Menü

Zum 150. Geburtstag des Dirigenten Arturo Toscanini »Ich gebe mein Blut, ihr müsst das eure geben«

Er bekämpfte den Schlendrian im Konzert- und Opernbetrieb, probte mit fanatischer Intensität und setzte Maßstäbe musikalischer Interpretation. Seine Arbeitsbesessenheit, seine Konzentrationsfähigkeit, sein einzigartiges musikalisches Gedächtnis waren ebenso legendär wie sein kompromissloser Charakter. Arturo Toscanini veränderte um die Wende zum 20. Jahrhundert die gesamte Konzeption des Dirigierens, beseitigte die Willkür der spätromantischen Interpretation und wurde, wie neben ihm wahrscheinlich kein anderer Dirigent, zur interpretatorischen Leitfigur seiner Epoche.

Hugo Burghauser, langjähriges Mitglied der Wiener Philharmoniker, hat beschrieben, wie Arturo Toscanini bei den ersten Proben mit seinem Orchester wirkte: »Für uns Philharmoniker eröffneten sich neue Perspektiven des Vortrags, vergleichbar der Tiefenschärfe planimetrischer Bühnenbilder, die erst durch die richtige Beleuchtung plastisch wirken. Diese Effekte beruhten auf genauester Ausgewogenheit, auf Dosierung und dynamischer Abstufung. Seine Konzerte gerieten mit der Präzision eines Prägestempels. Mit dem ersten Takt war die Vielfalt des Orchesters wie ein elektrisches Stromnetz in sein Zeitmaß eingeschaltet.« Bernard Shore, erster Geiger im BBC Orchestra, hat diesen Eindruck bestätigt: »Unter Toscanini wurde das Spiel des Orchesters zu einer ganz anderen Kunst. Er stimulierte seine Leute, frischte sie geistig auf, und Musik, die bereits schal geworden war, erstrahlte in ihrer früheren unverdorbenen Schönheit. Man freute sich geradezu auf die Proben. Es gab keinen Augenblick der Langeweile.«

Toscanini wurde am 25. März 1867, tief im 19. Jahrhundert, in Parma geboren. Damals waren Giuseppe Verdis große Alterswerke noch nicht komponiert, die Symphonien von Johannes Brahms noch nicht geschrieben, Richard Wagners Bayreuth noch nicht erbaut. Mit vier Jahren sah er zum ersten Mal eine Oper: Verdis Maskenball. Mit neun besuchte er das Konservatorium in Parma, studierte Klavier, Cello und Komposition. Auf dieser Schule, die sein Biograf Harvey Sachs mit einem Gefängnis verglichen hat, herrschte eiserne Disziplin. Kein Schüler unterwarf sich ihr bedingungsloser als Toscanini. Doch als er 18 wurde probte er den Aufstand und entlief dem strengen Institut, um Cellist in einem Orchester zu werden. Die erste Konzertreise führte ihn mit einer Operntruppe nach Brasilien. Vor einer Aufführung von Verdis Aida kam es zu Tumultszenen im Publikum, woraufhin sich der Dirigent weigerte, die Aufführung zu leiten. Der 19-jährige Toscanini eilte ans Pult und dirigierte die Oper aus dem Gedächtnis. Am nächsten Tag las man in den Zeitungen von Rio de Janeiro: »Dieser bartlose Maestro, der seinem Taktstock das heilige künstlerische Feuer und dem Orchester die Energie und Leidenschaft eines genuinen Künstlers mitzuteilen verstand, ist ein Wunder. Nachdem er das Dirigentenpult betreten hatte, legte sich das Stampfen von selbst, und die Stampfer sprachen nur noch von der außerordentlichen Wendung der Dinge.«

So, fast märchenhaft, begann Toscaninis einzigartige Karriere. Bei der Uraufführung von Verdis Otello saß er 1887 noch einmal an einem Cellopult der Mailänder Scala, bald dirigierte er selber Uraufführungen: 1892, mit 25 Jahren, Ruggero Leoncavallos Bajazzo, 1896, mit 29, Giacomo Puccinis La Bohème. Und Toscanini war es auch, der die großen Werke Wagners zum ersten Mal in Italien aufführte: Siegfried, Götterdämmerung, Tristan und Isolde.

Gegen die Hydra der Konvention

Der Alltag sah einstweilen weniger glanzvoll aus. Fast täglich musste er Opernaufführungen leiten, überall in der italienischen Opernprovinz zwischen Neapel und Brescia, Venedig und Turin, oft unter ungünstigen Bedingungen. Er stellte kühne Forderungen und verweigerte alle Konzessionen. Wo dieser von der Musik und seiner Arbeit Besessene auch auftrat, zwang er den Musikern und Sängern seinen Willen auf. Bald war er so berühmt wie gefürchtet.

