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Selbstbestimmung und Unvernunft in digitalen Zeiten Im Zwang der Algorithmen

Das Wort »postfaktisch« ist zum Signum der jüngsten Zeit geworden, auch wenn Manipulationen und Propaganda nicht neu sind. Was macht aber heute die viel beklagte Ignoranz gegenüber Tatsachen und die Bevorzugung von Emotionen so mächtig? Warum gedeiht irrationales Denken? Darum kreist Jens Bergmanns Studie Triumph der Unvernunft. Der Psychologe und Journalist betont, der Mensch sei rational und irrational: »Auf ihnen vertrauten Gebieten verhalten sich die Leute tendenziell vernünftiger, auf ungewohntem Terrain unvernünftiger.« Mit ihrer Fähigkeit, Verrücktes, Unlogisches und Spontanes zu tun, bleiben Menschen zwar hinter ihren Erkenntnismöglichkeiten zurück, sie gewinnen damit aber neue Verhaltensoptionen. Dass dies kein rein negativer Vorgang ist, verdeutlicht der Untertitel des Buches: »Was irrationales Denken anrichtet – und wozu es gut ist«. Bergmann zeigt, dass der Vernunftbegriff seit jeher zeitgebunden und umkämpft war und die Bedürfnisse der Menschen nicht im Begründen und Hinterfragen aufgehen.

Aufwallungen der Unvernunft lassen sich individuell wie gesellschaftlich-politisch beobachten: »In vielen reifen Industrieländern breitet sich ein Klima der Gereiztheit aus, angefacht und für ihre Zwecke genutzt von einer autoritären Internationale.« Die Sehnsucht nach Ordnung angesichts globaler Unübersichtlichkeit, der Wunsch, über die eigenen Lebensumstände bestimmen zu können, steigert die Empfänglichkeit für irrationale Deutungsangebote. Sie versprechen, offene Fragen zu beantworten, den Zufall auszuschalten und eine in sich stimmige Erzählung zu liefern. »Orientierung durch Desorientierung« lautet die paradoxe Formel dafür.

Für Jens Bergmann gehört zur Analyse des Irrationalen auch Medienkritik: wenn etwa Journalisten nach Charakterfehlern fahnden (wie im Fall Christian Wulff), exzessiv über Maulhelden wie Donald Trump berichten oder generell auf Sensationelles setzen. Viele Menschen verzichten darauf, sich umfassend zu informieren, sie ignorieren Nachrichten, die ihnen nicht passen, oder ziehen sich in sogenannte Echokammern zurück, wo eine Aussage wie »Die Mondlandung fand nicht statt« mit der Zeit ihre eigene Plausibilität gewinnt. In kurzen Kapiteln legt Bergmann die Anziehungskraft quasireligiöser Erklärungssysteme, von Esoterikbewegungen und Verschwörungstheorien dar: Sie machen eine undurchschaubare Welt übersichtlich, spenden Gewissheit und Trost. Die Maxime »Frech behauptet ist halb bewiesen« gilt für Scheinkorrelationen und vermeintliche Zwangsläufigkeiten, wie sie beispielsweise Leugner des Klimawandels einsetzen. Die Betreiber sozialer Medien befördern die Verweildauer im Netz, sie profitieren davon, wenn die Nutzer sich gegenseitig in ihren Vorurteilen bestätigen.

Unsinnige Ansichten müsse man zwar nicht ernst nehmen, schreibt Bergmann, wohl aber die ihnen zugrunde liegenden Bedürfnisse. Am Ende seiner Analyse steht ein ambivalenter Befund: »Die gute Nachricht: Irrationale Überzeugungen müssen letztlich an der Wirklichkeit scheitern. Die schlechte: Bis sich diese Erkenntnis allgemein durchsetzt, kann die Welt in Trümmern liegen.«

Anders als Bergmanns ironische »Alternative« fällt die Bestandsaufnahme der amerikanischen Ökonomin und Sozialpsychologin Shoshana Zuboff eher düster aus. In ihrem großen Werk Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus beschreibt sie einen fundamentalen ökonomischen Wandel infolge der Digitalisierung: »Die Gesellschaft ist immer mehr zu einem Objekt geworden, das in Verhaltensdaten transformiert wird, um kontrollieren und verändern zu können.« Das Sammeln von Daten und die daraus ableitbaren Prognosen und Modifikationen des menschlichen Verhaltens bestimmen laut Zuboff mehr und mehr die moderne Informationszivilisation: eben jenen »Überwachungskapitalismus«, der »einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten« beansprucht.

