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Populismus in Europa Für alles einen Sündenbock, für nichts eine Lösung

Vor ein paar Monaten waren die Bürger/innen in Deutschland dazu aufgerufen, über die Zusammensetzung des 19. Bundestages zu entscheiden. Mehr als jede achte Stimme entfiel dabei auf eine rechtsnationale Partei, die mit populistischen und rassistischen Parolen Aufmerksamkeit erregt und sich als »einzig wahre Stimme des Volkes« inszeniert.

Dieses Ergebnis entspricht dem Zeitgeist: Vom Front National mit Marine Le Pen an der Spitze in Frankreich über die niederländische PVV von Geert Wilders bis zu Viktor Orbáns Fidesz in Ungarn und der polnischen PiS-Partei unter Jarosław Kaczyński scheinen rechtsgerichtete populistische Parteien in den politischen Systemen europäischer Staaten mittlerweile einen festen Stand zu haben. Linkspopulistische Parteien sind nicht weniger erfolgreich: In Griechenland stellt die Syriza-Partei den Ministerpräsidenten, bei den Parlamentswahlen in Spanien im Juni 2016 wurde die Podemos-Partei erneut drittstärkste Kraft und in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl hatte der linkspopulistische Kandidat Jean-Luc Mélenchon fast 20 % der Stimmen erhalten.

Wie aber ist das Erstarken populistischer Parteien zu erklären? Was überhaupt ist unter populistischen Parteien zu verstehen – zumal der Begriff auf rechte und linke Parteien gleichermaßen anwendbar ist? Und wie sollten Pro-Europäer/innen am besten mit den aktuellen Entwicklungen umgehen?

In seinem Essay Was ist Populismus? erörtert Jan-Werner Müller, dass sich populistische Parteien dadurch auszeichnen, dass sie für sich in Anspruch nehmen, als einzig legitime politische Kraft das gesamte Volk zu vertreten und für dieses in seiner Gesamtheit zu sprechen. Dieser Anspruch lässt andere Parteien oder auch supranationale Institutionen wie die Europäische Union in den Augen populistischer Parteien zwangsläufig als illegitim erscheinen. Wer anderer Meinung ist, vertritt nach Ansicht der Populist/innen die Interessen einer illegitimen Elite und gehört damit nicht zum Volk. So schreibt etwa die AfD in ihrem Wahlprogramm: »Heimlicher Souverän in Deutschland ist eine kleine, machtvolle politische Oligarchie, die sich in den bestehenden politischen Parteien ausgebildet hat. (…) Diese Oligarchie hat die Schalthebel der staatlichen Macht, der politischen Bildung und des informationellen und medialen Einflusses auf die Bevölkerung in Händen.« Dieser Alleinvertretungsanspruch steht im klaren Gegensatz zum europäischen Grundgedanken des Pluralismus, der im Europamotto »In Vielfalt geeint« zum Ausdruck kommt und in der institutionellen Struktur der Europäischen Union fest verankert ist.

Zusätzlich zu dem postulierten Alleinvertretungsanspruch zeichnen sich populistische Parteien durch einen destruktiven Politikstil aus, der die Kritik an der Europäischen Union befördert: So kritisieren diese Parteien in der Regel den Status quo, ohne aber realistische Pläne für eine bessere Zukunft vorzulegen. Es ist einfach, die Europäische Union als zu bürokratisch abzutun. Schwieriger ist es, eine Alternative zu finden, die wie die EU über 70 Jahre den Frieden in Europa garantiert. Es ist, wie Martin Schulz es ausdrückte: Die Populisten haben für alles einen Sündenbock, aber für nichts eine Lösung.

