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Zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach Hanswurst und Genie

Über Jacques Offenbach, den Pariser Operettenmeister, hat Friedrich Nietzsche gesagt, er sei ein Musiker für all jene, die »nicht bloß Ohren« haben. Offenbach gilt als Ahnherr der Operette, und die Musikhistoriker meinen, als eigentlichen Geburtstag der Gattung den 5. Juli 1855 angeben zu können, als sein Einakter Die beiden Blinden (Les deux aveugles) in Paris uraufgeführt wurde. Dieses Werk, ein Sketch von einer halben Stunde Dauer, worin sich die zwei Protagonisten auf einer Pariser Brücke als blinde Musikanten ausgeben, um erfolgreicher betteln zu können, war womöglich das erste Stück, auf das die Definition der Operette passt, die Karl Kraus 50 Jahre später in seiner Zeitschrift Die Fackel lieferte: Die Operette nehme, so Kraus, »eine Welt als gegeben (…), in der sich der Unsinn von selbst versteht und in der er nie die Reaktion der Vernunft herausfordert«.

Was aber ist eine Operette? Offenbach bezeichnete Die beiden Blinden als »bouffonnerie musicale« und Orpheus in der Unterwelt, sein erstes abendfüllendes Werk, als »opéra bouffe«, womit ein feiner Unterschied zur Operette markiert ist, die im Wortsinne nichts anderes ist als eine kleine Oper. Er benutzte insgesamt 22 verschiedene Bezeichnungen für seine Bühnenwerke, darunter »Revue«, »Folie«, »Vaudeville« oder, besonders apart, »Walzer in einem Akt«. Die Bezeichnung »Operette« taucht bei ihm nur in jedem fünften Fall auf, meist für einaktige Stücke, die man heute kaum noch spielt. Seine bekanntesten Werke – neben Orpheus in der Unterwelt sind das Die schöne Helena, La Périchole und Die Großherzogin von Gerolstein – werden allesamt als »opéra bouffe« geführt.

Anfangs hatte sich Offenbach auf die kurze Form beschränkt, nicht weil er sich in größeren Formen unsicher fühlte, sondern weil die Behörden seinem kleinen Theater nur einen Darstellerkreis von zunächst drei, dann vier Personen erlaubten. 1855, mit 36 Jahren, erwarb er eine Holzbude nahe den Champs-Élysées – mehr waren seine »Bouffes-Parisiens«, die bald zu Ruhm gelangten, damals noch nicht. Sie befanden sich in einer Art Gartenwildnis, nur ein paar Schritte entfernt von dem nagelneuen Ausstellungsgebäude der ersten »Exposition universelle«, der Pariser Weltausstellung von 1855. Offenbach mit seinem Sinn für wirtschaftliche Realitäten (der ihn nicht davor bewahrte, sich sein Leben lang haushoch zu verschulden) rechnete mit einer großen Menge von Touristen mit viel Geld und großem Amüsierbedürfnis. Er hatte, nachdem die Genehmigung des Ministeriums vorlag, nur knapp vier Wochen, um das Theater instand zu setzen und das Eröffnungsstück auf den Weg zu bringen. Vielleicht wusste er zu diesem Zeitpunkt bereits, dass mit diesem Stück, Die beiden Blinden, seine Zukunft zur Welt kommen würde.

Satire auf das Kaiserreich

Heute stehen die Bouffes-Parisiens, wie das Theater immer noch heißt, in der Rue Monsigny, nur wenige Schritte von den Boulevards und dem Palais Royal entfernt; dorthin war Offenbach nach den ersten Erfolgen umgezogen. Anfangs experimentierte er mit dem Vergnügungsbedürfnis der Pariser. Auf Die beiden Blinden folgte noch im selben Jahr Ba-ta-clan – ein Titel, der durch den Anschlag auf den gleichnamigen Pariser Konzertsaal vom November 2015 traurige Berühmtheit erlangt hat.

Die zentralen Werke Offenbachs tragen, wie erwähnt, die Bezeichnung »opéra bouffe«. Dies war seine eigentliche Form, durchweg dreiaktig, nicht auf ein paar durchschlagende Gesangsnummern gestellt, sondern abzielend auf sorgfältig komponierte Ensembleszenen und effektvolle Finali. Der Bezug zur Oper bleibt gewahrt. Es sollten eben nicht kleine Opern, sondern andere Opern sein, wobei Offenbach die Bezeichnung »opéra comique« vermutlich nicht gescheut haben würde, hätte es nicht bereits ein Opernhaus dieses Namens gegeben. Nur ein paarmal hatte er Erfolg mit seinem lebenslangen Streben, in dieses Institut einzuziehen, sich neben Komponisten wie Daniel-François-Esprit Auber und Charles Gounod gestellt zu sehen. Er erhielt seine Chancen, aber sie trugen nicht viel zu seiner Entwicklung bei. Das Gefühlvolle, Sentimentale, Liedhaft-Schlichte war nicht seine Sache. Das Vorbild, von dem er am meisten lernte, war Gioachino Rossini, voran das späte Meisterwerk Le Comte Ory.