In der Tat konnte Toscanini seine Umwelt bei den Proben in Angst und Schrecken versetzen. Stundenlang probte er geduldig, wurde plötzlich aber zum wütenden Tyrannen, zerschlug Dirigentenstäbe, zerfetzte Partituren, warf Notenständer ins leere Auditorium und beschimpfte die Orchestermusiker mit unflätigen Ausdrücken. Ein betroffener Zeuge schrieb später: »Es waren die erschreckendsten Töne, die ich je gehört habe. Sein Mund öffnete sich weit, sein Gesicht rötete sich wie vor einem Schlaganfall. Dann brach eine wahre Explosion von heiseren Lauten aus ihm heraus.« Vom alten Toscanini sind Probenmitschnitte erhalten, die durch seine Grobheit schockieren und gleichzeitig durch seine künstlerische Radikalität beeindrucken.

Trotz seiner bedrohlichen Temperamentsausbrüche war Toscanini bei den Musikern nicht unbeliebt. Hinter seiner Wildheit spürten sie die künstlerische Unbedingtheit, die den beifallsscheuen, völlig uneitlen Maestro am meisten mit seiner eigenen Leistung hadern ließ. Wenn er ein Tyrann war, dann nicht aus Machthunger, sondern aus Leidenschaft für die Musik. »Ich gebe mein Blut, ihr müsst das eure geben«, lautete seine Devise. Er beklagte die eigene Unzulänglichkeit und nannte sich selbst einen Stümper. Bei den Proben zu Wagners Meistersingern bei den Salzburger Festspielen klopfte er plötzlich, zur Überraschung der Orchestermusiker, ab und sagte, auf die kunstbeflissenen, aber biederen Nürnberger Handwerker auf der Bühne deutend: »Ich bin einer von ihnen.«

Toscanini war erst 31 Jahre alt, als er die Leitung der Mailänder Scala übernahm. Auch hier machte er sich als entschlossener Reformer unbeliebt. Es fällt von heute aus schwer, sich die Zustände an einem (italienischen) Opernhaus um die Wende zum 20. Jahrhundert vorzustellen. Der Schlendrian triumphierte, die schlechten Gewohnheiten gaben den Ton an, voran die Primadonnen. Mit Toscaninis Erscheinen war es damit vorbei. Er verbot Unbefugten den Zutritt zur Bühne, ließ den Zuschauerraum während der Aufführungen verdunkeln und führte den Orchestergraben ein. Er weigerte sich, auf Wunsch des Publikums einzelne Arien zu wiederholen, denn für ihn war die Oper ein dramatisches Kunstwerk: Musiktheater, kein Genussmittel. Er führte an der Mailänder Scala Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte und Ludwig van Beethovens Fidelio auf, Werke, die dort 100 Jahre lang nicht mehr gespielt worden waren. Und er unternahm es – wahrscheinlich seine größte Leistung –, die durch Routine-Aufführungen abgenutzten oder bis zur Unkenntlichkeit entstellten Opern Verdis zu entschlacken. Rigoletto, Der Troubadour und La Traviata, die Trias der frühen Meisterwerke, wirkten unter seiner Leitung wie neu. Mit seinem klaren, strengen, rhythmisch geschärften Interpretationsstil hat Toscanini das Verdi-Bild der kommenden Generationen geprägt.

Doch zehn Jahre des Kampfes gegen die Hydra der Konvention reichten auch ihm. Er verließ die Scala 1908, 41 Jahre alt und auf der Höhe seiner künstlerischen Kraft, und übernahm die Leitung der Metropolitan Opera in New York, bevor er 1920 für weitere zehn Jahre an die Scala in Mailand zurückkehrte. Beide Opernhäuser führte er auf ein Niveau, das sie vorher nicht gekannt und nachher wahrscheinlich nicht mehr erreicht haben.

Der politische Künstler

Toscanini gilt nun als der größte Dirigent seiner Zeit. Kollegen wie Otto Klemperer und Erich Kleiber, Fritz Busch und Bruno Walter, Leopold Stokowski und Pierre Monteux erklärten, von ihm nur lernen zu können. Nur die Rivalität zu dem 19 Jahre jüngeren Wilhelm Furtwängler kündigte sich an, die freilich vor allem von dem deutschen Dirigenten genährt wurde. Nur in Deutschland wurde auch Kritik an Toscanini geübt, etwa an seinen angeblich nicht stilechten Brahms- und Beethoven-Interpretationen. In Wirklichkeit dirigierte Toscanini die Werke dieser Komponisten strenger, klarer, präziser, man könnte auch sagen: moderner, als es damals üblich war. Geboren in einem romantischen Zeitalter, war er seiner ganzen Haltung nach ein Anti-Romantiker. Als erster Interpret überhaupt versuchte er Beethovens oft extreme Tempovorschriften ernst zu nehmen.

