Wenden die Menschen sich von realistischer Politik und auch vom Staat ab? Der Gesellschaftsforscher Heinz Bude sagt: Nein – wenn es gelingt, wieder »verallgemeinerbare Interessen« zum Maßstab zu machen und nicht immer nur davon zu reden, dass alles kompliziert und schwer zu bewegen sei. NG/FH-Chefredakteur Richard Meng sprach mit Bude über den Gewichtsverlust des Klimaschutzes, die Notwendigkeit klarer Prioritäten und die Weichen, die in den nächsten vier Jahren so oder so gestellt werden.
NG/FH: Herr Bude, kann es sein, dass in diesem kurzen Bundestagswahlkampf die wirklich wichtigen Themen gar keine zentrale Rolle spielen?
Heinz Bude: Der Wahlkampf kann sich nicht um das Verhalten der FDP bei der Auflösung der Koalition drehen. Die ideenpolitische Auseinandersetzung ist unerlässlich. Die CDU muss nach Merkel ihren konservativen Charakter deutlich machen. Die Sozialdemokraten versuchen, sich als Partei der Gerechtigkeit gegen die Merz-CDU zu positionieren, aber das wird nicht reichen. Sie kommen aus einer Koalition, die sich gemeinsam dem Programm einer großen ökoemanzipativen Transformation unterstellt hat. Heute ist klar: Das funktioniert nicht mehr.
Ist die wahre Wahlkampffrage also: Wollen wir überhaupt noch Transformation, halten wir sie noch aus?
Ich denke inzwischen, dass der Begriff problematisch ist. Man sollte ihn besser aus dem Verkehr ziehen, denn es ist ein Begriff der Verängstigung der Menschen. Wenn schon, dann in der Mehrzahl: Transformationen. Ich würde insgesamt die Idee des solidarischen Schutzes und der intelligenten Anpassung in Zeiten immenser Veränderungen ins Zentrum stellen. Wir befinden uns nach dem Ende des schillernden Zeitalters der Globalisierung in einer weltweiten Polykrise aus Krieg, Klimawandel und der verschärften Konkurrenz um Märkte und Einflusszonen. In einer solchen Zeit muss von der Politik die doppelte Botschaft ausgehen, dass sie Schutz bietet und die Fähigkeiten stärkt und vor allem dass dies eine Herausforderung für uns alle darstellt.
Das unterstellt, dass die Menschen vom Staat noch etwas erwarten. Steht nicht selbst das infrage?
Sie erwarten, dass der Staat nicht sie, sondern dass sie den Staat steuern. Die Leute wollen einen Staat der gemeinsamen Anstrengung und keinen der gruppenspezifischen Entschädigung. Es geht überhaupt nicht gegen den Wohlfahrtsstaat, sondern für einen Staat, der die Wohlfahrt aller im Blick hat. Und zwar sowohl jener, die die staatlichen Leistungen maßgeblich finanzieren, als auch derer, die der staatlichen Leistungen in besonderer Weise bedürfen.
Von rechts wird dieser Zusammenhang auseinandergerissen, indem man soziales Schmarotzertum und wirtschaftliche Konkurrenzschwäche anprangert. Wir seien das Sozialamt der Welt mit einer Wirtschaft, die nicht mehr konkurrenzfähig ist.
Welches Thema könnte die Rechten vertreiben?
Es geht um drei große Themen: Zugehörigkeit, Zuwanderung und vor allem Zukunft. Es gibt eine riesige Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft darüber, wie man Zuwanderung vernünftig regeln könnte. Die allermeisten haben nichts gegen Zuwanderung, aber sie wollen eine Kontrolle, die befindet, wer ins Land darf und wer nicht. Hier spielt das Gefühl von Zugehörigkeit eine Rolle. Der Linken wird vorgehalten, dass sie keine Kontrolle von Migration will, weil sie das Einklagen von Zugehörigkeit ablehnt. Es scheint zu einer universalistischen Auffassung zu gehören, das Begehren von Mehrheiten als Gefahr für Minderheiten wahrzunehmen. Die Mehrheitsgesellschaft wird als Hort von Ressentiments, von Beschränktheit und von Autoritätshörigkeit bekämpft. Ich fürchte, linke Politikentwürfe, die Mehrheiten gewinnen wollen, müssen sich von der Idee verabschieden, dass man die gesellschaftliche Mehrheit durch die Addition von unterdrückten Minderheiten herstellen kann.
