach Diez und putzt und bügelt dort bei einer persischen Arztfamilie. Walter Bischoff wird von einem windigen Unternehmensgründer angestellt. Er soll Computerkurse geben, aber den Schülern seine DDR-Vergangenheit verheimlichen. Die beiden tun alles, um sich unauffällig einen Platz in der neuen Gesellschaft zu erobern. Anders dagegen der Sohn Carl, der zunächst, verwundert über die Umsiedlung der Eltern in seiner Geburtsstadt Gera bleibt, dann bald aber schon nach Berlin umzieht, wo er im Bezirk Mitte von einer Gruppe anarchischer Künstler, Utopisten und Spinner aufgenommen wird, die von einer anderen Gesellschaft träumen, während er selbst davon beseelt ist, Dichter zu werden. Er haust erst einmal im Auto, dann in einer freistehenden Wohnung, beides provisorisch, bis ihm seine handwerklichen Fertigkeiten in vielfacher Weise zugutekommen und er sich seinen Platz als Dichter weiter sichert.

Während sich die Eltern in den neuen Verhältnisse assimilieren, sieht man Carl, ganz altersgemäß, als leicht gehemmten Aussteiger, bei seinem Versuch, zu einem veritablen Mitglied der Mitte-Community zu werden, die sich »Das Rudel« nennt, sich in der historisch verbürgten Kellerkaschemme namens »Assel« in der Oranienburger Straße trifft und deren Mitglieder in Übergängen und Nischen leben, was bereits durch den Kneipennamen »Assel« seine Pointierung erfährt. Wie in Das Jahr 1990 freilegen lässt sich auch in Seilers Roman die Geschichte der Wiedervereinigung auf mehreren Ebenen lesen, der Fokus lässt sich auf die einzelnen Schicksale richten, auf das, was Carl und seine Eltern, was die Besucher der Assel inmitten Berlins erleben. Man kann den Fokus aber auch auf die Objekte und die Technik richten: Neben die Bilder von Gorbatschow mit dem Nokia-Handy aus Das Jahr 1990 freilegen könnte man die von Walter Bischoff mit seinem Computer legen. Daneben, quasi schon mit nostalgischer Firnis, könnte man das von Carl Bischoff legen, der in dem sowjetischen Fiat-Nachbau des Vaters, einem Shiguli mit orangenen Streifen, nach Berlin getürmt ist, dazu ein Bild von dem DDR-Kofferradio der Marke Stern 111, das auf dem Cover von Seilers Roman abgebildet ist.

Manches an Seilers Roman ist gelungen, seltsam ist allerdings, dass die Kritik das Buch zum großen Wenderoman stilisiert hat. Sicherlich, Stern 111 ist ein historischer Roman, in dem viele Details, die der großen Geschichtsschreibung leicht verlorenzugehen drohen, konserviert sind, es ist ein Entwicklungs- und Künstlerroman, in dem die Leserschaft Carl dabei begleiten kann, wie seine Metamorphose zum Dichter vonstattengeht, es ist ein politischer Roman, der die Frage stellt, was aus revolutionären Veränderungen hervorgeht. Doch im Vergleich zu Das Jahr 1990 freilegen fehlt Stern 111 etwas Panoramisches oder Prismatisches. Man denke hier etwa an Alfred Döblins 1929 erschienenen Roman Berlin Alexanderplatz, einen Vergleich, den man anstellt, will man das Buch Seilers als überzeitlichen Stadt- und Wenderoman etikettieren. Der Erzähler »klebt« in gewisser Weise ungut an seiner Perspektive, steigert sie zugleich unglaubwürdig ins Zeitdiagnostisch-Prophetische, etwa in Sätzen wie: »Das war ein seltsames Gefühl. Es war das Vorgefühl einer Legende (falls es das gibt, dachte Carl), die sich anschickte, ihn aufzunehmen in ihr tiefes, alles umfassendes ›Es-war-einmal‹«. Dieses märchenhafte »Es war einmal« ist allerdings nur halb fantastisch und wirkt unbeholfen. Zwar spricht am Ende sogar die Kommunenziege, doch selbst wenn der Erzähler seine Zweifel hegt, ob das tatsächlich so sei, gibt er auch im Zweifeln sein Deutungsheft nicht aus der Hand. Die ordnende Kraft der Erzählhaltung kommt der erzählten historischen Zeit und den Ereignissen nicht in ihrer Vielschichtigkeit bei, wenn es um die Schilderung der Nachwendezeit geht.

