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Zwei Gedenkblätter George Eliot & André Gide

Vor mehr als 30 Jahren besuchte ich den Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer, der gerade seinen Roman Marbot veröffentlicht hatte, an seinem Wohnort Poschiavo in Graubünden. Im Gespräch über den Roman als literarische Kunstform nannte er Middlemarch von George Eliot den »größten Roman, der je geschrieben worden sei«. Meine Verlegenheit war nicht gering, denn ich kannte das Buch damals nicht. Die Lektüre holte ich unverzüglich nach, tief beeindruckt von der kritischen Meisterschaft der Gesellschaftsschilderung und speziell der Rolle der Frau in dieser Gesellschaft.

George Eliot, mit eigentlichem Namen Mary Anne Evans, gehört in die Reihe großer englischer Schriftstellerinnen, die von Jane Austen über die Schwestern Brontë bis zu Virginia Woolf führt. Sie wurde 1819 als Tochter eines Gutsverwalters in Warwickshire geboren und war eine Jahrgangsgenossin von Gottfried Keller, Theodor Fontane und Herman Melville. Früh geriet sie in den Umkreis liberaler Freidenker und löste sich aus der religiösen Orthodoxie, indem sie etwa Ludwig Feuerbachs Buch Das Wesen des Christentums übersetzte. Durch ihre offen geführte Liebesbeziehung mit dem Schriftsteller George Henry Lewes skandalisierte sie die viktorianische Gesellschaft ihrer Zeit. Sie war fast 40 Jahre alt, als sie sich der Literatur zuwandte und unter dem Namen George Eliot ihre erste Erzählung publizierte, ein männliches Pseudonym, wie es damals, sofern sie nicht anonym publizierten, bei schreibenden Frauen üblich war. Mary Anne Evans entschloss sich, diesen Namen beizubehalten.

In rascher Folge entstanden drei Romane, die alle erfolgreich waren und ihren Namen bekannt machten. Sie griff darin philosophische und sozialpolitische Themen auf, die aufgrund der mutigen und zuweilen revolutionären Ideen der Autorin nicht überall auf Zustimmung stießen. So war ihre Laufbahn als Schriftstellerin ein Weg durch die Dornenhecke moralischer Missbilligung und literarischer Geringschätzung, ein Weg, der, wie Hans Mayer schrieb, »weniger mit Glanz zu tun hatte als mit mühsam gebanntem Skandal«. Es war vor allem der Erfolg beim Lesepublikum, der George Eliot den Weg bahnte auf die Höhen der Literatur und zurück in die Arme der Gesellschaft. Für ihren Roman Romola erhielt sie noch zu Lebzeiten von Dickens und Thackeray das höchste Honorar, das in England jemals für ein Buch gezahlt worden war, und bei ihrem Tod 1880 hinterließ sie ein gewaltiges Vermögen.

Der Roman Middlemarch von 1874 gilt als George Eliots Meisterwerk. In mehreren Handlungssträngen wird das Leben in einer fiktiven englischen Kleinstadt beschrieben, hinter der sich Coventry verbirgt, um das Jahr 1830, in der Zeit der großen Industrialisierung. Im Zentrum des Buches steht die junge Dorothea Brooke, eine Tochter aus gutem Hause, naiv, schwärmerisch, begeisterungsfähig, erfüllt von dem Wunsch, Gutes zu tun und in die Welt des Geistes einzudringen. Man kann darin, um es mit einem späteren Ausdruck zu sagen, einen frühen Versuch weiblicher Selbstverwirklichung sehen. Ihr gegenübergestellt ist Tertius Lydgate, ein begabter angehender Arzt, der die Situation der Medizin in England verbessern will, dabei aber rasch auf Widerstände stößt. Um diese beiden Zentralfiguren gruppiert sich eine Reihe von unvergesslichen Gestalten, die ein facettenreiches Bild der englischen Gesellschaft ergeben. Die untergeordnete Stellung der Frau ist dabei ein durchgehendes, wenn auch meist nur indirekt intoniertes Motiv. George Eliot hielt sich an die Maxime, dass der größte Gewinn, den wir einem Buch verdanken, in der Erweiterung unserer Sympathien liegt.