1930 dirigierte er zum ersten Mal in Bayreuth, eingeladen von Richard Wagners Sohn Siegfried, und wurde zunächst mit Vorbehalten empfangen. Sie waren rasch ausgeräumt, nachdem Toscanini, der grundsätzlich alle Werke auswendig dirigierte, bei den Proben in den Orchesternoten Fehler entdeckt hatte, die niemandem vorher aufgefallen waren. Sein Ohr war ebenso unfehlbar wie sein Gedächtnis. Toscaninis Bayreuther Gastspiel, für das er jedes Honorar ausschlug, war ein sensationeller Erfolg. Ernest Newman, einer der größten Wagner-Experten, schrieb nach einer Aufführung von Tristan und Isolde: »Ich glaubte, das Werk genau zu kennen; aber manche Passagen kamen für mich wie ein Dolchstich. Ich schaute in der Partitur nach – Toscanini hatte nur gespielt, was Wagner vorgeschrieben hatte.« Auch der junge Hans Schmidt-Isserstedt, der nach Bayreuth gereist war, um Toscanini zu hören, erinnerte sich an dessen Bayreuther Debüt mit den Worten: »(…) der zweite Tristan-Akt: eine andere Welt! Ich habe ihn nie wieder so schön ausgeführt gehört wie damals – so fließend; man konnte nahezu die italienische Melodie hören. Dann kam der dritte Akt: grandios, ekstatisch und vollständig frei.« Die Legende, Toscanini habe immer die raschesten Tempi gewählt, wurde von ihm selbst widerlegt. Sein Bayreuther Parsifal war der langsamste in der Geschichte des Hauses, langsamer sogar als die Aufführung von Hans Knappertsbusch, gleichwohl weniger weihevoll, wenn man den überlieferten Zeugnissen glauben kann.

Drei Jahre später, als Adolf Hitler an die Macht kam, war die Toscanini-Herrlichkeit in Bayreuth zu Ende. In Nazi-Deutschland wollte der Maestro nicht auftreten. Schon im April 1933, nach dem ersten Boykott gegen Juden, protestierte er gegen die Vertreibung jüdischer Künstler aus Deutschland und sagte die Teilnahme an den Festspielen ab. Ein Telegramm von Hitler konnte ihn nicht umstimmen. In diesem Zusammenhang darf das Gerücht nicht unerwähnt bleiben – es wurde in Deutschland lange als feststehende Tatsache behandelt –, dass Toscanini 1936 eine angeblich geplante Emigration Wilhelm Furtwänglers in die USA durch eine Intrige vereitelt habe. Wie wenig es zutraf, bestätigte später eine Tagebucheintragung Furtwänglers von 1949, als namhafte Künstler in den USA gegen sein Auftreten in Amerika protestierten: »Zu Beginn der Reihe sehe ich den erlauchten Namen Toscaninis. Was wohl mag ihn, den Großen, über den Gegensätzen Stehenden veranlaßt haben, sich an diesem kurzsichtigen und schlecht fundierten Protest zu beteiligen? War er es nicht, der mich 1936 als seinen Nachfolger nach New York eingeladen hat und mir einige Monate später in Paris große Vorwürfe gemacht hat, daß ich diese Stellung nicht trotz der herrschenden Widerstände angenommen habe? Und damals war es längst offenbar geworden, daß ich trotz meines Rücktritts von meinen offiziellen Stellungen in Deutschland bleiben würde. Allerdings meinte er ein Jahr später, als ich neben ihm erfolgreich in Salzburg dirigierte, plötzlich, daß man Beethoven nicht in einem geknechteten und in einem freien Lande zugleich dirigieren könne, während ich der Meinung war, daß Beethoven immer und überall, wo er erklingt, seine Hörer ›frei‹ mache.«

Uns will der Glaube an die befreiende Wirkung der Kunst unter dem System der Unfreiheit bestenfalls als idealistische Illusion erscheinen. Toscanini hat solche Illusionen niemals geteilt. Er verstand sich als politischer Künstler, der sich auch mit den regierenden Faschisten in Italien anlegte, indem er sich etwa weigerte, das Bild Benito Mussolinis in der Mailänder Scala aufzuhängen und vor den Aufführungen die Hymne der Faschisten zu spielen. In Bologna wurde er vor dem Konzertsaal von Schwarzhemden überfallen, die ihn mit Schlägen zwingen wollten, die Hymne aufzuführen. Toscanini blieb standhaft. Er kehrte der geliebten Heimat den Rücken und trat dort bis 1945 nicht mehr auf.

