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Peter Handkes Dämonengeschichte Ich habe die Welt zu der meinen gemacht

Ein Mann ist außer sich. Er ist besessen, redet wirr vor sich hin. Der Obstgärtner, der sich bestens auskennt mit allen erdenklichen Apfelsorten, verbringt Jahre im Wahn und erschreckt die Menschen im Dorf durch sein in sich »Hineinmurmeln«, sein »Beiseitereden«. Er zieht daheim aus und haust fortan in einem Zelt auf dem aufgelassenen Friedhof des Ortes. Die Schwester versorgt ihn mit dem Nötigsten. Ihr kommt es manchmal vor, als spiele der herumstreunende Bruder mit seinen »Redekreuzzügen« zugleich ein Spiel.

Der erste Teil von Peter Handkes Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte handelt von dieser Wahn-Zeit. Ein Mann erzählt, was ihm vor Jahrzehnten widerfuhr. Er kann sich nicht erinnern, war er sich doch »seiner selbst nicht bewußt«. Er kennt die Geschichte dieser »Auszeit« nur durch andere, vor allem durch die Berichte der Schwester. Außer sich zu geraten bedeutete eben auch: ohne Erinnerung und Gedächtnis zu sein. So begegnen wir einem Mann, der erst durch die Erzählung der anderen sich selbst begreiflich wird. »Wer hat das gesehen? Und wer hat das erzählt?« – mit diesen Fragen rückt Handke uns basale Elemente seiner Schreibkunst nahe. Besteht sie vorwiegend aus Selbsterlebtem oder aus Hörensagen? Und vor allem: Was rechtfertigt das öffentliche Interesse an der Dichtung? Die Außersichgeratenen, die Besessenen, die Durchgedrehten seien wertvoll, heißt es in dieser »Dämonengeschichte« – denn sie dienten der übrigen Bevölkerung als Spiegel des eigenen gefährdeten Inneren.

Im zweiten Teil von Mein Tag im anderen Land hat der Protagonist seinen Wahn überwunden. Er ist aufgebrochen in ein unbekanntes Reich. Ein Fischer hat ihn hinübergebracht – in ein Land hinterm See. Dort wird ihm ein Tag der Erlösung zuteil. Er kann nun seine Geschichte, die Geschichte dieses Tages, »mit freiem Herzen« selbst erzählen. Im anderen Land spielen Namen und Worte kaum eine Rolle, sondern vor allem Empfindungen und Bilder. Die Daseinsfreude zeigt sich zum Beispiel in einem Griff mitten hinein in ein Brennnesselfeld, und so wird der Brennschmerz für einige Zeit zum nachdrücklichen Begleiter. Distanz erweist sich als produktiv, auch die Nothelferin Geduld – beide steigern die Wahrnehmung. Die schwankenden Gräser weit weg am Horizont wären dem Mann aus der Nähe niemals so nahe gekommen.

Beim Durchstreifen des anderen Landes fällt ihm die Empfindung der »Saumseligkeit« ein, das Seligsein an den Rändern und Säumen, die Seligkeit beim Anblick »der sonnendurchstrahlten Wolkensäume hoch oben im Sommerazur«. Das Unterwegssein, diese unvergleichliche Möglichkeit der Welt- und Selbstentdeckung, entfaltet seine Kraft: »Ich bin woanders. Und: Nur jetzt nicht heim. Nie mehr nachhause!« Die Bilder all der Orte, an denen der Protagonist einmal gewesen oder bloß vorbeigekommen war, durchströmen ihn, werden zur »Bildschnuppe«, zu seinem Ort. Der eine Tag im anderen Land dient ganz dem Aufnehmen von Bildern, von Geschichten jener Unbekannten, denen der Protagonist begegnet, die ihn grüßen, ihn anreden, als kennten sie ihn, mit denen er tanzt und die ihm ihre Geschichten erzählen. Nach Jahren der Irr- und Wirrsal vermag der Held nun sogar den Tod zu überlisten. An seinem Geburtstag, so heißt es, sei er todbereit gewesen: »Ich blieb sogar stehen und wartete. Kopf himmelwärts. Kopfsenken zur Erde, zum Straßenteer, zu meinen Schuhen. Für den Bruchteil eines Moments spürte ich den Tod in mir, wie er ansetzte zu einem Purzelbaum. Und da aber nichts geschah, atmete ich durch und ging erfrischt weiter.« Handke, der Erzähler, der in seinen Texten lebt, schlägt dem Tod ein Schnippchen.

