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Peter Hoeres’ Geschichte der Inventar der Republik

Wie gut, dass der Historiker Peter Hoeres hartnäckig blieb – so konnte er seine Idee, eine Geschichte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zu schreiben, verwirklichen. Denn es gehört zu den Eigentümlichkeiten deutscher Zeitungsverlage, ihrer eigenen Geschichte keine Beachtung zu schenken. Gerhard Stadelmaier, ehemals Theaterredakteur der FAZ, hat das in seinem Schlüsselroman Umbruch beschrieben: »Die große Staatszeitung war und ist (…) kurioser- und paradoxerweise, was ihre eigene Geschichte angeht, eine völlig geschichtslose (…) Zeitung.« Und weiter: »Vielmehr herrscht eine Art geschäftsmäßige Erinnerungstilgung.«

Es dauerte Jahre bis Hoeres, der Würzburger Professor für Neuere Geschichte, als erster Wissenschaftler Einsicht in die Hausakten bis 1994 erhielt, in Protokolle der Herausgebersitzungen und Mitschriften von Konferenzen und Korrespondenzen. Er musste also nicht nur analysieren, was in der Zeitung stand, sondern konnte recherchieren, wie es dazu kam. Er befragte wichtige Zeitzeugen und wertete die gewaltige Menge von über sechs Millionen online verfügbaren FAZ-Artikeln aus, wobei er relativierend bemerkt: »Jeder liest letztlich eine andere Zeitung.« Im 70. Jubiläumsjahr des Blattes legt Hoeres nun, finanziell unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, seine »Geschichte der FAZ« vor.

Sein Buch Zeitung für Deutschland stellt wesentliche Stationen und Positionen der FAZ vor, berichtet von Deutungen und Debatten, Meinungskämpfen und Interventionen. Es thematisiert Nähe und Distanz der FAZ zur Politik und ihren Akteuren ebenso wie Profil und Eigenständigkeit der einzelnen Ressorts, beschreibt interredaktionelle Dynamiken und den Wandel von Themensetzungen, porträtiert prägende Persönlichkeiten und ihre Irrtümer, ihre Sprache, ihr Selbstverständnis und ihre publizistische Macht.

Die erste Ausgabe erschien am 1. November 1949 in einer Auflage von 60.000 Exemplaren mit der erklärten Zielsetzung: »Für die Denkfaulen möchten wir nicht schreiben. Aber sonst meinen wir, daß die Vereinigung von breiter Wirkung und geistigen Ansprüchen sehr wohl möglich sei.« Es war eine relativ späte Zeitungsgründung. ZEIT und Handelsblatt, Frankfurter Rundschau, Die Welt und die Süddeutsche Zeitung existierten bereits, und der Anzeigenmarkt war längst aufgeteilt: »Wer brauchte da eine Bleiwüste mit starkem Akzent auf Außenpolitik und Wirtschaft (…)?« fragt Hoeres. Der Erfolg der FAZ war keineswegs von Anfang an vorgezeichnet. Gründung und Existenzsicherung der Zeitung wurden maßgeblich von Erich Welter betrieben. Der Veteran der früheren Frankfurter Zeitung »war die Autorität in der Zeitung« und prägte sie über drei Jahrzehnte. Bis heute steht Welter als Gründungsherausgeber im Impressum. Auf ihn geht die Kollegialverfassung des Blattes zurück, also die Leitung durch einen Herausgeberkreis anstelle eines Chefredakteurs.

Die späte Gründung der FAZ wurde durch Geldgeber aus der Wirtschaft ermöglicht, die in der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft (WIPOG) organisiert waren. Auch Unternehmen, größtenteils aus der süddeutschen verarbeitenden Industrie sowie aus der Grundstoff- und Schwerindustrie, darunter Salamander, Ruhrgas, Bahlsen, engagierten sich. Ohne sie wäre das Überleben angesichts der enormen publizistischen Konkurrenz und der wirtschaftlich schwierigen Situation wahrscheinlich nicht gelungen. Ende 1952 war die wirtschaftliche Konsolidierung erreicht. 1954 betrug die Auflage 100.000, 1955 bereits 150.000. Wollte man die Anfangsphase marxistisch deuten, so Hoeres, hätten sich Mittelstand und Industrie einen publizistischen Überbau zur Durchsetzung ihrer Interessen geschaffen. Doch diese Interpretation geht fehl, denn es gelang, die Unabhängigkeit des Blattes zu sichern – mittels einer Stiftung. Seit 1959 hielt die FAZIT-Stiftung die Mehrheit der Anteile an der Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH: »Es griff eine Dialektik der Autonomie des Wirtschafts- und Mediensystems, bei dessen Missachtung die Zeitung niemals erfolgreich gewesen wäre«, wie Hoeres argumentiert.

War Erich Welter die Autorität der Zeitung, so war Paul Sethe ihr journalistisches Gesicht. »Von Anfang an interessierte man sich bei der FAZ für historische und geschichtswissenschaftliche Debatten, wobei der gerade untergegangene Nationalsozialismus nur mittelbar zur Diskussion stand.« Über die NS-Verbindungen einiger Redaktionsmitglieder begann man »erst im Bedarfsfall, das heißt bei Angriffen von außen, genauer zu recherchieren«. Man war gegenüber individuellem Verhalten im Nationalsozialismus nachsichtig, tolerierte aber keine Verklärung dieser Vergangenheit in der Nachkriegszeit. So berichtete die FAZ etwa 1953 in 28 Artikeln über den Prozess zum Massaker der Waffen-SS in Oradour, und keine andere Zeitung begleitete so intensiv – mit rund 300 Artikeln – den Frankfurter Auschwitz-Prozess.