Virginia Woolf schrieb ein halbes Jahrhundert später über Middlemarch, dieses »großartige Buch« gehöre zu den wenigen englischen Romanen, »die für erwachsene Menschen geschrieben sind«. Weitere 100 Jahre später wurde Middlemarch, wie zur Bestätigung des Urteils von Wolfgang Hildesheimer, bei einer Umfrage unter namhaften internationalen Literaturkritikern zum bedeutendsten britischen Roman überhaupt gewählt. Er endet mit dem bewegenden Satz: »Denn wenn das Gute wächst in der Welt, dann liegt es teilweise an Taten, die nicht in den Geschichtsbüchern stehen; und dass es um dich und mich nicht so schlecht steht, wie es sein könnte, verdanken wir zur Hälfte der großen Zahl, die zuversichtlich ihr Leben im Verborgenen führten und in Gräbern ruhen, die niemand besucht.«

Auf den Tag genau 50 Jahre nach George Eliot, am 22. November 1869, wurde in Paris André Gide geboren, der in der Zeit zwischen den Weltkriegen das anerkannte Oberhaupt der französischen Literatur war und einer der berühmtesten und einflussreichsten Schriftsteller in Europa. Diese Rolle spielt er seit seinem Tod – er starb 1951 im Alter von 81 Jahren – schon lange nicht mehr. Zwar ist sein literarischer Rang unumstritten, und in Frankreich ist er noch immer eine Autorität, auf die man sich berufen kann. Der literarisch ambitionierte Staatspräsident Emmanuel Macron zum Beispiel ließ sich für sein offizielles Foto im Élysée mit drei Büchern abbilden: den Kriegsmemoiren de Gaulles sowie Romanen von Stendhal und Gide. Doch hat Gides Ruhm alle populären Elemente eingebüßt, und sein Werk ist eine Sache für Kenner geworden. Vor allem die jüngere Generation weiß wenig mit ihm anzufangen, jene jüngere Generation, für die Gide einst ein Idol war, ein Befreier von überkommenen Normen und Zwängen. Dass er diese Rolle heute nicht mehr zu spielen vermag, liegt einerseits daran, dass viele Zwänge, gegen die er rebellierte, nicht mehr existieren (etwa im Bereich des Sexuellen), andererseits war er nicht nur ein Mann der Revolte, sondern zugleich ein Befürworter der Regel und des Maßes, nicht zuletzt eines Zwanges, den man sich selbst auferlegt.

