Er war, nach einem Wort von G. K. Chesterton, der »englischste aller englischen Schriftsteller« und der größte Romancier, den England hervorgebracht hat, trotz so bedeutender Vorläufer wie Daniel Defoe und Henry Fielding, trotz so bemerkenswerter Zeitgenossen wie William Makepeace Thackeray und den Schwestern Brontë. Er war auch der populärste englische Schriftsteller, in dem sich die ganze Nation wiedererkannte, ein Liebling breiter Leserschaften, über den allerdings nach seinem Tod die Gebildeten und Anspruchsvollen die Nase zu rümpfen begannen, da sie ihn ein wenig vulgär fanden. Damals schrieb Chesterton sein großes Buch über Dickens, eine leidenschaftliche Apologie, die in den Worten gipfelte: »Ich wage zu erklären, dass Dickens – wenn noch eine Reihe von Jahrzehnten vergangen und noch mehr Unkraut angejätet ist – das ganze England des 19. Jahrhunderts überragen und allein auf seinem Platz stehen wird.«
Ob die Prophezeiung in Erfüllung gegangen ist, mag hier offen bleiben. Aber zweifellos hat Dickens ein Werk hinterlassen, worin das England seiner Zeit umfassender zum Ausdruck kommt als bei jedem anderen Schriftsteller. Seine Bücher sind eine Feier des Lebens oder, wie Chesterton es formuliertehat, »ein Karneval der Freiheit«, das Sprachrohr des Rausches und des Ausdehnungsdranges der Menschlichkeit.
Wie die meisten großen Künstler sah Dickens die Welt so, als ob sie sich den menschlichen Sinnen zum ersten Mal und in aller Frische darböte. Er hat 16 Romane geschrieben, fast alle erzählerische Meisterwerke. Verblüffend ist aber weniger die Quantität seiner Bücher als vielmehr seine Erfindungskraft, sein Einfallsreichtum, die Originalität seiner Situationen und die Vielzahl von Figuren, die diese bevölkern. Sie alle sind originelle Schöpfungen, unverwechselbar, umflossen von dem spezifischen Fluidum des dickensschen Humors. Es war dieser Humor, der Dickens so beliebt machte, der die Leser zur Identifikation einlud als ihr Ebenbild, nur ins Geniale gesteigert. Das machte ihn zum nationalen Autor von einzigartiger Popularität.
Dickens wurde 1812 auf der Insel Portsea bei Portsmouth geboren. Er war das Kind eines Beamten im Marinezahlamt, der unteren Mittelklasse angehörig, die aber im Abstieg begriffen war. Der Knabe besaß Ehrgeiz und träumte von einer großartigen Laufbahn, doch just als er zum Sprung ansetzte, brach das Konstrukt der Illusionen zusammen: Der Vater machte Bankrott und kam ins Schuldgefängnis. Sein Sohn verbrachte zunächst einige verworrene und unselige Tage damit, den Hausrat der Familie in elenden Wucherläden zu verpfänden, und befand sich mit einem Mal mit zerlumpten Jugendlichen in einer großen, öden Fabrik, wo er vom Morgen bis zum Abend immer dieselbe Sorte Etiketten auf ein und dieselbe Sorte Stiefelschwärzeflaschen zu kleben hatte.
Vom Elend dieser Jahre hat Dickens später fast nie gesprochen, aber den Zusammenbruch der bürgerlichen Existenz hat er nie wirklich verkraftet, wie die vielen Kindergestalten zeigen, die in seinen Büchern Ähnliches durchleiden. Einem so vergeistigten und von sich eingenommenen Kind müssen die Rohheit der Umgebung, die Arbeit, die Räume, die anderen Kinder und ihre Reden wie ein Albdruck vorgekommen sein. In David Copperfield hat Dickens, in romanhafter Fiktion, seine Kindheitserfahrung 30 Jahre später dargestellt: »Worte können die heimliche Qual meiner Seele nicht ausdrücken, als ich in diese Gesellschaft herabsank und spürte, wie all meine Hoffnungen, zu einem gebildeten und vornehmen Mann heranzuwachsen, in meinem Herzen zerbrachen.« Aus diesem Knaben, der bei der Arbeit stöhnend zusammenbrach und die halbe Woche hungerte, wurde der Mann, dem mehrere Generationen geruhsamer und vergrämter Kritik vorwarfen, seine Lebensanschauung sei zu rosig gewesen. Chesterton schrieb: »Wenn Dickens einen billigen Optimismus lehrte, hat er ihn in dieser Schule gelernt; wenn er die Kunst besaß, das Weltall weißzuwaschen, ist sie ihm in einer Fabrik für Stiefelschwärze beigebracht worden.« Die These lässt sich wagen, dass fast das gesamte Werk von Dickens aus dieser Kindheitserfahrung hervorgegangen ist und dass er selbst auf der Höhe seiner Kunst die Fähigkeit nicht eingebüßt hatte, die Welt mit den Augen eines Kindes wahrzunehmen.
