»die Nachricht kam von vorn mittags quer übern Tisch der Schock kam von hinten in der Nacht zum Mittwoch der weltbekannte österreichische Schrift- steller und Philosoph Jean Améry freiwillig aus dem Leben«
Der Anfang eines Gedichtes von Helmut Heißenbüttel: »Jean Amérys gedenkend«, erschienen Ende 1978 in Heißenbüttels Zeitschrift Hermannstraße 14. Ich habe Heißenbüttel 1974 in Hannover kennengelernt, wenige Monate nachdem mir die Leitung der Abteilung Kulturelles Wort im NDR übertragen worden war. Wir waren Rundfunkkollegen, für das Radio tätig, das für die Literatur damals noch eine so große und wichtige Rolle spielte. Heißenbüttel hatte 1959 als Nachfolger von Alfred Andersch die Essay-Redaktion beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart übernommen. Dort war damals eine Reihe bemerkenswerter Autoren tätig, außer Andersch und Heißenbüttel auch Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser. Nicht anders beim NDR: Zu seinem Redaktionsstab gehörten Axel Eggebrecht, Gregor von Rezzori, Ernst Schnabel und Peter Bamm. Es war die literarische Blütezeit des Nachkriegsrundfunks. Als ich 1974 beim Radio anfing, begann diese Blüte bereits abzufallen.
Heißenbüttel war 22 Jahre älter als ich, 53 Jahre alt, als wir uns kennenlernten. Er kam mir aber viel älter vor. Vielleicht lag es am eisgrauen Bart, dem kurzgeschorenen Haar, dem fehlenden linken Arm – eine Kriegsverletzung in Russland 1941. Viel älter vielleicht auch nur deshalb, weil ich selber jung, er aber bereits ein renommierter Autor war. Büchner-Preisträger. Verfasser von Texten, die man gern mit dem Beiwort »experimentell« schmückte. Damit konnte man sich diese Texte gut vom Leibe halten, aber es verlieh ihnen die Aura literarischer Avantgarde, eine Art Heiligenschein.
Wir sahen uns regelmäßig in den gemeinsamen Rundfunkjahren, auf der Buchmesse in Frankfurt oder im Funkhaus in Hannover. Heißenbüttel reiste Jahr für Jahr durch die westdeutsche Republik, besuchte Verlage und Rundfunkredaktionen, neugierig auf die Programme der Kollegen, interessiert an Austausch und Koproduktion. Viele der von ihm verantworteten Sendungen wurden in das NDR-Programm übernommen, viele unserer Sendungen in das Programm des damaligen SDR. Generell wurden die Sendungen einer Reihe ausgetauscht, die bei uns »Autoren als Diskjockeys« hieß und in Stuttgart, etwas vornehmer, »Autorenmusik«. Schriftsteller und Künstler sprachen hier über die Rolle der Musik in ihrem Leben oder stellten ihre Lieblingsmusik vor. Es war eine großartige Reihe, die im Wechsel konzipiert wurde. Es wundert mich, dass noch niemand auf den Gedanken gekommen ist, sie – zumindest in exemplarischen Beispielen – auf CD herauszubringen. Unsere Gespräche drehten sich um Sendungen, Programme, Autoren, Literatur. Natürlich auch um literarischen Klatsch. Da Heißenbüttel viel herumkam und alle Welt kannte, war er eine ergiebige Quelle. Seine Nachrichten und Neuigkeiten erzählte er mit unerschütterlichem Ernst, so dass es einem nicht wie Klatsch vorkam.
