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Notizen zu Theodor W. Adornos »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« und Andreas Maiers »Die Familie« Ins Schweigen gedrängt, in Sprache gerettet

Ein Nachdenken über das spannungsreiche Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft vollzieht sich in der Wissenschaft auf anderen Wegen als in der Kunst – ein Gemeinplatz, sicherlich. Doch viele der »alten Fragen« (Samuel Beckett) stellen sich hier wie da. So auch die nach dem Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Andreas Maiers Die Familie, der im Juni 2019 erschienene siebte Roman des Projekts »Die Ortsumgehung«, das nach seinem Abschluss elf Bände umfassen soll, nähert sich dieser Frage indirekt an. Die Familie liest sich in einer enttarnenden Annäherung an das Verschweigen der Gräuel des Nationalsozialismus und der psychischen wie pragmatischen Reaktionen darauf wie eine indirekte, intensive Aktualisierung der Fragen, die Theodor W. Adorno, dessen Todestag sich am 6. August zum 50. Mal jährt, in seinem Aufsatz »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« aufwirft.

Im November 1959 erschien dieser Text, den Adorno im Herbst des Jahres in Wiesbaden vor dem Koordinierungsrat für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vorgetragen hatte, in dem »Bericht für die Erzieherkonferenz«. In seinen Schriften und den Studien des Instituts für Sozialforschung hatte Adorno die Rolle des Einzelnen und der Gesellschaft im Zusammenhang mit Krieg und Völkermord, mit dem Weiterwesen des Nationalsozialismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auszuloten und zu fassen versucht. In besagtem Aufsatz erörtert er, warum die Demokratie von Menschen nicht als »ihre eigene Sache« erfahren werde, sie sich nicht selbst als Subjekte politischer Prozesse wüssten, wie man die Fähigkeit des Subjekts, sich als mündig und frei, zugleich aber verantwortlich zu begreifen stärken kann – eine Frage, die sich angesichts von Ausgrenzungs- und Verdrängungsbewegungen in der politischen Landschaft Deutschlands und Europas noch immer dringend stellt.

Adorno bemerkte, dass psychologische Termini wie »Schuldkomplex« oder »Verdrängung« keine Erklärung für die Tabuisierung des nationalsozialistischen Erbes abgäben, dass im Gegenteil vielmehr bewusste Willensentscheidungen dem Verschweigen und Vergessen-Wollen vorausgingen: »Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein.« Die »Tendenz zur unbewußten und gar nicht so unbewußten Abwehr von Schuld« äußere sich in »Gesten der Verteidigung« dort, wo man nicht angegriffen sei, in »heftige(n) Affekte(n) an Stellen, die sie real kaum rechtfertigen; Mangel an Affekt gegenüber dem Ernstesten; nicht selten auch einfach Verdrängung des Gewußten oder halb Gewußten« und sah in der »Tilgung der Erinnerung (..) eher eine Leistung des allzu wachen Bewußtseins als dessen Schwäche gegenüber der Übermacht unbewußter Prozesse«.

Diesen Verhaltensmustern unterliegen und folgen auch beinahe alle Figuren in Maiers Roman, der mit einigen Zeitsprüngen das Weiterwesen des Nationalsozialismus in einer bundesrepublikanischen Kleinfamilie in den 70er, 80er bis zu Beginn der Nullerjahre umkreist wie einen blinden Fleck. Schon in den vorangegangenen Bänden der »Ortsumgehung« fand man sich mit dem wehmütigen, das Diffuse zu ordnen trachtenden Erzähler in einem beklemmenden Sumpf oder Nebel, in einer post-»wirtschaftswunderlich«-grotesken Familie, die Onkel J., den stets muffig riechenden, behinderten, sich kindlich gebärdenden Onkel des Erzählers, in den Keller des Hauses verbannte, in der man regelkonformes Verhalten einforderte und zugleich auf wirtschaftliche Expansion erpicht war. Man ist stets umgeben von einer Gesellschaft, deren Gros den Traum vom »Größer, Höher, Schneller, Weiter« am besten in einer Ortsumgehungsstraße um die Heimatstadt, das hessische Friedberg, verwirklichen zu können glaubte.

In Die Familie wird den tieferen Ursachen für das Unbehagen, das in dieser Familie herrscht, auf den Grund gegangen, wird der »Familienmythos« vom Urgroßvater aus der Rhön oder dem Vogelsberg enthüllt, der das riesige hessische Grundstück am Fluss erworben hat, auf dem das Elternhaus des Erzählers steht. Allmählich enthüllt sich, dass diesem Mythos ein wiederholtes, kalkuliertes Beugen des Rechts zu eigenen Gunsten zugrunde liegt, bewusstes Lügen, willentliche Akte und keineswegs nur Verdrängung. Dabei zeichnet der Erzähler seine Figuren sparsam, mittels knapper Dialoge, unter weitgehendem Verzicht auf die Psychologisierung, die Adorno als nicht hinreichende Erklärung einer mangelnden Reflexion auf die historischen Verhältnisse in Hitler-Deutschland erkannt hatte.