»Fakten, Fakten und nochmals Fakten!«
Dickens ist oft als Vorläufer der naturalistischen Schule beschrieben worden, und in der Tat gehörte er zu den ersten Schriftstellern, die die soziale Thematik in die Literatur einführten: Der Roman Harte Zeiten ist geradezu ein Musterbeispiel für seine sozialkritische Tendenz. Er entstand 1854 als Fortsetzungsgeschichte für die eigene Zeitschrift Household Words. Diese Zeitschrift hatte es sich zum Ziel gesetzt, soziale Missstände aufs Korn zu nehmen. Der Roman war durch seinen Untertitel »For These Times« ausdrücklich als Zeitroman gekennzeichnet. Dickens trat darin als Ankläger auf, und was er vor das Tribunal seiner Erzählkunst brachte, war der rigide Kapitalismus der Zeit mit seinen sozialen Auswirkungen: Analphabetismus, Kinderarbeit, mangelhafte Erziehung, unzulängliche Wohn- und Arbeitsverhältnisse.
Dickens verlegte die Handlung in die fiktive Stadt Coketown, hinter der man leicht die Industriemetropole Manchester erkennt, ein verrußtes Backsteinrevier, in dem die Mehrheit der Bevölkerung unter Mangel an Licht und frischer Luft und Ernährung zu leiden hat. Bis in die Kinderstuben und Schulen reichen Gefühlskälte und Nützlichkeitsdenken. Zahlen und Fakten sind entscheidend, nur das zählt, was gemessen und gewogen werden kann. Hauptfigur des Buches ist Thomas Gradgrind, ein angesehener Bürger der Stadt und Mitglied des Unterhauses, für den weder Gefühle noch Fantasie von Bedeutung sind, sondern nur Fakten. »Fakten, Fakten und nochmals Fakten!« wie Mister Gradgrind zu sagen pflegt. Nach diesen Regeln, die er einst als Schulleiter angewandt hat, erzieht er seine Kinder Louisa und Tom. Auch in dieses Buch hat Dickens wieder die Perspektive des Kindes eingebracht, des unschuldigen Opfers der Erwachsenenwelt.
Politisch-soziale Grundsatzfragen interessierten Dickens nur insoweit, als sie ihn persönlich anrührten und sein humanitäres Engagement herausforderten. Chesterton schrieb: »Er schert sich wenig um die Erziehung im Dasein der Armen und erklärt zwei Dinge in ihrem Leben für wesentlich: dass man über dieses Leben lachen und dass man es leben kann. Die unteren Schichten bei Dickens sorgen nicht durch Aphorismen sondern durch sich selbst für gegenseitige Heiterkeit. Das Geschenk, das jeder überreicht, ist seine eigene unglaubliche Persönlichkeit, ein ›Sichpreisgeben‹ im weihevollsten und buchstäblichsten Sinn des Wortes. Selbstpreisgabe ist die höchste Stufe der Freigiebigkeit; der Mensch, der sich selbst preisgibt, ist wie der Märtyrer, der Liebende oder der Mönch; aber er ist auch fast immer – wie wir gewöhnlich sagen – ein Narr.
In der Tat ist der Schlüssel für die großen Gestalten von Dickens, dass sie allesamt große Narren sind. Seine Narren sind nicht philosophisch, metaphysisch und dem Wahnsinn nahe wie die Narren William Shakespeares; vielmehr fest verankert in sich selbst, in völlig unbeirrbarer Weise, als zögen sie wie der Antäus der antiken Sage die Kraft aus dem Boden, auf dem sie stehen, aus dem Boden des Volkes, ihrer Klasse, dem plebejischen Erbe.