Bemerkenswert bei diesen beiden Punkten – dem Alleinvertretungsanspruch populistischer Parteien und ihrem destruktiven Politikstil – ist die Tatsache, dass sie auf rechts- und linkspopulistische Parteien gleichermaßen zutreffen. Bei allen Unterschieden im Hinblick auf andere politische Fragestellungen, etwa bei der Migrationspolitik, herrscht zwischen rechts- und linkspopulistischen Parteien auch weitgehende Einigkeit im Hinblick auf die Ablehnung der europäischen Integration. So fordert der ehemalige französische Präsidentschaftskandidat und Vorsitzende der linken Partei »La France insoumise« (»Unbeugsames Frankreich«) Jean-Luc Mélenchon einen Austritt aus den europäischen Verträgen, da diese dem nationalen Interesse widersprächen; im Wahlprogramm der AfD werden die Verträge von Schengen, Maastricht und Lissabon als »rechtswidrig(e)« Eingriffe in »die unantastbare Volkssouveränität« dargestellt und nach Meinung der Partei DIE LINKE haben die Verträge von Maastricht und Lissabon den »Neoliberalismus in die Grundlagen der EU eingeschrieben«.

Sicherlich ist die Europäische Union in ihrer jetzigen Form nicht perfekt. Populistische Parteien begehen aber einen fatalen Fehler, wenn sie die Lösung für bestehende Probleme in einer Rückkehr zu nationalen Egoismen suchen. Wer ein sozialeres Europa und eine fairere Besteuerung von Banken und Konzernen anstrebt, muss die notwendigen Mehrheiten im Europäischen Parlament und im Rat organisieren. Wer die EU dagegen als »neoliberales Projekt« diffamiert und, wie die Linkspartei, suggeriert, dass es den Menschen in Südeuropa ohne die EU besser ginge, hilft niemandem. Das Heilsversprechen, wonach durch die Wiederherstellung einer imaginären »Volkssouveränität« alle sozialen und wirtschaftlichen Probleme gelöst werden, kann im Gegenteil fatale Folgen haben. Das beste Beispiel hierfür liefert der Brexit.

Das Beispiel Brexit

Mit dem Slogan »Take back Control« hatten die Vertreter/innen der Leave-Seite an das Souveränitätsgefühl der Briten appelliert und dabei bewusst den Anschein erweckt, Großbritannien könne die EU verlassen, ohne negative Auswirkungen für Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Kauf nehmen zu müssen. Nur drei Tage nach dem Brexit-Referendum und Monate vor Beginn der Austrittsgespräche mit Brüssel hat Boris Johnson versichert, dass Großbritannien nach dem Brexit weiterhin Zugang zum Europäischen Binnenmarkt haben werde – es handelte sich hierbei nur um eine der vielen Lügen, mit denen die Leave-Seite ihre Kampagne betrieben hat. Außerdem, so Johnson, würden Britinnen und Briten weiterhin in der EU leben, arbeiten und studieren können – lediglich die Unterwerfung unter das europäische Rechtssystem solle ein Ende haben. Jetzt, eineinhalb Jahre später, haben sich diese Versprechungen längst als haltlos erwiesen – die Premierministerin selbst hat die Idee, dass Großbritannien nach dem Brexit Zugang zum Binnenmarkt haben könne, in ihrer Grundsatzrede am 22. September 2017 in Florenz verworfen. Zum künftigen Status britischer Bürger/innen in der EU sowie europäischer Bürger/innen in Großbritannien bestehen auch nach der fünften Verhandlungsrunde noch offene Fragen; das erste Angebot der britischen Seite hat die Europäische Union abgelehnt. Mehr und mehr zeigt sich, dass die Populist/innen der Leave-Seite ihre Kampagne betrieben haben, ohne auch nur die Umrisse eines Plans für die Zeit nach dem Brexit zu haben.

Zur Rolle der nationalen Regierungen in der EU

Es wäre jedoch ein Fehler, die Verantwortung für den Brexit lediglich bei der Leave-Seite zu suchen. Auch die unklare Haltung der Labourpartei und insbesondere die ihres Vorsitzenden Jeremy Corbyn hat zum Ausgang des Referendums beigetragen. Anstatt sich entschieden für die Interessen der britischen Bevölkerung einzusetzen, deren Arbeitsplätze von Großbritanniens EU-Mitgliedschaft und dem Verbleib im Binnenmarkt abhängen, hat sich die Labourpartei unter Corbyn halbherzig und unentschlossen gezeigt – so unentschlossen, dass Umfragen zufolge viele Wähler/innen vor dem Brexit-Referendum nicht einmal wussten, ob sie Wahlkampf für oder gegen den Brexit betreibt.