»Nur nichts Festes, nur nichts Massives«

Der dritte Teil von Mein Tag im anderen Land schildert eine Traumsequenz. Es kommt zur Begegnung mit einem Unbekannten auf dem Friedhof, der, nach der Heimstatt für den Besessenen am Anfang, nun wieder der Schauplatz ist. »Keine Angst.« Mit dieser Losung beginnt der nächtliche Disput. Oder ist es nicht eher ein Selbstgespräch? Alles kommt auf den Prüfstand: Was taugt der Mensch ohne andere Menschen, was vermag er allein? Wenn wir auf Harmonie aus sind, wo bleibt da die Wut, der Widerstand? Wo bleibt das Gesellschaftsfeindliche in uns, das Abweisende, die »Widersetzlichkeit«? Ohne Widerständiges jedenfalls ist das Sein seelenlos. »Wir, du wie ich, wollten ja nie etwas bauen; bloß nichts Festes, nur nichts Massives. Bloß nicht den armen Planeten noch mehr vollbauen, totbauen!« Aber Luftschlösser dürfen es schon sein.

»Ich, Idiot, ins Gemeinwesen gestellt«, diese vermeintliche Pindar-Zeile über den »Idioten«, den sich Absondernden, hat Handke seinem schmalen Band als Motto vorangestellt. Und wie Pindars lobpreisende »Oden« hat Mein Tag im anderen Land drei Teile. Handkes Lob gilt den Besessenen wie den Eigensinnigen. Es gilt denen, die aufbrechen. Denen, die den Mut haben, sich abzusondern und dann wieder Gemeinschaftlichkeit auszuhalten vermögen. Denen, die etwas zu erzählen haben, die schreiben. Der Germanist Karl Wagner hat zu Handkes Versuch über den geglückten Tag von 1991 gesagt, dessen Pointe bestehe auch darin, dass dieser geglückte Tag nicht literarisch nachgestellt, sondern schreibend hervorgebracht, also gemacht werde. Eben das gilt auch für Handkes Mein Tag im anderen Land. Wer das Buch durchstreift, dem ergeht es wie beim Hören eines Songs von Bob Dylan oder Van Morrison – schon die ersten Takte verraten die Eigenart des Sängers. Handkes Text enthält zahlreiche Anspielungen auf heimatliche Stätten – den Friedhof im ost-österreichischen Griffen, auf dem die Mutter Maria Handke, der Onkel Bruno und die Schwester Monika begraben sind – aber auch auf eigene frühere Texte. Die Jukebox (aus der Erzählung Versuch über die Jukebox, 1990) kommt ebenso vor wie das Werkheft über den Obstbau (aus Die Wiederholung, 1986), eingestreut sind Verweise auf biblische Konstellationen wie auf Filme – die vermeintliche Sterbeszene aus Arthur Penns Little Big Man. In dem frühen Stück Selbstbezichtigung (1966) heißt es: »Ich habe mich gemacht. Ich habe mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich habe mich verändert. Ich bin ein andrer geworden. Ich bin für meine Geschichte verantwortlich geworden. Ich bin für die Geschichten der andern mitverantwortlich geworden. Ich habe die Welt zu der meinen gemacht. Ich bin vernünftig geworden.« Es zeigt sich: Handkes weit gespanntes Werk bildet eine eigene Welt. Lesen wir nur hinein, für einen Tag oder länger.

Peter Handke: Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte. Suhrkamp, Berlin 2021, 93 S., 18 €.

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