Die Familie erscheint im Roman zunächst als umtriebig, ja honorig. Die meisten ihrer Mitglieder kennen Maier-Leser schon aus den vorangegangenen Bänden der »Ortsumgehung«: Der Vater, Jurist bei der Frankfurter Henninger-Bräu, hat die Erbin eines hessischen Steinmetzbetriebs geheiratet, die dort zeitweilig die Geschäfte führt. Aus der Ehe sind drei Kinder hervorgegangen, der Erzähler als jüngstes, eine ältere Schwester und der Bruder, der Älteste, eine Identifikationsfigur für den Erzähler. Die Familie bewohnt nun das 1970 gebaute Haus auf dem größten Grundstück im Viertel am Ufer der Usa. Es ist jenes Haus, das dem zweiten Teil der »Ortsumgehung« den Namen gegeben hat, jenem Band, in dem der Erzähler sich mit anderem Fokus an seine Kindheit erinnert hat, und in dem der Satz fällt: »Auch bei uns wurden immer nur die Geschichten erzählt, die man guten Gewissens erzählen kann, wie in jeder Familie.«

Doch kommt im »Prolog im alten Hallenbad« einmal mehr zum Ausdruck, dass hier etwas nicht stimmt. Das Hallenbad, in dem der Bruder des Erzählers zur Schwimmstunde geht. Der Erzähler erinnert sich, wie er als Kind in einer Grube Verstecken spielt, wie Fackeln im Garten leuchten. Seltsam archaische Töne klingen an, der Geist des Soldatischen, der bei einem appellähnlichen Stundenauftakt durch das Hallenbad weht, steht im Widerstreit zu der Laxheit des Sportlehrers, der die Nichtschwimmer in der Klasse das ganze Schuljahr über sich selbst überlässt.

Am Jahresende bekommen die Schwimmer gute Noten, die Nichtschwimmer und Verweigerer eine Fünf. Der Vater des Erzählers, CDU-Mitglied und Elternsprecher, geht mit dem stellvertretenden Elternsprecher, ebenfalls Nichtschwimmer-Vater und SPD-Mitglied, gegen die Entscheidung vor. Aus einem »Krieg mit allen juristischen Mitteln« gegen die Schulleitung geht die »Große Koalition« als Sieger hervor: Die Schwimmnote wird aus allen Zeugnissen gestrichen.

Man ist also zielstrebig in der Familie, um nicht zu sagen rücksichtslos. Nach der Insolvenz des Steinwerks, das auf dem Nachbargrundstück steht, sind es mutmaßlich die Eltern, die dafür sorgen, dass die alte, unter Denkmalschutz stehende Mühle auf dem Firmengelände zum Einsturz gebracht wird: Eines Samstags demoliert ein Bagger das leerstehende Gebäude, was jahrzehntelange Gerichtsprozesse nach sich zieht. Als sich der Erzähler mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen beginnt, stellt er der Mutter die Frage, »wer in welcher Weise wie in was involviert gewesen sein könnte«. Ihre Antwort: »Aber wir haben den Juden doch sogar Brand gegeben.« Die Juden seien aus der Altstadt ans Usa-Ufer gekommen und der Großvater habe ihnen in der schlimmen Zeit Brennholz gegeben.

Mehr ist nicht zu erfahren. Stereotyp wiederholt die Mutter den grauenhaft doppeldeutigen Satz, wann immer sie nach den familiären Verstrickungen im »Dritten Reich« gefragt wird. Man meint einen aggressiven Unterton herauszuhören, wenn sie auf Fragen nach der Vergangenheit reagieren muss, einen Unterton, den auch Adorno beschreibt: »Im Vergessen des kaum Vergangenen klingt die Wut mit, daß man, was alle wissen, sich selbst ausreden muss, ehe man es den anderen ausreden kann.«

Auch die Großmutter väterlicherseits, die ihre Enkelkinder am Familientisch mit Benimm- und Wissensspielchen quält, wirkt im Ausspielen ihrer Macht wütend, während die Großmutter mütterlicherseits die Fragen der Enkel nach dem Mann in Uniform auf den Fotos im Wohnzimmer immer sehr einsilbig beantwortet: »Dann umringte sie mit ihren schlanken, eleganten Fingern die Holzknäufe unseres Ledersessels im Wohnzimmer im Mühlweg, machte an ihnen Bewegungen, die mich an Masturbation erinnerten, und sagte, sie hätten ja nicht gewußt, was das für einer sei.« »Das« meint Adolf Hitler, dessen Namen sie nicht einmal ausspricht.

