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Gespräch mit Emilia Smechowski »Identität kann keiner von außen bestimmen«

»In meiner Familie geht man nicht unter. Es gibt nur eine Richtung: nach oben. Wir sind Leistungsträger, so lautet das schöne deutsche Wort.« Das schreibt Emilia Smechowski bereits im ersten Kapitel ihres autobiografischen Buches »Wir Strebermigranten«. Die 1983 in Wejherowo, in der Nähe von Danzig, als Emilka Elżbieta Śmiechowska geborene freie Journalistin schreibt in ihrem Debüt über die Einwanderung mit ihrer Familie in das Westberlin der 80er Jahre. Die Eltern, beide Ärzte, und die zwei Töchter haben sich innerhalb kurzer Zeit zwar erfolgreich integriert, aber auch »überangepasst«. Der Preis dafür ist hoch: der Verlust ihrer bisherigen Identität und Unbeschwertheit.

Die Fragen stellte der promovierte Literaturwissenschaftler und freie Journalist Behrang Samsami.

 

Behrang Samsami: Frau Smechowski, in Wir Strebermigranten kommt ein Satz Ihres Vaters mehrfach vor: »Das schaffst du nie.« Sie sind zu diesem Zeitpunkt ein Teenager, leiten die Musical-AG der Schule und wollen Sängerin werden. Steht die Behauptung Ihres Vaters nicht konträr zu dem »unbedingten Willen zum Erfolg«, den Sie Ihren Eltern im Buch attestieren und der ja auch für Sie selbst galt?

 

Emilia Smechowski: Das könnte man so sehen. Ich denke aber nicht, dass mein Vater zu dem damaligen Zeitpunkt realistisch einschätzen konnte, was ich in diesem Metier schaffen kann und was nicht. Es war ein psychologischer Trick, mich davon abzubringen. Menschen glauben ja häufig, dass gute Leistungen durch Druck und Negativität entstehen, und nicht durch Empowerment. In meiner Familie – und ich denke auch in vielen anderen Aufsteigerfamilien – funktionierte der Aufstieg genau so.

 

Samsami: Halfen Ihnen Ihre Eltern bei den Schulaufgaben, etwa durch Nachhilfe?

 

Smechowski: Überhaupt nicht, was aber auch daran lag, dass ich mich recht gut allein durchschlug. Ich glaube aber auch, dass es eine spezielle Thematik bei Migrantenfamilien ist, dass die Kinder den Eltern sprachlich etwas voraus haben, und die Eltern eh nicht helfen können. Das Phänomen, dass die Eltern den Kindern bei den Hausaufgaben helfen und ihnen ständig über die Schulter gucken, ist sehr deutsch und sehr bürgerlich, finde ich.

 

Samsami: Es gibt die These, dass sich Menschen, die ihre Heimat verlassen, in der Fremde an das ihnen Bekannte halten – an ihre Sprache, ihre Traditionen und auch ihre Religion. Das war bei Ihrer Familie anders. Bis auf die polnische Weihnachtsfeier vollzog Ihre Familie einen radikalen Bruch: neuer Pass, neuer Name, neue Sprache. Alles Polnische wurde aus der Öffentlichkeit verbannt.

 

Smechowski: Zuhause haben wir noch eine Zeit lang Polnisch gesprochen. Aber meine Schwester und ich haben sehr schnell Deutsch gelernt und die neue Sprache nach Hause getragen. Wir haben dann fast nur noch Deutsch gesprochen, auch mit den Eltern. Teilweise war es ein typischer Mischmasch, also Deutsch und Polnisch in einem Satz vermengt.

 

Samsami: Später, als es Ihrer Familie wirtschaftlich gut ging, stellte Ihre Mutter eine polnische Putzfrau ein. Wie hat sie mit ihr kommuniziert?

 

Smechowski: Meine Mutter hat mit der Putzfrau Polnisch gesprochen, weil diese kein Deutsch sprach – aber nur das Allernötigste. Meine Mutter hat sich als etwas anderes gesehen. Sie hatte eine neue Nationalität und daraus ergab sich für sie eine große Distanz zum eigenen Volk, zu ihrer Herkunft. Sie hatte sich in ihrer Wahrnehmung weiterentwickelt, die Putzfrau hatte mit ihr und ihrem Leben nichts mehr zu tun. Meine Mutter war auch in Polen schon Ärztin gewesen. Aber sie hätte ja tatsächlich versuchen können, den Schichtenunterschied zu überbrücken und einfach mit der Putzfrau zu sprechen. Das hat sie jedoch nicht getan.

 

Samsami: Ihre Familie ist nach dem Fall der Mauer wieder nach Polen gefahren, um Verwandte zu besuchen. Wie fühlte sich das an?

 

Smechowski: Meine Eltern hatten sich damals für eine Seite, für die deutsche Seite, entschieden. Sie haben nicht versucht, die Zerrissenheit auszuhalten, die es in jedem Migranten gibt, weil er zwischen zwei Kulturen hin und her schwankt. Meiner Meinung nach ist diese Entscheidung aber schwierig, wenn man seine ursprüngliche Identität einfach ausradiert. In unserem Fall hat es ja auch nur vordergründig gut funktioniert.