Offenbach konnte sehr schnell schreiben, sich auf die Routine und seinen Kredit beim Publikum verlassen, aber er konnte auch äußerst penibel an einer Partitur feilen. Selbstbewusst schrieb er: »Ich suche nicht die Quantität, sondern die Qualität. Mich verlangt es nach Situationen, die ich in Musik setzen kann, nicht ein Couplet nach dem anderen. Das Publikum wird der kleinen Refrains überdrüssig, und ich ebenfalls.« Dass dabei die größere Form nicht die künstlerische Aussage verwässerte, sondern umgekehrt erst breit entfaltete, macht die Bedeutung Offenbachs aus. Nicht die kleinen Farcen, vielmehr die abendfüllenden Werke wurden zum Gefäß seiner wirksamen und bleibenden Satire. Das erste große Werk dieses Genres war Orpheus in der Unterwelt, äußerlich als Parodie der berühmten Oper Christoph Willibald Glucks angelegt, im Kern eine Satire auf das französische Kaiserreich Napoleons III. Der Olymp verwandelt sich darin in eine antikische Travestie der französischen Hauptstadt zur Zeit der ersten Weltausstellung. Der Göttervater ist ein Herrscher, der seine Macht mit fragwürdigen Mitteln festigt und sich als erotischer Hasardeur lächerlich macht, indem er sich dem Objekt seiner Begierde in Gestalt einer summenden Fliege nähert. Die einzige Instanz, vor der auch Jupiter Respekt hat, ist die öffentliche Meinung, die Offenbach als Bühnenallegorie auftreten lässt.

Dass hier eine Revolution im doppelten Sinn angezettelt war, als Gesellschaftssatire zunächst, aber auch hinsichtlich des Musiktheaters, blieb der konservativen Kritik nicht verborgen. Ihr Anführer Jules Janin, Theaterkritiker des einflussreichen Journal des Débats, griff Offenbachs Werk gleich nach der Premiere scharf an, und seine boshaften Artikel setzten sich noch einige Wochen fort. Schließlich antwortete Offenbach mit Briefen in der Zeitung Le Figaro: »Bravo, Janin! Guter, ausgezeichneter Janin, größter aller Kritiker! Ihre gehässige wöchentliche Reklame trägt Früchte: wir sind bald bei 150 Vorstellungen dieses abscheulichen ›Orpheus in der Unterwelt‹, und jeden Tag fallen über 2.000 Francs in die Kasse des glücklichen Direktors. Orpheus singt auf seiner viersaitigen Leier jeden Abend Ihr Lob. Mein guter Janin, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie mich jeden Montag in Ihren Artikeln verreißen!«

Die operettenhafte Gesellschaft

Orpheus in der Unterwelt steht mit roten Lettern im Kalender der Musikgeschichte verzeichnet. Die historische Dimension wird erkennbar an dem Umstand, dass auch ein so scharfer Beobachter wie Émile Zola die offenbachsche Bouffe hasste und bekämpfte. In seinem 20-bändigen Romanzyklus Die Rougon-Macquart gab er eine kritische Chronik des Kaiserreichs, aber Nana, der neunte Roman des Zyklus, der eine berühmte Kurtisane dieser Zeit zur Zentralfigur macht, beginnt mit einer bösartig-genauen Beschreibung eines Pariser Theaterabends in den Bouffes-Parisiens. Gespielt wird Die blonde Venus, wohinter Offenbachs nächster Geniestreich, Die schöne Helena, leicht zu erkennen ist. Wieder ein Stück griechische Mythologie, aus der sich Offenbach sein Personal holte. Sechs Jahre nach Orpheus in der Unterwelt sind die Götter wieder allzu menschlich und die Menschen den Göttern auf der Spur. Was kann Helena, die Frau des Königs von Sparta, anderes tun als von dem schönen Paris träumen und seine Geliebte werden – die Liebesgöttin hat sie ihm ja versprochen. Überhaupt: Die Götter haben es gewollt.

Zola verachtete die »opéra bouffe«, weil er spürte, dass es nicht um billige Späße über die Antike ging, sondern um eine künstlerische Revolution. Er sah in dem Komponisten keinen Gegner der dekadenten Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs, sondern ihren Verbündeten. Nana, die Halbweltdame, die in der Blonden Venus ihren spektakulären Bühnenauftritt hat, lässt er an dem Tag sterben, an dem der deutsch-französische Krieg beginnt, ein symbolisches Ende. Offenbachs Stück wiederum, das 1864 den Trojanischen Krieg auf die Bühne brachte, konnte als Vorwegnahme des realen Krieges zwischen Deutschland und Frankreich um die Vormachtstellung in Europa verstanden werden.