Und schließlich trägt auch der ehemalige britische Premierminister David Cameron eine maßgebliche Verantwortung für den Ausgang des Brexit-Referendums, da er jahrelang die EU für nationale Fehler verantwortlich gemacht hat, nur um dann doch – wenig überzeugend – für den Verbleib zu plädieren. Den reißerischen Tönen der Brexit-Befürworter hatte Cameron lediglich ein zaghaftes »Ja, aber« entgegenzusetzen, mit dem er weder seine eigene Partei noch die Bürger/innen Großbritanniens erreichen konnte.

Das Verhalten des ehemaligen britischen Premiers zeigt beispielhaft, wie einige Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten in verantwortungsloser Weise Politik auf Kosten Brüssels betreiben, ohne sich um die katastrophalen Folgen für Europa und für ihr eigenes Land zu sorgen. Dass die Staats- und Regierungschefs in Brüssel gemeinsame Entscheidungen treffen und dann zu Hause so tun, als seien sie nicht beteiligt gewesen, hat erheblich zum Vertrauensverlust in der EU-Bürgerschaft gegenüber der Europäischen Union beigetragen.

Dabei wird in der Öffentlichkeit zu wenig zur Kenntnis genommen, dass die Politik der Europäischen Union maßgeblich durch die Staats- und Regierungschefs gestaltet wird. Es ist nicht etwa die Kommission oder das Europäische Parlament, sondern es sind die Mitgliedsstaaten, die mit ihrem Verhalten die Akzeptanz der EU schwächen, auch wenn uns Populist/innen gerne das Gegenteil glauben machen wollen.

Die EU hat, wann immer Mitgliedsstaaten, Kommission und Parlament in den vergangenen Jahren an einem Strang gezogen haben, viel erreicht: Sie hat unter anderem eine Unterstützung für jugendliche Arbeitslose ins Leben gerufen und einen Investitionsfonds geschaffen, der allein im ersten Jahr Investitionen von 160 Milliarden Euro mobilisiert hat – einen beträchtlichen Teil davon in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Das sind keine »Eliten-Projekte«, wie uns Populist/innen weißmachen wollen, sondern Maßnahmen, die Arbeitsplätze insbesondere in strukturschwachen Regionen schaffen und so den Menschen vor Ort helfen. Auch europäische Bestrebungen im Bereich der Steuerharmonisierung, etwa bei der Unternehmensbesteuerung, sind keine bloßen Spielereien abgehobener EU-Bürokraten: Schließlich kann es keinem/r der europäischen Steuerzahler/innen egal sein, wenn internationale Konzerne sich weigern, ihren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens zu leisten.

Es ist an den Regierungen der Mitgliedsstaaten, auf die bisherigen Errungenschaften aufmerksam zu machen und, wo es sinnvoll ist, in Zukunft noch stärker mit Kommission und Parlament zusammenzuarbeiten.

Konsequenzen für die Sozialdemokratie

Populismus in Europa ist kein neues Phänomen. Aber die Populist/innen haben es in den vergangenen Jahren gut verstanden, die europäischen Krisen für ihre Zwecke zu nutzen. In Zukunft, sowohl im Umgang mit der AfD als auch im Hinblick auf die anstehenden Wahlen in Italien, werden die Pro-Europäer/innen die populistischen Kräfte auf mindestens drei Feldern stellen müssen:

Erstens muss man sich dagegen wehren, dass sich populistische Bewegungen als Außenseiter inszenieren, die von den liberalen Eliten diskriminiert werden. Die Tatsache, dass die AfD nach derzeitigem Stand als drittstärkste Kraft im Bundestag und in 14 Landesparlamenten vertreten ist, lässt ihre Selbstdarstellung als marginalisierte Protestpartei unglaubwürdig erscheinen. Die italienische Fünf-Sterne-Bewegung stellt u. a. seit Juni 2016 die Bürgermeisterin in Rom – wodurch sich im Übrigen die Lage im Hinblick auf die überbordende Korruption in der Hauptstadt nicht verbessert hat. Und bei einem Blick über den Atlantik fällt auf, dass mit Donald Trump ein Populist par excellence an der Spitze jenes »Systems« sitzt, das er selbst im Wahlkampf als korrupt bezeichnet hat (und sich dort im Übrigen vor allem mit Multimillionären und Familienmitgliedern umgibt).

Dies sind nur einige Beispiele, die darauf hinweisen, dass populistische Kräfte keinesfalls aus politischen Prozessen ausgeschlossen werden. Populistische Parteien schöpfen einen erheblichen Teil ihres politischen Kapitals und ihrer Sympathien aus ihrer Selbstdarstellung als diskriminierte Außenseiter, die ja nur aussprächen, was »alle« dächten, und deshalb von den liberalen Eliten unterdrückt würden. Wenn wir ein weiteres Erstarken des Populismus in Europa verhindern wollen, muss es uns gelingen, diese Selbstdarstellung zu dekonstruieren.

Zweitens müssen wir uns stärker als bisher mit den Konsequenzen der politischen Forderungen populistischer Parteien auseinandersetzen. Eine Forderung, über deren Umsetzung man sich keine Gedanken machen muss, ist schnell aufgestellt. Deshalb müssen wir den Menschen erklären, welche Auswirkungen die Umsetzung populistischer Forderungen für sie persönlich, ihre Arbeitsplätze und die Wirtschaft insgesamt hätte. Ein Beispiel hierfür liefert die Forderung der Fünf-Sterne-Bewegung nach einem »Italexit«: Würde Italien tatsächlich aus dem Euro austreten, würden zunächst die Zinsen auf italienische Staatsanleihen dramatisch steigen. Das würde mit Blick auf die Gesamtverschuldung Italiens (133 % des BIP oder 2,2 Billionen Euro; Stand 2016) ein sofortiges Problem für die Handlungsfähigkeit des Staates darstellen, wovon wiederum die sozial Schwachen – etwa die Empfänger/innen von Sozialleistungen – als erstes betroffen wären.

Drittens darf man sich in der Auseinandersetzung mit populistischen Kräften nicht auf die Kritik an umstrittenen Äußerungen einzelner Politiker/innen beschränken. Auch Sozialdemokrat/innen haben in der Vergangenheit zu viel Kraft darauf verwendet, sich an einzelnen, besonders provokanten Äußerungen einiger weniger Populist/innen abzuarbeiten. Dadurch wird Einzelpersonen, die mitunter gar nicht im Parlament vertreten sind, unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zuteil. Genau darauf aber haben es Politiker wie etwa Beppe Grillo in Italien oder Nigel Farage in Großbritannien abgesehen. Auch die Programme populistischer Parteien bieten Angriffsflächen: So fordert etwa die AfD die Abschaffung der Erbschaftsteuer, obwohl dies vor allem besonders Vermögenden zugutekommen würde und nicht dem einfachen »Volk«, als dessen Fürsprecherin sie sich ausgibt. Wie der von der AfD vorgeschlagene Stufentarif bei der Besteuerung zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen soll, ist ebenfalls fraglich.

Die hier angeführten Konsequenzen für proeuropäische Kräfte zeigen, dass wir den Populist/innen Einiges entgegenzusetzen haben. In einer Demokratie kann niemand von sich behaupten, einziger legitimer Vertreter des gesamten Volkes zu sein. Dem Alleinvertretungsanspruch populistischer Parteien müssen die demokratischen Kräfte Europas deshalb entschiedener als bisher entgegentreten – mit dem gebotenen Selbstbewusstsein und unter Berufung auf die europäischen Werte Pluralismus, Rechtstaatlichkeit und Meinungsfreiheit.

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