Adorno stellte fest: »Vor allem muß Aufklärung über das Geschehene einem Vergessen entgegenarbeiten, das nur allzu leicht mit der Rechtfertigung des Vergessenen sich zusammenfindet; etwa durch Eltern, die von ihren Kindern die peinliche Frage nach dem Hitler hören müssen, und die daraufhin, (…), von den guten Seiten reden, und davon, daß es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen sei.« In Die Familie arbeitet man im Gegenteil fleißig gegen Aufklärung an, reichert Vermögen und Vergessen an. Als störend registrieren die Eltern freigeistigere, zeittypische Einflüsse von außen: die Betreuer auf dem Kinderplaneten, einem Sponti-Abenteuerspielplatz in Friedberg, die Cliquen im Jugendzentrum, der linke Lehrer oder der Pfarrer, der sich erdreistet, das Wort Onanie auszusprechen. Sie werden von den Eltern bezichtigt, »funktionale Miterzieher« zu sein. Am liebsten würden sie die Kinder von all dem fernhalten. Doch die reagieren auf eigene Art auf diese Enge: Der ältere Bruder entwickelt eine lästige Lust am Diskutieren, wird Mitglied der Grünen, die Schwester nutzt die windschiefe Architektur des Gefüges schamlos aus, indem sie das Familienvermögen ausplündert.

Der Jüngste beginnt, das Unbehagen schreibend zu artikulieren. Eher zufällig entdeckt seine Jugendliebe, die Buchhändlertochter, Jahre später, nachdem die Familie schon weitgehend zerfallen ist, worüber so lange eisern und kalt geschwiegen wurde: Das Familienhaus steht nicht etwa auf einem Grundstück, das der Urgroßvater urbar gemacht hat, sondern auf einem mutmaßlich enteigneten jüdischen. Durch die Frage nach dem möglicherweise geschehenen Unrecht gelangt der Erzähler zur Einsicht, dass nicht nur die Familiengeschichte, sondern damit auch seine (erzählte) Geschichte mutmaßlich auf Lug und Trug gegründet war. Der Leser wird Zeuge der Zerstörung eines Kosmos: »Ich schreibe die ganze Zeit Nachkriegsliteratur, ohne es zu merken. Entschuldungsliteratur: Ich! Aus meiner Herkunft habe ich ein metaphysisches Konstrukt gemacht. Und es hat so gut funktioniert! Erst hatte ich meinen Onkel J. als Figur gefunden, von da die Familie, dann kam Friedberg, kamen die Landschaft, die Wetterau dazu. (…) Meine schöne Wetterau! Die ganze Zeit konnte sie Literatur sein. (…) Das war ein großes Spiel. Daß das alles eine Form des Schweigens war, kam nicht vor.«

Der Erzähler vergleicht den Moment dieser Erkenntnis mit der Szene aus Der große Diktator, in der Charlie Chaplin als Diktator Hinkel mit der Weltkugel durchs Zimmer tanzt, bis sie platzt und mit ihr jegliche Grandiosität. Was rund, schön und beherrschbar aussah, hängt in jämmerlichen Fetzen. Und die »Ortsumgehung«, der Titel des Projekts, dessen Semantik bisher auf den Bau der Umgehungsstraße um Friedberg, aber auch für das Umkreisen der eigenen Herkunft des Erzählers stand, es lädt sich nun mit einer weiteren Bedeutungsebene auf: Es verweist auf das Umkreisen eines familiären als historischen Tabus.

Zu entscheiden, wer was warum tut oder getan hat, bleibt dabei Sache des Lesers, der in diesem Roman glücklicherweise nicht für dumm verkauft wird. Die Sprache und Dramaturgie des Textes legen zugleich deutlich und doch deutbar über semantische Mehrdeutigkeiten, sprachliche Übersprungshandlungen (»Die Bäume da draußen, sind sie nicht schön!«), die Strukturen der verweigerten Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichte frei und machen ihn deshalb so lesenswert. Wer, wie der Erzähler in Die Familie, dem teuflischen Prinzip, das Adorno mit Bezug auf Goethes Faust in der »Zerstörung von Erinnerung« erkannt hatte, entkommen will, dem bleibt nur die Flucht nach vorn, in eine artikulierende, entlarvende, auf Aufklärung bedachte Erinnerung. Adorno konstatiert in »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«: »Es kommt wohl wesentlich darauf an, in welcher Weise das Vergangene vergegenwärtigt wird, ob man beim bloßen Vorwurf stehenbleibt oder dem Entsetzen standhält durch die Kraft, selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen.« Im Aussprechen dieser unbequemen Wahrheit vermag die Sprache des Erzählers gerade in ihrer Härte, Trockenheit und Knappheit mimetisch umzusetzen, gegen welche Widerstände erzählt wird. Dass der Erzähler diesem Entsetzen standhält, indem er das Verschwiegene als zufällig Entdecktes derart in die Sprache rettet, ist ein trauriger Triumph, der schon deshalb keiner sein kann, weil das Rettende an ihm nicht ohne die totale Zerstörung zu haben ist: Die Zerstörung eines – sei er auch noch so zersetzt und zersetzend – Familienverbandes. In einer Gesellschaft, in der das soziale Gefüge der Familie vielen noch immer, vielleicht mehr denn je, als bestmögliche Form des Zusammenlebens gilt, ist mit ihr aber im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen, so lange ihre Mitglieder die unbequemen Wege hin zu einem »helleren Bewusstsein« scheuen.

Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: Ders. Gesammelte Schriften (herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz) Band 10. 2. Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe Stichworte. Zusammen mit Band 10.1. Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, 843 S., 34 €. – Andreas Maier: Die Familie. Roman. Suhrkamp, Berlin 2019, 166 S., 20 €.

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