Raffinierte Tiefenbohrung

Überzeugender ist in dieser Hinsicht die Inszenierung einer paradox souveränen Unsicherheit des Erzählers über den Verlauf der Geschichte, die in Ingo Schulzes Die rechtschaffenen Mörder zutage tritt, einem Roman, den man allerdings wiederum mehr als Schelmen-, denn als Wenderoman lesen sollte, wenngleich Schulze damit gleichermaßen eine raffinierte Tiefenbohrung in die Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands, wie in seine derzeitige Verfasstheit gelungen ist.

Erstaunlich ist schon der Name, den Schulze für seine Hauptfigur wählt: Norbert Paulini. In dem Nachnamen klingt das Paulinische an, das der Apostel Paulus mit seinen Schriften verkörpert. Man kann also davon ausgehen, dass Schulzes Hauptprotagonist für den Roman so offenbarend und weissagend wirkt, wie Paulus für die christliche Religion.

Wie der Apostel ist Paulini eine durchaus hochfahrende Figur. Zunächst übernimmt er in den 70er Jahren das Dresdner Antiquariat seiner früh verstorbenen Mutter, wo er am liebsten nur die klügsten und besten Bücher verkaufen würde und wo sich unter seiner Wirkung ein lebendiges Zentrum der Intellektualität herausbildet.

Paulini erscheint zunächst als Freigeist, doch zur Zeit der Wende schlägt sein freiheitliches Denken in Dogmatismus um. Der Antiquar wird zum Nationalisten, zum Bewahrer des Geistes in einer »recht geistlosen« Welt, auch zu dem, was man später »Wendeverlierer« nennen wird. Seine Bücher sind nichts mehr wert, seine Frau, die einen Friseursalon führt, wird als Stasi-Spitzel enttarnt; Paulini verlässt sie. Auch die Villa, in der sich sein Antiquariat befunden hat, lässt er zurück. Ressentiment und Abgrenzung stehen gegen die geistige Freiheit, für die er eingetreten war, Paulini wird zum Hasser eines Menschenbildes, für das er einst einzustehen hoffte.

Der gewiefte Ich-Erzähler in Ingo Schulzes Roman erzählt aber weiter. Er, ein Schriftsteller namens Schultze (mit »tz«) ergreift nun selbst das Wort, um zu ergründen, was sich im Falle Paulinis zugetragen hat. Dass Schultze und Schulze den Lesern hier die Antwort schuldig bleiben, ist dabei ein Beweis der Klugheit dieses Textes, der sich allerdings in seinem Versuch, ein vexierendes Psychogramm zu liefern, gegen Ende hin ein wenig verzettelt. Fest steht jedoch, dass die Revolution mit Paulini eines ihrer Kinder gefressen hat, dass die Liebe zum Geist keineswegs die Liebe zur Verächtlichkeit ausschließt. Und die Zweifel am Gang der Geschichte Paulinis sind immerhin Ausweis einer Skepsis auch gegenüber dem Gang der Geschichte des Landes, in dem sich die Handlung zuträgt.

Der Blick auf die von der Leipziger Jury ausgewählten Bücher, die versuchen, sich 30 Jahre nach dem Mauerfall diesem epochalen historischen Wandel anzunähern, macht deutlich, dass es dem Buch am besten gelingt, die Gleichzeitigkeit und Vieldeutigkeit der Wendezeit abzubilden, das sich am wenigsten auf ein konsistentes Erzählen verlässt, sondern mit Mitteln und Techniken arbeitet, die das Brüchige, Offene, Einschneidende und die verborgeneren Elemente der Geschichte ans Licht zu holen versuchen.

Am besten liest man alle drei hier genannten Bücher, um sich die Geschehnisse im Jahr 1990 zu vergegenwärtigen. Dann nämlich steht neben Seilers utopischer Milieuschilderung und neben Schulzes Psychogramm eines intellektuellen Brandstifters die Fülle der Glutkerne zu nicht auserzählten Geschichten, die Das Jahr 1990 freilegen bereit hält. Man wird dann feststellen: Die Leipziger Jury hat klug gewählt. Ob allerdings Döblin dies alles vielleicht in einem einzigen Roman untergebracht hätte?

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020, 320 S., 21 €. – Lutz Seiler: Stern 111. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020, 528 S., 24 €. – Jan Wenzel (Hg.) Das Jahr 1990 freilegen. Spector Books, Leipzig 2019, 592 S., 36 €.

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