Lachen und Herzensgüte
Dickens konnte vor Empörung außer sich geraten, wenn er mit Zuständen konfrontiert war, die sein Gerechtigkeitsempfinden und sein mitfühlendes Herz beleidigten. Als er 1842 zum ersten Mal nach Amerika reiste, in der Hoffnung, dort ein Land politischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit zu finden, eine wirkliche Demokratie ohne klassenbedingten Snobismus, sah er seine Erwartungen zutiefst enttäuscht. Sobald er in einer neuen Stadt eingetroffen war, führte ihn sein Instinkt sofort zum Armenhaus, zur Irrenanstalt und zum Gefängnis. In Philadelphia interessierte er sich am meisten für das Gefängnis, denn der Strafvollzug war für ihn ein wichtiges Indiz für das Wesen eines Staates. Mit scharfen Worten kritisierte er das System der Einzelhaft, durch das, wie er glaubte, die Häftlinge die Fähigkeit einbüßen, in die menschliche Gesellschaft zurückzukehren. Von Philadelphia ging die Reise nach Washington, die Regierungsmetropole. Dort äußerte er sich mit sanftem Spott über den weitverbreiteten Genuss von Kautabak und die Unsitte des Spuckens, aber er war empört, als er zum ersten Mal von schwarzen Sklaven bedient wurde. Unter diesem Eindruck schrieb er seinen Bericht über den Besuch im US-Parlament. Die stolze Erklärung der amerikanischen Verfassung, dass alle Menschen frei und gleich seien, empfand er als Hohn, zumal er eine Gerichtsverhandlung miterlebte, in der ein Mann nur deswegen auf der Anklagebank saß, weil er öffentlich die Sklaverei angeprangert hatte.
Die Aufzeichnungen aus Amerika brachten Dickens viel Gegnerschaft ein, ja das Buch wurde in den USA nicht gut aufgenommen. Nach der Rückkehr von seiner Reise und der Publikation seines Reisebuches begann er mit der Arbeit an seinem Amerika-Roman Martin Chuzzlewit. Darin konnte er, nicht mehr der faktischen, sondern nur noch der fiktiven Wahrheit verpflichtet, ungehemmter gegen die ungehobelten Manieren, den Materialismus und die Überheblichkeit der Amerikaner, so wie er sie sah, vom Leder ziehen. Bei seinem Hang zur Schwarz-Weiß-Malerei gerieten ihm die Yankees des Romans fast ausnahmslos zu Urbildern des »hässlichen Amerikaners«. Der Aufschrei der Empörung, der daraufhin durch Amerika ging, zeigte deutlich, dass Dickens' Pfeile ins Schwarze getroffen hatten. Ihn selber bekümmerte die allgemeine Entrüstung nicht sonderlich, denn er hatte es sich angewöhnt, die Schmähschriften, Drohbriefe und gehässigen Zeitungsartikel, die ihm aus der Neuen Welt zugesandt wurden, ungelesen ins Kaminfeuer zu werfen. Allmählich verlor er Amerika aus den Augen, bis er 1867, auf dem Zenit seines Ruhmes und nur drei Jahre vor seinem Tod, noch einmal den Atlantik überquerte, um ein anderes Amerika mit anderen Augen zu sehen. Vieles war in dem dazwischen liegenden Vierteljahrhundert geschehen: der Amerikanische Bürgerkrieg, die Ermordung Abraham Lincolns, die Abschaffung der Sklaverei. Diesmal kam Dickens nicht als kritischer Beobachter, sondern als Dichter und Rezitator seiner eigenen Bücher. Und er kam als geschäftstüchtiger Schriftsteller, der in Amerika noch mehr Ruhm und Geld gewinnen konnte, als er ohnehin schon besaß.
Vom ersten Heft seines ersten Romans The Pickwick Papers wurden 400 Exemplare gedruckt, vom 15. bereits 40.000 – mit solcher Macht schoss der Ruhm des jungen Dickens in die Höhe – er war damals erst 25 Jahre alt. Als er sich später entschloss, öffentlich zu lesen, als er zum ersten Mal seinem Publikum Auge in Auge gegenübertrat, war England im Taumel. Stefan Zweig hat diesen Taumel beschrieben: »Man stürmte die Säle, pfropfte sie voll, an den Säulenpfeilern klammerten sich Enthusiasten an, krochen unter sein Podium, nur um den geliebten Dichter hören zu können. Nie im neunzehnten Jahrhundert hat es irgendwo ein ähnlich unwandelbares Verhältnis zwischen einem Dichter und seiner Nation gegeben.«
Nicht weniger berühmt als Oliver Twist und David Copperfield sind noch heute Dickens' Weihnachtsgeschichten – insgesamt fünf hat er geschrieben seit der ersten von 1843, A Christmas Carol.In Prose mit dem Untertitel Being a Ghost-Story of Christmas. Zu Deutsch: Ein Weihnachtslied in Prosa oder Eine Geistergeschichte zum Christfest. In der englischsprachigen Welt wird Dickens manchmal als der Mann bezeichnet, »der Weihnachten rettete« oder – in liebevoller Übertreibung – als der Mann, »der Weihnachten erfand«. Mit seinem Tod verschwand etwas Unersetzliches aus dem englischen Leben, ein Licht, das über dem grauen Krämertum des Jahrhunderts gestrahlt und die Menschen ermahnt hatte, Lachen und Herzensgüte wiederzufinden und die Grausamkeiten einzustellen, in die sie sich immer wieder verstricken.
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