Der »Schattentext« unseres Lebens

Mit Googles Suchmaschine begann die auf Datengewinnung basierende Ökonomie. Die algorithmischen Methoden sollten zunächst die Onlinewerbung optimieren. Aber schon bald erkannte man, »dass der stetige Strom kollateraler Verhaltensdaten die Suchmaschine in ein rekursives Lernsystem verwandeln könnte«. Der Überwachungskapitalismus verdankt seine Daten der Wissensteilung. Maschinenintelligenz macht daraus hochprofitable algorithmische Produkte, die das Verhalten der Nutzer möglichst genau vorhersagen und beeinflussen: »Google ist für den Überwachungskapitalismus, was Ford und General Motors für den auf Massenfertigung gebauten Managementkapitalismus waren.«

Daten, auch intimer Natur, die »direkt auf unsere Persönlichkeit, Stimmungen und Emotionen, unsere Lügen und unsere Sollbruchstellen« zielen, werden tendenziell überall und dauerhaft erhoben. Sensoren sind allgegenwärtig, »wearables« erfassen Körper und Kleidung, Wohnung und Mobilität, selbst die Befindlichkeiten einer Kuh, in deren Magen ein Messgerät platziert wird. Die Interventionsmöglichkeiten des Einzelnen sind gering. Allein die Nutzung von vernetzten Geräten und Apps erfordert die Prüfung von fast 1.000 »Verträgen«, um die undurchsichtigen und jederzeit änderbaren Softwarelizenzen zu durchschauen.

Die überwachungskapitalistischen Vorhersageprodukte, schreibt Zuboff, wollen »menschliches Verhalten in einer wirtschaftlich interessanten Größenordnung (…) beeinflussen und (…) verändern«. Die sicherste Vorhersage führt das vorausgesagte Verhalten überhaupt erst herbei. Gemäß der Logik des Überwachungskapitalismus ist ein nicht vorherzusagendes Verhalten gleichbedeutend mit entgangenen Einnahmen. Die gewonnenen Informationen und Kommunikationen, zu Profilen zusammengefasst, bilden, wie Zuboff darlegt, den »Schattentext« unseres eigenen Lebens. Wir selbst kennen diesen nicht. Die Gesamtheit der für uns »unsichtbaren« Daten wird in diesem Geschäftsmodell monetarisiert, ohne dass wir als Datenlieferanten davon profitieren. Die verborgenen Auswertungen der Algorithmen können wir nicht anfechten. So entsteht zwischen den Beteiligten eine gravierende Asymmetrie: »Überwachungskapitalisten wissen alles über uns, während ihre Operationen so gestaltet sind, uns gegenüber unkenntlich zu sein.«

Die Rolle des Staates

Es ist ein Merkmal der neuen Marktform, dass die Nutzer digitaler Angebote keineswegs zugleich die Kunden der Unternehmen sind. Deren Kunden sind vielmehr die Werbetreibenden. Die menschliche Erfahrung der Nutzer wird gleichsam enteignet: »Der Überwachungskapitalismus definiert persönliche menschliche Erlebnisse, die außerhalb des Marktes, in der Privatsphäre unserer eigenen Erfahrungen stattfinden, nun als freies Rohmaterial, das in den Markt übernommen und in Produkte umgewandelt werden kann, die auf neuen Märkten gekauft und verkauft werden können.« Machen wir uns also bewusst, dass Facebook, Google, Amazon und Co uns, die Nutzer, marktbezogen konfigurieren und funktionalisieren. Ein wichtiges Merkmal des Datenkapitalismus liegt laut Zuboff darin, dass er Datenschutz und Kontrollversuche unterläuft. Wie tief die Einflussnahme der Datensammler reicht, hat zuletzt die Mobilisierung des Widerstandes gegen die Urheberrechtsverordnung der EU gezeigt, als das Phantom der Zensur beschworen wurde, um den Schutz der Urheber auszuhebeln.

In dieser Situation, davon ist Zuboff überzeugt, können nur staatliche Zähmungsversuche erfolgreich sein. Der neue Kapitalismus, der letztlich Überwachungserträge ökonomisiert, ist per se undemokratisch. Er lässt »keinen Platz mehr (…) für die Artigkeiten der Demokratie mit ihren zeitraubenden Praktiken, seien es nun ordnungsgemäße Verfahren, Beweise, Durchsuchungsbeschlüsse oder das Recht überhaupt.« Was noch vor wenigen Jahrzehnten als Bedrohung der individuellen Autonomie oder der demokratischen Ordnung wahrgenommen worden wäre, trifft inzwischen kaum noch auf Widerstand. Wo bleiben Selbstbestimmung und Privatsphäre, Rechtssicherheit und politische Gestaltung? Zwar bietet die zunehmende Digitalisierung den Nutzern unbestreitbar sinnvolle und hoch entwickelte Dienste, aber auf die Gefahr hin, dass unsere Bequemlichkeit und weitgediehene Abhängigkeit uns stumpf macht gegenüber der Tatsache, nicht nur permanent benutzt und ausgesogen, sondern auch in schleichender Form angepasst und in unserer menschlichen Substanz verändert zu werden.

Jens Bergmann: Triumph der Unvernunft. Was irrationales Denken anrichtet – und wozu es gut ist. DVA, München 2018, 240 S., 20 €. – Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus, Frankfurt/New York 2018, 727 S., 29,95 €.

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