Entsteht die Mehrheit denn nicht erst im Prozess selbst? Bleibt es nicht entscheidend, im Streit der Argumente um eine Mehrheit zu werben und sie so erst zu formen?
»Die Leute wollen wissen, was jemand will und nicht hören, was nicht geht.«
Alles richtig. Nur muss man bedenken, dass das Publikum sich an Absichten orientiert, nicht so sehr an den Ergebnissen. Die Leute wollen wissen, was jemand will und nicht hören, was nicht geht. Natürlich existiert eine Spannung zwischen den Themen von Schutz und Freiheit, die von der Rechten gnadenlos dramatisiert wird. Und zwar wie es gerade passt. Aber Sozialdemokraten kennen das: Die »Schutzmacht der kleinen Leute« weiß, dass die »kleinen Leute« sich immer auch in ihrer und durch ihre Freiheit groß fühlen wollen. Es gibt Zeiten, in denen die Freiheit wichtiger als der Schutz und solche, in denen der Schutz wichtiger als die Freiheit ist.
Ist in der Pandemie nicht gerade deutlich geworden, dass auch viele abgeschreckt werden von einem durchgriffigen Staat?
Richtig, diese Minderheit gibt es, aber sie ist nicht entscheidend. Selbst die Liberalen mit ihren Vorstellungen eines minimalistischen Staates gehen angesichts der massiven Veränderungen und des Endes der glorreichen Globalisierung von der Schutzfunktion des Staates aus. Heute sind wir weltweit schon in einer Phase der Deglobalisierung. Wenn man da Schutz und Freiheit gemeinsam denkt, kann man es schaffen, dass die Leute nicht Angst haben vor einem tiefen Staat – um mal einen Begriff aus der Welt der Rechten zu benutzen. Es gibt auch in Deutschland mittlerweile die Befürchtung, dass wir durch die sozialökologische Transformation einen tiefen Staat bekommen könnten. Siehe Heizungsgesetz.
Also wird aus Politikverdrossenheit Staatsverdrossenheit, sobald die Politik mal konsequent eingreift?
Nein, es geht um das Wie. Das Heizungsgesetz war effektiv im Sinne des Erreichens der Klimaziele. Es war alles genau durchgerechnet, handwerklich sehr gut. Aber in keinem Moment wurde überlegt, ob die Menschen auch für legitim halten, was da so effektiv gewirkt hätte. Ein Drittel bis ein Viertel der Hausbesitzer hatten die Angst, sie müssten verkaufen, weil sie die vorgeschriebenen Erneuerungen nicht würden bezahlen können. Es ist politisch absoluter Irrsinn, so etwas dann zu planen.
Weil die Leute sagen: Dann lieber kein Klimaschutz, dann lieber in Ruhe gelassen werden?
Aber nicht ohne Staat. In der Nacharbeitung der Pandemie hatten wir eine Diskussion über die Komposition der klassischen Rechte: individuelle Freiheit, politische Beteiligung, soziale Wohlfahrt. Im rechten Topf wird das so gemischt, dass behauptet wird: Im Kern läuft alles auf Beschneidung der individuellen Freiheitsrechte hinaus. Dazu muss eine nach vorne gerichtete Politik sagen: Wir denken den Staat auch von der Idee der Freiheit her und nicht der Gängelung – aber im Zentrum steht die Zukunft. Viele Leute meinen heute, dass die politische Elite Zukunft nicht mehr in ihrem Sinne denkt, sondern nur nach den eigenen Interessen. Und sich dabei auch einer ihr bequemen Wissenschaft bedient, die behauptet, es gäbe keine Alternative.