Damals in Polen war das auf jeden Fall eine etwas schizophrene Situation. Meine Mutter hat schon sehr früh, etwa bei Europameisterschaften, für die deutsche Mannschaft gejubelt. Das fand ich merkwürdig.

Dann gab es außerdem noch die Zerrissenheit in der Familie zwischen denen, die in der Heimat geblieben, und denen, die ins Ausland gegangen waren. Es gab bei Letzteren den Gedanken: Wir sind fort und haben uns weiterentwickelt, sind aufgestiegen – und ihr seid immer noch da, wo ihr vorher schon wart. Das wurde damals in unserer Familie nicht ausgesprochen, stand aber im Raum.

 

Samsami: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Polen in Deutschland nach den Türken zwar die zweitgrößte Migrantengruppe sind, sich aber weitestgehend unsichtbar machen. In den vergangenen Jahren sei Polen plötzlich cool geworden. Wie ist es dazu gekommen?

 

Smechowski: Es hat keinen kompletten Imagewandel gegeben, weil es noch immer so ist, dass viele Menschen, auch in Berlin, die nur 80 Kilometer von der Grenze entfernt leben, noch nie in Polen waren und sich überhaupt nicht für Osteuropa interessieren.

Wenn man sich außerdem die Berichterstattung anschaut, gibt es auch hier eine Distanz zum Osten. Das ist bei Frankreich ganz anders. Etwa im Fall von Marine Le Pen und dem Wahlerfolg des Front National. Da wurde viel geschrieben und versucht zu erklären, warum junge Menschen rechts wählen. Wenn Polen rechts wählen, herrscht in Deutschland noch immer eine arrogante Haltung, nach dem Motto: Ach, diese Polen, sie wissen es halt nicht besser.

Die von Ihnen angesprochene Coolness ist meines Erachtens ein Großstadtphänomen. Nach Berlin etwa ist eine neue Generation von Polen gekommen, die jung, gut ausgebildet und in einem anderen Land aufgewachsen ist als ich – in einem Polen, das demokratisch und in der Europäischen Union ist. Die jungen Polen kommen mit einem anderen Selbstbewusstsein nach Deutschland und kennen den früheren Minderwertigkeitskomplex nicht mehr. Ich empfinde das als eine gute Entwicklung. Aber das sind nur sehr wenige. Die Polen, die in den 80er und 90er Jahren eingewandert sind und unsichtbar waren, sind es immer noch – und sie stellen die Mehrheit dar.

 

Samsami: Wenn Sie heute, mit 30 Jahren Abstand, auf die Flucht Ihrer Familie 1988 nach Westberlin und die darauffolgende »Assimilation im Zeitraffer« zurückschauen, haben Sie da Verständnis für das damalige Vorgehen Ihrer Eltern?

 

Smechowski: Ich bin nie mit zwei Kindern aus einem Land in ein anderes gereist – und das mit der Befürchtung, niemals zurückkehren zu können. Das ist eine Situation, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man sie selbst nicht erlebt hat. Und natürlich kann ich verstehen, dass meine Eltern diesen Tunnelblick, diese Vorwärtsverteidigung entwickelt haben. Sie haben sich das nicht bewusst überlegt, sondern sind ihrem Gefühl gefolgt. Insofern werfe ich meinen Eltern nichts vor. Aber ich als Teil der zweiten Generation bin frei, mir darüber Gedanken zu machen und im Nachgang zu reflektieren, ob es wert ist, sich so anzupassen, und zu schauen, was dabei herauskommt.

 

Samsami: In Wir Strebermigranten zeigen Sie anhand Ihrer eigenen Familie sehr nachdrücklich, dass Überanpassung an die Mehrheitsgesellschaft zum Scheitern verurteilt ist, weil die betroffenen Menschen anfangen eine Rolle zu spielen und sich selbst mit der Zeit verlieren. Zum Scheitern verurteilt ist aber genauso das Gegenteil solch einer Assimilation – der völlige Rückzug von Menschen mit Migrationsgeschichte in die Isolation und das Aufgehen etwa in extremer Religiosität. Was ist für Sie der Mittelweg?

 

Smechowski: Ich kann nichts empfehlen, weil ich nicht für andere sprechen kann. Migrationsfragen hängen mit Identität zusammen. Und Identität kann keiner von außen bestimmen. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen kann ich sagen, dass die radikale Abkehr von einer Seite und die Ausblendung von Realität nicht gesund sind und Folgen für die Gesellschaft, aber auch für einen selbst nach sich ziehen. In welcher Dosis man Heimat und Herkunft ins neue Land trägt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Das kann und muss meines Erachtens auch nicht statisch sein. Ich bin Deutsche und Polin zu unterschiedlichen Teilen, Journalistin und Mutter und so weiter. Wir haben doch alle mehrere Rollen im Leben. Ich verstehe nicht, warum manche Menschen mit dieser Parallelität nicht zurechtkommen. Ich persönlich finde das Denken in Schubladen viel anstrengender.

Emilia Smechowski: Wir Strebermigranten. Hanser Berlin, München 2017, 224 S., 22 €.

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