Der »experimentelle« Autor war auch als Radiomacher ein Experimentator. Unter dem Oberbegriff Radio-Essay probierte er die unterschiedlichsten Formen aus. Heißenbüttels Sendereihe war tatsächlich ein Versuchslabor. Diese Offenheit verlieh ihr ein Renommee, das sich selbst heute – 40 Jahre nach Ende von Heißenbüttels Rundfunklaufbahn – noch nicht völlig verflüchtigt hat. Er verließ den Stuttgarter Sender mit 60 Jahren, um nur noch als freier Autor zu arbeiten. Zur Situation des Kulturradios schrieb er damals: »Ein neuer Anstoß, so scheint mir, wäre gut, der einmal den Begriff dessen, was für uns Kultur ist, neu definiert, aber zugleich für nachwachsende Generationen die Sensation des Zuhörens, gegen die Bilderflut des Fernsehens, wachhält.«
Der »Entdecker« Jean Amérys
Der Rundfunk war unsere wichtigste »äußere« Verbindung, unsere wichtigste literarische Verbindung war ein Schriftsteller, der damals als philosophischer Essayist Ruhm gewann: Jean Améry. In den späten 60er und dann in den 70er Jahren – für ein gutes Jahrzehnt, bis zu seinem Tod 1978 – war Améry einer der maßgeblichen Intellektuellen der (damals westdeutschen) Bundesrepublik. Helmut Heißenbüttel hatte daran seinen Anteil. Im Brüsseler Goethe-Institut hatte er Améry im Februar 1964 kennengelernt. Eine Begegnung, die folgenreich war, denn Heißenbüttel wurde für Améry zur Schlüsselfigur seiner ganzen schriftstellerischen Existenz. Er hat es später mit den Worten beschrieben: »Es war von meiner Seite ›Liebe auf den ersten Blick‹. Er sagte mir dann gesprächsweise: ›Ich bin nicht nur Lyriker, ich bin auch Redakteur einer Funkanstalt, nämlich des Süddeutschen Rundfunks. Möchten Sie nicht mal für mich etwas schreiben?‹ Ich sagte, fast provokatorisch – es war 1964, es lief gerade in Frankfurt der große Auschwitz-Prozess: ›Das einzige, was ich für Sie schreiben könnte, wäre etwas über meine Erfahrungen mit Auschwitz und über meine Existenz als – das Wort will gar nicht über meine Lippen – als Opfer.‹«
So entstand, zunächst als Funkserie konzipiert, das Buch Jenseits von Schuld und Sühne – eine Untersuchung über die Rolle des Intellektuellen im Konzentrationslager. Améry hat die Niederschrift des Buches als »Katharsis« bezeichnet: Alles Verdrängte kam wieder hoch und wurde geistig durchgearbeitet: zunächst in dem Eingangskapitel »An den Grenzen des Geistes«, sodann in dem Kapitel »Die Tortur«. Das waren die beiden Texte, die Heißenbüttel im Oktober 1964 und im Mai 1965 sendete, das zweite Kapitel wurde in der Zeitschrift Merkur abgedruckt, für die Améry im folgenden Jahrzehnt so häufig wie kein anderer Autor tätig war. Im Jahr darauf erschien das ganze Buch. Mit ihm war Améry schlagartig zu einer intellektuellen Instanz geworden, zum profundesten Analytiker dessen, was man mit einem späteren Wort »Zivilisationsbruch« genannt hat. Heißenbüttel vermittelte auch den Kontakt zum Verlag Klett-Cotta, der außer der Zeitschrift Merkur auch Amérys weitere Bücher verlegte. Aber sie alle wurden, bevor sie im Druck erschienen, im Rundfunk gesendet, und das Privileg der ersten Sendung lag stets bei Heißenbüttel. Das galt für den Essay Über das Altern, die Studie Hand an sich legen, die Jugendautobiografie Unmeisterliche Wanderjahre und den Roman-Essay Lefeu oder Der Abbruch.