Wissenschaft also doch als Herrschaftsinstrument?
Ich glaube als Wissenschaftler wirklich, dass ich viele Dinge besser weiß als andere Menschen. Aber ich weiß auch, dass ich die Ergebnisse meiner Forschung nie überheblich präsentieren darf. Ich darf nie unterstellen, es gäbe kein unproblematisches Wissen. Auch mein eigenes Wissen ist nicht unproblematisch. Zweitens weiß ich, dass dieses Wissen nur wichtig wird, wenn es in den Köpfen der Leute angewendet wird. Wenn sie es nicht nur akzeptieren, sondern es im Denken genutzt wird.
Alle Leute haben Interessen – auch diejenigen, die nicht aus dem Vollen schöpfen. Gleichzeitig hält die Wissenschaft massives Eingreifen für zwingend. Muss der Staat dann nicht auch Maßnahmen durchsetzen, die Leuten Geld kostet?
Nochmals eine Trias: Ideen, Interessen, Institutionen. Interessen sind immer eingepackt in Ideen. Wenn ich von der Arbeiterklasse ausgehe…
…hat die ein Interesse an der Wärmewende?
So platt natürlich nicht, genau da ist der interessante Punkt. Ich würde gerne die alte Formulierung vom Jürgen Habermas aufnehmen: Was sind eigentlich verallgemeinerbare Interessen in unserer Gesellschaft? Die Antwort ist nicht einfach. Zwei Themen funktionieren inzwischen in Teilen der Gesellschaft überhaupt nicht mehr, das habe ich gerade in Diskussionen in der Welt der Kunst erlebt: das Thema Klima und das Thema Digitalisierung. Das muss man dann zur Kenntnis nehmen.
Unser Problem in Deutschland ist vielleicht wirklich nicht so sehr, ob wir bestimmte Klimaziele erreichen – sondern ob wir Prozesse der Veränderung so organisieren können, dass die Mehrheit der Leute mitmacht. Die Idee, etwas gegen die Mehrheit der Leute durchdrücken zu müssen, ist falsch. Es ist für Gegner viel zu leicht, darauf zu verweisen, dass es nicht so wichtig ist, was in Deutschland vorankommt, wenn in China gleichzeitig das Gegenteil passiert.
Bei der Digitalisierung ist vieles blockiert, während in den USA jetzt von oben her der Staat per KI entkernt werden könnte. Können wir dem dann noch etwas entgegensetzen?
Das Thema Digitalisierung, auch das Thema Kontrolle über digitale Daten, interessiert kaum jemanden. Das kann man bedauern, aber es ist so. Viele nehmen, siehe Suchmaschinen, die Weitergabe von Daten in Kauf, wenn sie gleichzeitig neue digitale Möglichkeiten bekommen. Klar: Wir brauchen eine digitale Infrastruktur als öffentliches Gut. Davon sind wir weit entfernt. Bei der Digitalisierung der Verwaltung sind wir konzeptionell gar nicht schlecht, doch da ist ein technisches Problem wegen des Nebeneinanders verschiedener digitaler Systeme. Wenn nun Ankündigungen gewählt werden und nicht Leistungen der Vergangenheit: Warum sagt im Wahlkampf nicht mal jemand, diesen Knoten werde ich durchhauen, das geht so nicht weiter? Viel zu oft höre ich: Man muss das verstehen, es ist nun mal kompliziert.
Methode Trump - haben wir die falschen Politikertypen?
In den Memoiren von Angela Merkel kann man sehr schön sehen, wie weit man mit einem navigierenden Politikstil kommt. Den hat sie entwickelt in Abgrenzung von einem anderen Politikstil. Gerhard Schröder hatte so agiert: Wir müssen eine Entscheidung treffen, die wird Kosten haben, es wird Gegner geben, aber ich kenne die Kosten und mache es trotzdem. Mein Gefühl ist: Die allermeisten würden heute so jemandem folgen. Ich sehe uns eher am Ende eines alten Modells der Erzeugung von Legitimation.
