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Identitätspolitik und sozialer Fortschritt in Indonesien

Es waren die weltweit komplexesten Wahlen – diesen Superlativ können die jüngsten Parlaments- und Präsidialwahlen in Indonesien für sich beanspruchen. An der an einem Tag, dem 17. April 2019, durchgeführten Abstimmung beteiligten sich 150 Millionen Wählerinnen und Wähler in 800.000 Wahllokalen auf den 6.000 bewohnten Inseln. 193 Millionen Menschen waren wahlberechtigt; mit etwa 82 % war die Wahlbeteiligung relativ hoch.

Bei den Parlamentswahlen hat die regierende Demokratische Partei des Kampfes Indonesiens (PDI-P) unter Führung der ehemaligen Präsidentin Megawati Sukarnoputri – der auch der amtierende Präsident Joko Widodo (genannt Jokowi) angehört – 19,3 % der Stimmen bzw. 128 von 575 Sitzen gewonnen. Darauf folgt Prabowo Subiantos (genannt Prabowo) Oppositionspartei Gerindra, die nur 12,6 % der Stimmen erhielt sowie die ehemalige Suharto-Partei Golkar mit 12,3 %. Nasdem, eine weitere Regierungspartei, die sich selbst dem progressiven Lager zurechnet, kam auf etwa 9,1 % und wurde fünftstärkste Kraft im neu gewählten Parlament. Die erstmals bei nationalen Wahlen angetretene Partai Solidaritas Indonesia (PSI), die ihre Wähler- und Unterstützerbasis vor allem unter der jungen gebildeten urbanen Mittelschicht hat, scheiterte zwar an der nationalen Vierprozenthürde; konnte jedoch auf lokaler Ebene, etwa in Jakarta, einige Sitze gewinnen.

Ausschreitungen nach Präsidentschaftswahlen

Die Präsidentschaftswahlen hat – entsprechend des am 21. Mai von der Wahlkommission bekannt gegebenen Endergebnisses – Amtsinhaber Jokowi mit 55,5 % der Stimmen gewonnen, während sein Herausforderer Prabowo lediglich 44,5 % erhielt. Jokowi wird dementsprechend am 20. Oktober seine zweite und letzte Amtszeit antreten und weitere fünf Jahre lang Präsident Indonesiens bleiben. Prabowo allerdings – ein Schwiegersohn des ehemaligen diktatorisch regierenden Präsidenten Suharto und ehemaliger General, dem schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden – hat den Sieg des Amtsinhabers angefochten und sich selbst mehrfach zum Gewinner erklärt. Unmittelbar nach Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses kam es zu mehrtägigen gewalttätigen Ausschreitungen – u. a. seiner Anhänger – in der Hauptstadt Jakarta, bei denen neun Menschen starben, 700 verletzt und bis zu 300 Personen festgenommen wurden. Während bereits im Vorfeld der Ausschreitungen 68 vermeintliche Terroristen festgenommen worden waren, kam es nach dem 22. Mai zur Festnahme ehemaliger Militärs, denen vorgeworfen wird, sie hätten im Zuge der Unruhen Mordanschläge auf hochrangige Politiker aus Jokowis Umfeld geplant.

Mit dem 76 Jahre alten konservativen muslimischen Geistlichen Ma'ruf Amin, dem ehemaligen Vorsitzenden der muslimischen Massenbewegung Nahdlatul Ulama (NU), der bis zu 40 Millionen Mitglieder angehören, hat Präsident Jokowi einen mächtigen, neuen Vizepräsidenten an seiner Seite. Jokowi wurde von seinen Gegnern in der Vergangenheit systematisch dafür angegriffen, kein strenggläubiger Muslim zu sein. Die Ernennung Amins war daher ein Versuch, diesen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Entgegenkommen gegenüber den konservativen muslimischen Milieus.

Die Ernennung Amins führen viele Beobachter/innen auch auf den Niedergang von Jokowis vormaligem Schützling Basuki Tjahaja Purnama (genannt Ahok) zurück – ein ethnischer Chinese und ehemaliger christlicher Gouverneur von Jakarta. Als Ahok 2016 bei einer Rede im Wahlkampf von Jakarta den Koran zitierte, war der Aufschrei der konservativen muslimischen Gemeinde groß. Islamische und islamistische Gruppen sowie seine Wahlrivalen beschuldigten ihn der Blasphemie, und Ma'ruf Amin verhängte seinerzeit in seiner Funktion als Ratsvorsitzender der Islamgelehrten Indonesiens (MUI) sogar eine Fatwa gegen ihn. In Jakarta und im ganzen Land fanden Massendemonstrationen statt. Im Zuge der immer stärkeren Spannungen wurde Ahok angeklagt und im Mai 2017 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Dieser Zwischenfall veränderte die gesamte politische Landschaft Indonesiens. Der sanfte Jokowi, der von der Mobilmachung gegen Ahok – und indirekt auch gegen sich selbst – erschüttert war, begann in der Folge, sich politisch und persönlich neu auszurichten.