»Je ne comprends rien à rien«
Heißenbüttel & Améry: Ich habe über dieses Verhältnis oft nachgedacht, ohne zu einem schlüssigen Ergebnis zu kommen. Was verband die beiden Autoren? Améry nannte Heißenbüttel zwar seinen »Entdecker« und Mentor, doch mit den sprachexperimentellen Texten Heißenbüttels wusste er wenig anzufangen; manches spricht dafür, dass er sie zu jenen »Büchern vermaledeiter Sprache und unenthüllbaren Inhalts« zählte, die dem Erzähler der Unmeisterlichen Wanderjahre den Tag vergällen. Heißenbüttels Roman D’Alemberts Ende, diese gigantische Montage aus Sprachfetzen und Zitaten, die nur mit Mühe als Roman zu bezeichnen ist, hatte Améry zunächst für den Merkur rezensieren sollen, aber er kapitulierte schließlich und räumte dem Herausgeber der Zeitschrift, Hans Paeschke, gegenüber seine »Rückständigkeit« ein: »Ich fühle dunkel, daß dies ein bedeutendes Buch ist, aber auf weiten Strecken bin ich völlig ratlos. Il m’arrive de me dire: Mais je ne comprends rien à rien.« Salopp übersetzt: Ich verstehe nur Bahnhof.
Bevor Améry sich an die Niederschrift seines eigenen Romans Lefeu setzte, stellte er in einem Brief die ängstliche Frage: »Aber wird mein Erzählen noch standhalten können vor alledem, was man heute Prosa nennt?« Das bezog sich zunächst auf den nouveau roman französischer Provenienz, aber es konnte genauso für die »Textbücher« Heißenbüttels gelten – ihre experimentelle »Modernität« war Améry zutiefst fremd. In Lefeu gelang es ihm dann – in ganz anderer Weise als Heißenbüttel –, in eine neue Dimension erzählender Prosa vorzudringen, sich vom rationalen Sinn der Wörter und Sätze zu lösen, seine Sprache für das Unbewusste und Halluzinatorische zu öffnen. Aber gerade gegenüber diesem Buch verhielt sich Heißenbüttel reserviert. Und Marcel Reich-Ranicki schrieb dann über Lefeu eine vernichtende Rezension – der grausamste, auch ungerechteste Verriss, der mir je zu Gesicht gekommen ist – Améry hat sich nie mehr davon erholt.
Ich erinnere mich an die Nachricht seines Todes – sie traf im Oktober 1978 während der Frankfurter Buchmesse ein. Wir alle, die ihn gekannt und mit ihm zu tun gehabt hatten, waren in diesem Augenblick wie paralysiert. Ein großes Lebenswerk erfuhr einen jähen Abbruch. Auch Helmut Heißenbüttel erging es so, er schrieb in einem Nachruf: »Als mich die Nachricht vom Freitod Jean Amérys erreichte, während der Frankfurter Buchmesse mittags am 18. Oktober, trug mich die Überraschung über den Schock hinweg. Die Nachricht kam von vorn, aber der Schock von hinten. Ich war zunächst unfähig, anders zu reagieren als mit dem Gedanken der professionellen Deformation: jetzt mußt du ein Gedicht für ihn machen.«
Heißenbüttel hat dieses Gedicht tatsächlich gemacht, es heißt »Jean Amérys gedenkend« und schließt mit den Zeilen:
»Erinnerungen von überall her Halluzinationen am hellichten Tag in Frankfurt Berlin und Stuttgart der Suizidant ist ein Mensch er sagt übrigens auch lebwohl ersagt es war vieles sehrschön«
Helmut Heißenbüttel: Textbücher 1–6. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 304 S., 25 €. – Helmut Heißenbüttel: Zur Lockerung der Perspektive. 5 x 13 Literaturkritiken (Ausgewählt und hg. von Klaus Ramm unter Mitarbeit von Armin Stein). Wallstein, Göttingen 2013, 360 S., 32 €. – Helmut Heißenbüttel: Jean Amérys gedenkend (Hg. von Thomas Combrink). Aisthesis Verlag, Bielefeld 2017, 104 S., 14,80 €. – Helmut Heißenbüttel/Jürgen Becker: Korrespondenzen (Hg. von Thomas Combrink). Aisthesis, Bielefeld 2020, 126 S., 14,80 €.
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