Einige Daten zur Biografie. Gide wurde 1869 als Kind einer großbürgerlichen Familie in Paris geboren. Er war ein Generationsgenosse von Paul Valéry und Marcel Proust oder, um deutsche Beispiele zu nennen, von Stefan George und Heinrich Mann. Er wurde protestantisch erzogen, und seine erste leidenschaftliche Lektüre waren die Evangelien. Diese frühe Prägung ging ihm auch später nie verloren. Zeitlebens war er finanziell unabhängig, und seine literarische Produktion erfolgte ohne materielle Rücksichten. Bereits für den 20-Jährigen, der in der Rue de Rome, im Kreis um Stéphane Mallarmé, dem Hauptvertreter des französischen Symbolismus, verkehrte, stand fest, dass er Schriftsteller werden würde und dass alles, was er schreiben würde, zu betrachten sei als Teil einer großen Konfession. 1889 begann Gide sein berühmtes Tagebuch zu führen, das er sechs Jahrzehnte lang fortsetzte und das von Anfang an zur Veröffentlichung bestimmt war. Sein literarisches Debüt waren 1891 Die Aufzeichnungen und Gedichte des André Walter (Les cahiers et les poésies d'André Walter), die noch ganz im Banne des Symbolismus standen. Mallarmé verglich das Buch mit einem Schleier, »ausgeworfen als Leichentuch, um eine erloschene Jugend mit Wohlgeruch zu erfüllen«. Einige Jahre später veröffentlichte Gide das Buch Les nourritures terrestres, einen Hymnus auf die befreite Sinnlichkeit und das vitale Leben. Zeitlebens schwankte sein Werk zwischen solchen Extremen, zwischen calvinistischer Strenge und hedonistischer Sinnlichkeit, zwischen kritischem Moralistentum und ästhetischem Selbstgenuss, zwischen Bekenntnislust und Maskenspiel. Sein Werk ist vielfältig, diskontinuierlich, nach Form wie Inhalt uneinheitlich, und wer darin nach dem Wesentlichen sucht, findet es nicht in einem einzelnen Buch, sondern nur in der Summe aller Bücher und in ihrem Kontrast. Deswegen hat es wenig Sinn, viele Titel aufzuzählen. Hier seien nur die Bücher genannt, deren Titel bis heute ihren Klang nicht verloren haben: etwa der kleine Roman Die Verliese des Vatikans, vom Autor als Farce bezeichnet, die Autobiografie Stirb und Werde, der experimentelle Roman Die Falschmünzer und natürlich das berühmte Journal. Gide war aber auch ein bedeutender Reiseschriftsteller, der Frankreichs afrikanische Kolonien Kongo und Tschad bereiste und die Kolonialpolitik seines Landes kritisierte; er reiste in die junge Sowjetunion und warb für das kommunistische Experiment, von dem er sich angesichts der stalinistischen Verbrechen dann wieder, früher als viele andere, distanzierte. Er war ein freier Geist, skeptisch, zweifelnd, nicht festlegbar, mit einem starken Bedürfnis nach Bindung und einem noch stärkeren nach Freiheit. Dabei besitzt der Befreier Gide keine klare Botschaft außer eben der Befreiung. Er war kein Ideologe, eher das Gegenteil, ein Proteus. Er hielt sich an die Maxime: »Das Versprechen der Raupe verpflichtet nicht den Schmetterling«. Auf seine Visitenkarte ließ er drucken: »André Gide / En voyage«. Er liebte die Verwandlung, lehnte es ab, sich definieren und festlegen zu lassen. Standpunkte verbrauchen sich, werden abgeworfen wie eine Schlangenhaut.

Von seinem großem Kontrahenten Paul Claudel, dem Vertreter eines erneuerten Katholizismus, stammt das Wort, Gide sei ein »Verderber der Jugend« gewesen, ganz in dem Sinne, wie man es im antiken Athen von Sokrates sagte. In einem Interview von 1947 – das Jahr, in dem Gide den Nobelpreis erhielt – sagte Claudel: »Wie viele Briefe habe ich nicht von irregegangenen jungen Männern bekommen. Am Anfang ihres Weges zum Bösen steht immer Gide.« Claudel vermutete, die von Gide propagierte Freiheit sei nur eine Form der Eigenliebe. Kritik dieser Art hat Gide bis zum Ende seines Lebens begleitet. Hermann Kesten schrieb über den alten Gide: »Er hatte mit Achtzig die Tugenden des Jünglings behalten, die geistige Neugier, die intellektuelle Unruhe, die seelische Frische. Und er besaß die Vorzüge des Alters, die moralische Verantwortlichkeit, den Verzicht auf die Gefallsucht des Jünglings, die erworbene Lebensfülle (…) und vor allem: Menschenliebe.«

Gide war 78 Jahre alt, als ihm der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde. Ein Jahr zuvor hatte er die Erzählung Theseus veröffentlicht, die in Form eines Rückblicks von den Heldentaten und Liebesabenteuern des athenischen Königs Theseus berichtet. Mit ironischer Heiterkeit zieht dieser die Summe seines Lebens. Unschwer kann man darin Gides eigene Lebenssumme erkennen: die Botschaft vom menschlichen Selbstentwurf, der ein Privileg der Jugend ist. Theseus, sein Alter Ego, lässt er sagen: »Die Güter der Erde habe ich genossen. Es tut mir wohl, zu denken, dass die Menschen sich nach mir, dank meiner, als glücklicher, besser und freier erkennen werden. Zum Heil der künftigen Menschen habe ich mein Werk getan. Mein Leben ist vollendet.«

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