Nachdem Ahok gescheitert war, versuchte Jokowi sich ein neues Image zuzulegen, das des starken Mannes. Dazu holte er militärische und konservativ-religiöse Kräfte in sein Team, um bei den Wahlen davon zu profitieren – ein taktisch cleverer, aber moralisch fragwürdiger Zug. Gleichzeitig bemühte er sich stärker darum, seine Identität als strenggläubiger Muslim zu festigen, indem er seine Verbindungen zu muslimischen Organisationen und Persönlichkeiten verstärkte. Und tatsächlich konnte er seine Wahlergebnisse dank seines Bündnisses mit der NU bei den Wahlen in deren beiden Hochburgen Mittel- und Ostjava, den zweit- und drittbevölkerungsreichsten Provinzen des Landes, gegenüber 2014 erheblich verbessern. In beiden wichtigen Provinzen hatten die örtlichen Parteiführer der NU ihre Anhänger aufgefordert, für das Jokowi-Amin-Lager zu stimmen. Betrachtet man das ganze Land, dann hat die islamische Mehrheitsbevölkerung zur Hälfte für Jokowi und zur Hälfte für Prabowo gestimmt, während religiöse und ethnische Minderheiten fast ausschließlich Jokowi wählten.

Wunsch nach Anerkennung, Würde und Identität

Das Prabowo-Lager hingegen verbündete sich nicht nur mit islamistischen Parlamentsparteien wie der PKS, sondern auch mit radikalislamistischen Milieus und Bewegungen, zu denen u. a. die Islamische Verteidigungsfront (FPI) gehört. Mit deren Führer Muhammad Habieb Rizieq, den er in seinem saudi-arabischen Exil besuchte, schloss Prabowo eine Ummah-Allianz, ein islamisches Bündnis. Diese den politischen Islam repräsentierenden Gruppen forderten im Zuge der Wahlen im Namen ihrer Anhänger mehr politischen Einfluss und eine Umgestaltung von Staat und Gesellschaft entlang streng konservativer islamischer Werte und Gesetze.

Dabei konnte insbesondere die FPI-Führung darauf verweisen, dass sie sich in den vergangenen Jahren als äußerst effektive »politische Unternehmer« erwiesen haben, die ihre Mitglieder blitzschnell und in großer Zahl mobilisieren können, sobald der Islam und damit Würde, Moral und Orthodoxie der Gläubigen vermeintlich beleidigt wurde.

Ähnlich wie rechtspopulistische und identitäre Gruppen in Europa deuten diese radikal-islamischen Agitatoren Klassenkonflikte (Arm gegen Reich) in exklusive Identitätskonflikte (der wahre Islam gegen den Rest) um und präsentieren sich als Verteidiger der Ummah (der Gemeinschaft der Muslime). Die sozial Marginalisierten geraten damit in den Sog islamistischer Ideologen, welche die muslimische Gemeinschaft als Opfer des neoliberalen globalisierten Kapitalismus und der Ungläubigen darstellt. Oftmals werden in der Gestaltung dieser Narrative sozialer Ungleichheit antisemitische, antiamerikanische und vor allem antichinesische Ressentiments bedient. Anstatt soziale Güter bereitzustellen, bedienen die politischen »Unternehmer« den Wunsch ihrer Anhänger nach Anerkennung, Würde und (Gruppen-)Identität.

Zusätzlich zu seinen religiösen Verleumdungskampagnen versuchte es Prabowo mit Endzeitpopulismus und warnte davor, dass Indonesien im Jahr 2030 nicht mehr existieren würde, sollte er nicht gewählt werden. Als selbst ernannter Fürsprecher der »kleinen Leute« erklärte er, die Ressourcen des Landes würden von der Elite geplündert und ins Ausland verschoben. Dieser Anschuldigung trat Jokowi während der zweiten Präsidentschaftsdebatte geschickt entgegen, indem er enthüllte, dass Prabowo Land im Wert von mehreren 100 Millionen Dollar besitze – 220.000 Hektar in Ost-Kalimantan und 120.000 in Aceh. Am Ende ist Prabowo mit seiner Strategie, die muslimische Frömmigkeit, Identität und Glaubwürdigkeit des Amtsinhabers anzuzweifeln und sich selbst als strenggläubigen Muslim und Mann des Volkes zu stilisieren, bis auf Weiteres gescheitert.

Fake News und Diffamierungen

Der Wahlkampf war auch darüber hinaus weitgehend durch Fake News geprägt, die längerfristig das gesellschaftliche Klima prägen werden. Insbesondere in den »sozialen Medien« wurden Hass und gezielte Falschmeldungen verbreitet. Drei Monate vor der Wahl ging etwa die Falschmeldung viral, dass sieben chinesische Container mit Wahlzetteln gefunden worden seien, die bereits zugunsten des Jokowi-Lagers ausgefüllt gewesen sein sollten. Jokowi selbst wurde permanent vom Prabowo-Lager öffentlich angegriffen, mit seiner aktuellen Wirtschafts- und Handelspolitik Indonesien an die Chinesen auszuliefern, während gleichzeitig Millionen chinesischer Arbeitskräfte ins Land strömen würden. Persönlich wurde der Präsident diffamiert, in Wahrheit ein ethnischer Chinese zu sein, der einer Familie von Kommunisten entstammt – und somit nach allgemeiner Definition in Indonesien gleichzeitig ein Atheist sei.