Was die Zeitbezüge angeht, so sind wir seit Siegfried Kracauers Offenbach-Buch nicht länger bereit, an einen nur witzig-pikanten Kompositeur von frivolen Melodien und zündenden Tänzen für eine gut zahlende Oberschicht zu glauben. Das Buch, 1938 in einem Exilverlag erschienen, ging von der These aus, dass die offenbachsche Operette nur entstehen konnte, weil die Gesellschaft selbst operettenhaft war. Die scharfe Kritik Theodor W. Adornos, sein Vorwurf, Kracauer habe es versäumt, die Operette Offenbachs als Ursprung des Kitsches aufzudecken, hat das Buch so wenig entwerten können wie die späteren Vorwürfe, es werde darin unterlassen, die marxsche Warentauschtheorie auf Offenbachs Werke anzuwenden. Wichtiger ist festzuhalten, was die Werke von sich aus zutage bringen. Danach scheint es sinnvoller, mit Offenbach nicht so sehr den Beginn der Operette, als vielmehr das Ende einer geschichtlichen Epoche zu vermerken. Offenbach hat der Gesellschaft des Kaiserreichs zwar zum Vergnügen aufgespielt, aber auch die Trauermärsche zu seiner Beisetzung komponiert. Wenn man ihn den »Mozart der Champs-Élysées« genannt hat – was immer eine solche Bezeichnung, die in diesem Fall von keinem Geringeren als Rossini stammt, wert sein mag –, so war Offenbach auch schon ein wenig der Gustav Mahler der Boulevards. Neben dem Lustigen steht das Makabre, stets droht der Umschlag des Heiteren in das Unheimliche. Agamemnon singt im dritten Akt der Schönen Helena die ahnungsvollen Worte: »Tu comprends, que ça ne peut pas durer plus longtemps.« Die Pariser Zuhörer verstanden, dass es nicht lange so weitergehen konnte. Der Krieg stand vor der Tür.

Als er zu Ende war, ging der Kaiser der Franzosen in die Gefangenschaft, die Spekulantenwelt ging wenigstens vorübergehend in die Brüche, im Spiegelsaal von Versailles wurde das deutsche Kaiserreich ausgerufen, und die Pariser Kommune erbaute ihre Barrikaden, bis die Regierungstruppen sie erbarmungslos niederkartätschten, unter beifälligem Zuschauen der deutschen Truppen, die sich darauf beschränkten, einen Ring um die Stadt zu legen. In diese Abgründe konnte Offenbachs Satire nicht hinabsteigen, aber wenigstens der Kaiser hatte durch sie eine Spur fragwürdiger Unsterblichkeit gewonnen. Dennoch ist es unnötig, jeden vertrottelten Kronenträger, der irgendwo bei Offenbach auftaucht, gleich nach Spuren der Ähnlichkeit mit Napoleon III. zu untersuchen.

In seinem letzten Lebensjahrzehnt hatte Offenbachs Leben nicht mehr die Würze der vorausgegangenen 15 Jahre. Eine Zeit lang wurde ihm seine deutsche Herkunft, dann auch sein vermeintlicher Antirepublikanismus vorgeworfen, den man im Gefolge Zolas darin zu finden meinte, dass er im Jahrzehnt zuvor angeblich das Kaiserreich verklärt hatte. Er stürzte sich, als Direktor eines Pariser Theaters, in so hoffnungslose Schulden, dass er jahrelang mit seinen Autorenrechten dafür aufkommen musste. Er unternahm eine amerikanische Konzerttournee, um seinen Finanzen wieder auf die Beine zu helfen. Und die Gicht breitete sich mit immer heftigeren Schmerzen in seinem Leben aus. In seinem letzten Jahrzehnt kamen 30 neue Stücke zur Welt, die er jetzt gelegentlich »Operette« nannte. Aber eine große romantische Oper zu schreiben – das war ein Traum, der so alt war wie er selbst. Immer wieder an Gounod und Wagner gemessen, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sich aufs Feld der romantischen Musikdramatik zu wagen. Les contes d’Hoffmann (Hoffmanns Erzählungen) hieß das letzte Werk, geschrieben in einer für ihn neuen Musiksprache, begonnen drei Jahre vor seinem Tod und nicht völlig abgeschlossen. Im Februar 1881 wurde es an der Pariser Opéra-Comique uraufgeführt, vier Monate nach Offenbachs Tod. Heute ist es neben Bizets Carmen die meistaufgeführte französische Oper des 19. Jahrhunderts.

Zitieren wir zum Schluss einen Aphorismus Nietzsches, in dem Offenbach als willkommener Widerpart zu Wagners Musikdrama figuriert. »Wenn man unter Genie eines Künstlers die höchste Freiheit unter dem Gesetz, die göttliche Leichtigkeit, Leichtfertigkeit im Schwersten versteht«, heißt es da, »so hat Offenbach noch mehr Anrecht auf den Namen ›Genie‹ als Wagner. Wagner ist schwer, schwerfällig: nichts ist ihm fremder als Augenblicke übermütigster Vollkommenheit, wie sie dieser Hanswurst Offenbach fünf-, sechsmal fast in jeder seiner bouffonneries erreicht.«

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