Hoeres beschreibt die Ressorts in ihrer Unterschiedlichkeit. Das konservative politische Ressort wirkte spätestens ab Mitte der 50er Jahre als »Agent der Verwestlichung« und der Westbindung, aber auch als »Widerlager« gegen die Pazifizierung der Gesellschaft. Das ordoliberale Wirtschaftsressort war von Beginn an kritisch gegenüber der deutschen Kartelltradition, was in den 50er Jahren zu Konflikten mit Förderern aus der Wirtschaft führte. Das Feuilleton mit ganz eigenem Ressortverständnis sei hingegen schon früh ein »Agent der Nachkriegsmoderne« gewesen.

Die Arbeitsatmosphäre war liberal, die Praxis weitgehend »government by discussion«. Anhand der Ostpolitik, der 68er Bewegung, des Historikerstreits oder der Berichterstattung über umstrittene kulturelle Ereignisse wie die documenta arbeitet Hoeres heraus, wie groß die Pluralität der Meinungen war. Es gab heftige Debatten um fast jedes wichtige Thema. Immer wieder gerieten Kollegialität und innere Liberalität unter Druck. 1970 wurde der Herausgeber Jürgen Tern entlassen. Er hatte sich äußerst eng mit Conrad Ahlers, dem Regierungssprecher der sozialliberalen Koalition, abgestimmt. Diesen »direkten Draht der Regierung nach Frankfurt« wollten die anderen Herausgeber kappen, um sich nicht der Regierungshörigkeit bezichtigen zu lassen.

Nicht nur ihr dichtes Korrespondentennetz machte die FAZ zum Leitmedium. »Ihre herausragende Position im kulturellen und wissenschaftlichen Leben erlangte die FAZ durch den Ausbau des Feuilletons und des Rezensionswesens sowie die Bindung namhafter Autoren. Das war ein sich selbst verstärkender Prozess. (…) Das von hier verteilte symbolische Kapital strahlte über die Fächer- und Lagergrenzen hinaus.« Die einzigartige Konstruktion der Zeitung unter Führung eines Herausgebergremiums und einer tragenden Stiftung sowie die große Binnenautonomie der Ressorts bildeten entscheidende Erfolgsfaktoren. Auch die Einordnung als konservatives Blatt war entscheidend: »Ständig und überall rang die FAZ mit ihrer Verortung im Rechts-links-Schema. Gerade weil die Zeitung (…) seit den späten 1960er Jahren im publizistischen Mainstream als konservativ oder rechts und damit abweichend wahrgenommen wurde, entfaltete diese Kategorie ihre starke Wirkung. Die Farben der Deutschlandflagge Schwarz, Rot, Gold konnten in dieser Reihenfolge auf das konservative Politikressort, das linke Feuilleton und den liberalen Wirtschaftsteil appliziert werden.«

1980, mit dem Ausscheiden Welters, war die Gründergeneration fast vollständig abgelöst. Der Umgang mit Autoritäten änderte sich, die Herausgeber waren nicht länger unangefochten. In den 70er Jahren durchbrach die FAZ die Schallmauer von 300.000 Exemplaren. Das vermeintlich »rote Jahrzehnt« war für die FAZ in ihrer Geschäftsbilanz ein schwarzes.

Wie sehr die Zeitung den politischen Diskurs mitbestimmte, zeigt Hoeres’ Buch an zahlreichen Beispielen: u. a. außenpolitisch bei der frühen Anerkennung von Slowenien und Kroatien Ende 1991, dem ein Artikel-Dauerfeuer von Herausgeber Johann Georg Reißmüller vorausging. Intensiv wurde in der FAZ der Historikerstreit ausgetragen und später die Kontroverse um die erste Wehrmachtsausstellung. Mit ihrem Mix aus Korpsgeist, Binnenwettbewerb und Ressortegoismen, gepaart mit Diskussionsfreude und Offenheit sei die FAZ eben nie »eine homogene konservative Zeitung gewesen«, resümiert Hoeres. »Durch das konservative Politikressort, das liberale Wirtschaftsbuch und den auf CDU-Linie ausgerichteten Lokalteil sowie die anfängliche Positionierung im Historikerstreit aufseiten der konservativen Historiker kam die FAZ in den 1980er Jahren der ihr immer zugeschriebenen Rolle als konservative Zeitung noch am ehesten nahe.«

Auch wenn die FAZ zum Inventar der Bundesrepublik zu gehören scheint – im publizistischen Markt erodierender Geschäftsmodelle muss sich die Stärke ihrer Marke erweisen. Die verkaufte Auflage lag im vierten Quartal 2019 bei rund 228.900, gegenüber 2011 ein Rückgang um mehr als 130.000 Exemplare. Die gesteigerte Auflage digitaler Ausgaben (knapp 50.000 Exemplare) gleicht den Auflagenverlust nicht aus. Seit 2020 erscheint, reichlich spät, ihr »Podcast für Deutschland«. Carsten Knop, bislang Chefredakteur Digitale Produkte, wird ab April 2020 neuer Herausgeber. Hoeres dazu optimistisch: »Die Marke FAZ als Synonym für Qualitätsjournalismus wird freilich nicht so schnell verschwinden. Dafür ist sie zu stark, zu sehr eingeführt und nachgefragt.«. Peter Hoeres’ unbedingt lesenswerte Geschichte des Leitmediums FAZ ist zugleich eine klug komponierte zeitgeschichtliche Studie. Sein Buch setzt Maßstäbe für weitere wünschenswerte Arbeiten über andere Medienhäuser.

Peter Hoeres: Zeitung für Deutschland. Die Geschichte der FAZ. Benevento, Salzburg 2019, 600 S., 28 €.

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