Mit wirklichen Akzeptanzproblemen für den Staat, sobald der mal wirklich Ambitionen hat?
Wenn es um Staatlichkeit geht, spielen die Begriffe Transformation, Disruption und Konzentration eine Rolle. Also die Veränderung im Ganzen, der Schnitt der »schöpferischen Zerstörung« und die Setzung von Prioritäten. Wir brauchen heute eine Konzentration der Staatsaufgaben durch die Priorisierung von Herausforderungen: eine digitale Infrastruktur, die merkliche Fortschritte bringt; Verbesserungen und Funktionieren der Mobilitätsinfrastruktur; eine Reform des Staates, die Regulationen auf der einen Seite stärkt und auf anderen Seiten auflöst. Transformation und Komplexität sind dabei Begriffe, die Sperren und Widerstände provozieren. Dass Veränderungen nötig sind, liegt auf der Hand; dass das nicht einfach ist, ist auch klar. Nur müssen Transformationen nicht groß und Komplexitäten nicht unübersichtlich sein.
Ist da auch die Rückkehr der Nation ein Haltegriff in der komplexen Welt?
Ja sicher – wir sehen es doch überall. Die Verteidigungsausgaben ranken sich um den Begriff der Nation. Dass Industriepolitik vor allem Außenhandels-Wirtschaftspolitik sein muss, ist glasklar. Europa bleibt aber ein sehr interessantes Modell für die Welt: durch die Abgabe von nationaler Souveränität Souveränitätsgewinne zu erzielen – in noch überschaubaren Gesellschaftsformen.
Dann doch nochmal die Eingangsfrage: Kann es sein, dass im kurzen Wahlkampf solche wirklich wichtigen Themen keine zentrale Rolle spielen?
In dieser sachlich-inhaltlichen Hinsicht, abgesehen von der Konfrontation der Parteien, vielleicht wirklich nicht. Aber wir haben einen immer noch funktionierenden kooperativen Kapitalismus. Der bräuchte jemanden, der sagt: Es ist gut so, wir müssen es aber weiterentwickeln und wir alle müssen uns neu anstrengen. Ich treffe viele Menschen mit Kompetenz und Energie, die sich fragen: Wo wird eigentlich abgerufen, was ich kann und was ich weiß? Diese Leute wollen eine Vorstellung davon haben, wohinein sie ihre Talente und Fähigkeiten entwickeln können. Sie wünschen sich, dass es jemanden gibt, der ihnen sagt. Da ist eine Tür in die Zukunft, die können wir gemeinsam aufmachen.
Sie denken an die Alten, die sich abwenden – oder an die Jungen, die sich nicht zuwenden?
Aus der Beschäftigung mit dem Generationenthema kommt eine Erkenntnis, die vielen Leuten durch Mark und Bein geht. Vielleicht gehöre ich zur letzten Generation, die noch eine Ahnung davon hat, dass es eine Situation geben kann, in der das Schlimmste, das in Europa denkbar ist, hinter uns liegt. Für uns war das ein verlorener Weltkrieg und ein vollbrachter Völkermord. Wenn man von da her kommt, kann alles nur besser werden. Die heute Jüngeren wissen, dass das Schlimmste, was in Europa passieren kann, vor ihnen liegt und nicht hinter ihnen. Wir brauchen nun eine Art Generationenbrücke. Und die Erkenntnis, dass Zukunft nicht einfach passiert, sondern dass sie jetzt gemacht wird.
Über was wird in den nächsten vier Jahren entschieden werden?
Welche Art Produktionsmodell die Industriegesellschaft haben wird. Welche Bereitschaft Europa hat, sich selbst und seine Lebensart zu verteidigen. Mit welchen Ideen von künftigem Leben wir in die globale Diskussion gehen wollen.
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