Zu Jokowis Strategie, diese Anschuldigungen ad absurdum zu führen sowie seine muslimischen Qualitäten, seine Identität und Kontakte zu betonen, gehörte auch, dass er nach dem Wahlkampf – also kurz vor den Wahlen im bevölkerungsreichsten muslimischen Land – mit seiner Frau kurz nach Mekka in Saudi-Arabien reiste.

Eine der größten Herausforderungen für die indonesische Gesellschaft besteht zweifellos darin, eine Lösung für die strukturelle soziale Ungleichheit zu finden, die mit der ungleichen Verteilung von Chancen und Erfolgen und damit mit sozialer Exklusion einhergeht. Das Wahid Institute, welches über die Religionsfreiheit in Indonesien wacht, bezeichnet die soziale und ökonomische Ungleichheit als Schlüsselfaktor bei der zunehmenden Verbreitung radikaler Lehren in Indonesien. Bereits unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Oktober 2014 sagte Jokowi in einem Interview mit dem Politmagazin Foreign Affairs, »um mit dem Radikalismus und Extremismus fertig zu werden, muss die ökonomische Ungleichheit im Land verringert werden«. Nicht wenige Experten, Aktivisten, Gewerkschafter und Arbeiter, deren Hoffnungen auf dem progressiven Präsidenten ruhten, zeigen sich bislang jedoch enttäuscht und bezeichnen seine Politik als primär wirtschafts-, infrastruktur- und investorenfreundlich. Tatsächlich sind seit Jokowis Amtsantritt weder Armutsanteil, Ginikoeffizient noch Arbeitslosigkeit signifikant gesunken.

Beim Wahlkampf spielte die Wirtschafts- und Sozialpolitik zwar eine vergleichsweise große Rolle, aber dominiert wurde die Debatte durch immer neue Begriffe, um diese Politikfelder in einen kulturell-identitären Zusammenhang zu bringen. Das Jokowi-Lager kam dabei auf folgende: Ekonomi Berkeadilan (Gerechtigkeitsökonomie), Ekonomi Pancasila (Ökonomie der indonesischen Staatsideologie, die religiöse und soziale Inklusion kombiniert), Ekonomi Gotong Royong (Ökonomie eines indonesischen Konzepts gegenseitiger Unterstützung) und Ekonomi Umat (islamische Gemeinschaftsökonomie).

Diese Betonung der Definition von Begriffen gegenüber Inhalten spiegelte den politischen Balanceakt wider, angesichts einer genuin sozialistischen Staatsideologie, gleichzeitig historisch bedingte linksfeindliche Reflexe und einen zunehmend einflussreichen konservativen Islam mit dem Bestreben zu vereinbaren, die soziale Ungleichheit zu verringern.

Während Jokowi bis jetzt einen erfolgreichen Geschäftsmann zum Vertreter hatte, ist sein neuer Vizepräsident nicht gerade für seine wirtschaftlichen Fähigkeiten oder Interessen bekannt. Nur zwei Wochen nach der Wahl kündigte das Planungsministerium des Landes allerdings einen umfassenden Fünfjahresplan für eine Scharia-Ökonomie an. Der wiedergewählte Präsident sagte allerdings auch, er werde sich in seiner zweiten Amtszeit auf die Verbesserung der menschlichen Ressourcen konzentrieren, also die Ausbildung und Qualifikation der indonesischen Arbeitsbevölkerung fördern. Außerdem erklärte er, er wolle das Land bis 2025 zu einem regionalen Zentrum der digitalen Wirtschaft machen.

Balanceakt zwischen Identitätspolitik und sozialem Fortschritt

Wie in vielen anderen Ländern weltweit lässt sich auch in Indonesien eine Zunahme der Bedeutung von Identitätspolitik entlang politischer Prozesse beobachten. Beide politischen Lager haben bei den indonesischen Präsidentschaftswahlen entsprechende Signale an die muslimische Mehrheitsbevölkerung ausgesendet. Das Jokowi-Lager an liberale und konservative Milieus; das Prabowo-Lager an konservative und islamistische Milieus. Während das Prabowo-Lager dabei auch auf das weltweit zu beobachtende Muster zurückgriff, Sündenböcke zu benennen – nämlich vermeintliche Eliten sowie die Chinesen – bleibt für die zweite Amtszeit von Präsident Jokowi die Hoffnung bestehen, dass er sich nach gewonnener Wahl und der kommunizierten Ehrerbietung gegenüber dem Islam wieder auf die praktische Politik konzentriert. Denn nur so kann der Fortschritt im viertbevölkerungsreichsten Land der Erde sozial gerecht gestaltet und damit implizit das indonesische Gesellschaftsprinzip »Einheit in Vielfalt« – das sich in der indonesischen Staatsideologie Pancasila als Konzept für Inklusion manifestiert – gesichert werden.

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