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Unschärfeformel und Ordnungsprinzip Geschichte der Leistung

Im 2. Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher heißt es: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«. »Leistung muss sich wieder lohnen«, lautete der zentrale Wahlslogan der CDU im Bundestagswahlkampf 1982. Das Motto »Fördern und Fordern« reüssierte 1998 im Konzept eines aktivierenden Staates. Diese klassischen Maximen des Leistungsethos mögen daran erinnern, dass Leistung als Ordnungskategorie des Sozialen für unsere Gesellschaft zentral ist.

Selbstoptimierungs- und Karriereratgeber sind allgegenwärtig. Und auch wenn gleichzeitig Anleitungen zum Umgang mit Stress und Burnout oder zur Wiedergewinnung von Ruhe und Muße viel Zuspruch erfahren, indem sie auf die negativen Auswirkungen der Meritokratie verweisen – die Leistungsparadigmen sind bestimmend geblieben. Selbst wenn die Leistung uns leiden lässt, unser Gerechtigkeitsempfinden stört, unsere ökonomische Sicherheit und unser psychisches Gleichgewicht gefährdet – bleiben wir nicht dennoch auf Leistung fixiert?

Die Erfindung der Leistung heißt das Buch der Kölner Historikerin Nina Verheyen, in dem sie Leistungspraktiken des 19. und 20. Jahrhunderts skizziert. Sie erläutert die Geschichte des Leistungsbegriffs und beschreibt anschaulich, wie Leistung zunächst als Rechtsterminus entstand und sich dann zunehmend in bürgerlichen Werthaltungen realisierte. Sie zeigt aber auch, wie das Leiden an der Leistung sich immer häufiger in literarischen Werken, etwa in Hermann Hesses Erzählung Unterm Rad und in Frank Wedekinds Theaterstück Frühlings Erwachen, manifestierte. Sogar emanzipatorische Konzepte blieben an das Prinzip der Leistung gebunden. So verband die sozialdemokratische Frauenrechtlerin Lily Braun den Wert eines Menschen, z. B. in einer Rede 1911, unmittelbar mit dessen Leistung: Ein Jahr später beschäftigte sich der Philosoph Max Scheler mit der Figur des Strebers, »für den sich das Mehrsein, Mehrgelten usw. im möglichen Vergleich mit anderen als Zielinhalt seines Strebens vor irgendwelchen qualifizierten Sachwert schiebt; dem jede ›Sache‹ nur gleichgültiger Anlaß wird, das ihn drückende Gefühl des ›Wenigerseins‹ (…) aufzuheben«. Wären wir demnach nicht alle Streber in unserem Bemühen, nicht nur gut, sondern besser als andere zu sein? In Zeiten schulischer Vergleichsarbeiten, von Rankings und Einstufungen ist Leistung zum wichtigsten Maßstab geworden, der in vielen Lebensbereichen alle und alles in ein vergleichendes Konkurrenzverhältnis setzt.

Leistungsunterschiede sind auch politisch brisant, indem sie soziale Ungleichheit verstärken. Dabei zielt Leistung nicht allein auf Selbstoptimierung. Menschen beeinflussen die Bedingungen scheinbar personaler Leistungen, wenn sie ihren Mitmenschen helfen oder sie behindern oder Regeln und Instrumente festsetzen, um Leistung zu bewerten. Praktiken der Zuschreibung von Leistungen sind keineswegs neutral, sondern greifen parteiisch in soziale Ordnungen, soziale Beziehungen und Selbstwahrnehmungen ein. Am Beispiel der Schulgeschichte des jungen Albert Einstein legt Verheyen dar, dass die Leistung eines Schülers nicht zuerst da ist und dann bewertet wird, sondern dass sie sich im Prozess der Bewertung herauskristallisiert. Noten suggerieren eine mathematische, objektive Präzision, die es nicht gibt.

Die Autorin wirft die Frage auf, nach welchem Maßstab Geld und Status in einer Gesellschaft verteilt werden können: »An alle das Gleiche oder an jeden nach seinem Bedürfnis? Wer soll dieses Bedürfnis definieren?« Leistung sei als Differenzkategorie überaus hilfreich, obwohl sie zu Verzerrungen und Einseitigkeiten führt und die Tendenz fördert, nicht nur Erfolg mit Leistung gleichzusetzen, sondern auch den finanziellen Ertrag zunehmend als wichtigsten Indikator für Leistung anzusehen.

Verheyen zielt auf ein besseres Verständnis individueller Leistungen, die zumeist eingebettet sind in gemeinsame Anstrengungen: »Individuelle Leistung gibt es nicht, sie ist ein soziales Konstrukt, anders gesagt: Sie ist eine Leistung von vielen.« Überhaupt verdankt sich die Leistungszuordnung historisch gewachsenen Strukturen und bedarf eines unterstützenden Umfelds. Was Leistung sein soll und worin sie besteht, muss immer aufs Neue ausgehandelt werden. Wer IQ-Tests verfeinert oder über die Regelung des Hochschulzugangs entscheidet, nimmt aktiv am Spiel der Leistungszuordnung teil. Verheyen unterzieht den Leistungsbegriff einer differenzierten Kritik, ohne ihn völlig preiszugeben. Objektive Bewertung einer Leistung, betont sie, sei eine Chimäre. Das Positive der Leistung bestehe gerade in ihrem »Gemachtsein« und in der Offenheit und Veränderbarkeit ihrer Regeln. Sie können hinterfragt, unterlaufen und neu definiert werden, um eine möglichst große Plausibilität zu erreichen.

Leistung sei eine mächtige und unerhört flexible Kategorie, als Unschärfeformel und Ordnungsprinzip gleichermaßen. Verheyen zeigt, »wie sich das Leistungsparadigma im Verlauf der Zeit verfestigt hat, aber auch, wie es immer wieder verändert wurde, indem Leistungserwartungen ebenso stabilisiert wie aufgebrochen, Techniken der Leistungsmessung ebenso fortgeführt wie modifiziert, Formen der Leistungsbelohnung ebenso zementiert wie reformiert wurden«. Sie verteidigt die Leistungsgesellschaft, weil sie die Lebenschancen der Bürger nicht allein an den Zufall der Herkunft, sondern an Leistung und Verdienst knüpft und sich diskursiv darüber zu verständigen vermag, was unter Leistung zu verstehen und an welchem Maßstab sie zu messen ist.

Wir leben, wie Nina Verheyen zutreffend feststellt, in einem Zeitalter der Leistung wie auch in einem der Leistungskritik. Wenn die Unschärfe des Phänomens Leistung als seine Stärke verstanden wird, dann, so die Pointe dieses lesenswerten Buches, sei Leistung eine Größe, die Menschen verbinden und nicht trennen sollte. Auch wenn die allgegenwärtige Leistungsmessung eben dies tut.

Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung. Hanser Berlin, München 2018, 256 S., 23 €.

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