Das Vermächtnis des Dirigenten

Ende der 30er Jahre begann Toscaninis kontinuierliche Arbeit für die Schallplatte. Die amerikanische Rundfunkgesellschaft NBC stellte eigens für ihn ein Spitzenorchester aus den besten Musikern des Landes zusammen – Millionen Menschen hörten seine Rundfunkproduktionen, die später auf Schallplatten erschienen. Die Nachwelt hat ihr Toscanini-Bild von diesen Aufnahmen empfangen, nicht frei von der Gefahr, es könnte vielleicht ein enges, vielleicht sogar einseitiges Bild sein. Die meisten Aufnahmen entstanden nach Toscaninis 80. Lebensjahr. Die wenigen Werke, von denen mehrere Einspielungen existieren, belegen, dass auch dieser Dirigent nicht jedes Werk zu jeder Zeit auf gleiche Weise dirigierte. Die späten Aufnahmen sind durchweg rascher in den Tempi, etwas starrer als die Aufnahmen aus früherer Zeit. Es sind Dokumente von unschätzbarem Wert, sowohl interpretationsgeschichtlich als auch künstlerisch, und sie wirken auch sechs oder sieben Jahrzehnte später kaum gealtert. Ein geübter Hörer vermag sie rasch zu identifizieren, denn bei aller angestrebten »Objektivität« der Interpretation gab es bei Toscanini einen unverwechselbaren Personalstil, den er nicht nur seinem NBC Symphony Orchestra aufprägte, sondern auch anderen Orchestern, mit denen er zusammenarbeitete.

Dass er konservativ gewesen sei und immer dieselben Werke gespielt habe, ist ein ungerechter Vorwurf, entstanden aus der Perspektive der Nachgeborenen. Zwar standen Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith und Alban Berg nicht auf seinen Programmen, aber als diese Komponisten auftraten und sich ihr Avantgarde-Ruhm verbreitete, war Toscanini über 50 Jahre alt. In den Jahrzehnten zuvor, als junger Dirigent, hatte er sich leidenschaftlich für die Musik seiner Zeitgenossen engagiert. Er hob fast alle Opern Puccinis aus der Taufe, und für damalige Neutöner wie Richard Strauss, Maurice Ravel, Claude Debussy und Ottorino Respighi tat er mehr als jeder andere Dirigent seiner Zeit, indem er die Autorität seines Namens für sie einsetzte. Von Modest Mussorgskys Boris Godunow kannte er jede Note zu einer Zeit, als man in Westeuropa nicht einmal den Namen des Komponisten kannte.

Wie alle charismatischen Künstler hatte er das Unglück, viel nachgeahmt zu werden. Das war rein musikalisch leichter zu verschmerzen als im Hinblick auf die imperiale Rolle des Dirigenten, die sich fortan zu verselbstständigen drohte, während Toscanini sich noch ganz in den Dienst an der Musik gestellt hatte. Seine Strenge und Sachlichkeit trugen ihm nicht selten den Vorwurf ein, »seelenlos« oder »mechanisch« zu dirigieren. Theodor W. Adorno beschrieb die »Meisterschaft des Maestro« polemisch als »Fertigfabrikat«, dem eine »technokratische Feindschaft gegen den Geist« innewohne. Doch war dieses Urteil getrübt durch die generellen Eindrücke von der amerikanischen Kulturindustrie und den spieltechnischen Perfektionismus der amerikanischen Orchester. Strawinsky, 15 Jahre nach Toscanini geboren, schrieb: »Ich habe niemals sonst bei einem Dirigenten von Weltruf ein solches Maß an Selbstverleugnung, Pflichtbewusstsein und künstlerischer Ehrlichkeit gefunden wie bei ihm.«

Toscaninis letzte Opernaufnahme entstand im Januar 1954, es ist die stürmischste, leidenschaftlichste Verdi-Aufnahme, die er hinterlassen hat. Sie galt dem Maskenball, also dem Werk, dem er als Vierjähriger zuerst begegnet war. Wenige Wochen später setzte bei dem 87-Jährigen während eines Konzertes mit Werken von Wagner für einen Augenblick das Gedächtnis aus. Wie in Trance verließ er das Podium, während die Ouvertüre zu den Meistersingern von Nürnberg noch nicht zu Ende gespielt war, tränenüberströmt fand man ihn in seiner Garderobe. Unverzüglich erklärte er seinen Rücktritt. Drei Jahre später, am 16. Januar 1957, starb er in New York, der Leichnam wurde nach Italien überführt. Bei seinem Begräbnis in Mailand versammelten sich 300.000 Menschen, um Abschied zu nehmen vom größten Dirigenten der Epoche.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben