Der Begriff der Spiegelung ist komplex und spielt in zahlreichen wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen eine bedeutende Rolle. Von Alice hinter den Spiegeln von Lewis Carroll über das Spiegelstadium, der vom Psychoanalytiker Jacques Lacan erforschten Entwicklungsphase von Kindern, bis hin zu Arvo Pärts Komposition Spiegel im Spiegel oder dem Song I'll be your mirror der Band Velvet Underground dürfte hier jeder eigene Assoziationen haben. Spiegelungen sind notwendig für das Konstituieren und Reflektieren des Ichs, sie können aber auch gefahrvoll und schwierig sein. Aus der griechischen Mythologie kennt man Narcissus, der die Liebe der Nymphe Echo zurückwies und deshalb von Aphrodite dazu verdammt wurde, sich in sein eigenes Spiegelbild zu verlieben. Er starb einer Version des Mythos zufolge daran, dass er sich zu tief über sein Spiegelbild im Fluss beugte, weil er dessen Verzerrung nicht ertrug, einer anderen Version nach beim Versuch sich mit seinem Spiegelbild zu vereinen, in einer dritten erstach er sich, nachdem er sein Spiegelbild gesehen hatte und dieses seiner Fantasie über seine Schönheit nicht genügte. Und damit sind wir beim Thema, dem Narzissmus, der sich durch exzessives Einlassen mit dem World Wide Web bei vielen Nutzern ausbreitete und zu Phänomenen führte, die inzwischen auch als Krankheitsbilder anerkannt sind, Stichwort »Internetsucht«.
Die Essays in Trick Mirror der 32-jährigen Journalistin Jia Tolentino, die Inszenierungen des Ichs im Internet untersuchen, schildern vor allem die problematische und zersetzende Form dieser Spiegelungen des Ichs in den unendlichen Weiten des Internets, die selbstverzerrende und -verwirrende Form, die mutmaßlich dem zutiefst humanen Wunsch entspringt, erkannt zu werden.
In ihrem Band untersucht Tolentino, die sieben Jahre lang das war, was man internetsüchtig nennen kann, wie der mediale Wandel und die durch diesen Wandel veränderte und sich ständig weiter verändernde Öffentlichkeit in ihrer eigenen Internetnutzung ihre Selbst- und Weltwahrnehmung geprägt haben, und wie sich dieser mediale Wandel auch auf die politische Kultur vornehmlich der USA ausgewirkt hat. Tolentino ist, was man eine Digital Native nennt, Vertreterin einer Generation, der die Nutzung digitaler Technologien und Medien von Kindheit an vertraut ist. Schon auf dem ersten Computer des Vaters experimentierte sie, bastelte Webseiten, nutzte Messenger-Dienste. Das war im Frühstadium des Internets, dem Web 1.0, in dem fast nichts, was dort zu finden war, kommerziellen Zwecken dienen sollte. Es war eine kleine verschworene Gemeinschaft, die sich austauschte, half, wenn man Tolentinos Ausführungen folgt.
Zu Beginn ihrer Nutzung des Internets waren Tolentino die Angebote im Netz und die eigene Person ihr noch als getrennte Entitäten wahrnehmbar, doch die Grenzen begannen zusehends zu verschwimmen. 2004 nahm die Autorin an einer der ersten TV-Reality-Shows in den USA teil und erlebte dort die vollständige Verzahnung von eigener Performance und der Beobachtung durch eine Kamera, allerdings automatisch und instinktiv, in einem Hin und Her von übersteigerter und verlorener Selbstwahrnehmung, »eine nützliche, wenn auch fragwürdige Vorbereitung auf ein Leben in den Fängen des Internets«, wie sie es selbst beschreibt.
Was mit Spiel- und Entdeckerfreude begann, verwandelte sich dann, vor allem durch die sozialen Medien, die dem ständigen zwischen Höhenflug und Bestätigungssucht schwankenden Wechsel der Selbstwahrnehmung Vorschub leisten. Diese arbeiten mit einer Verwischung von inszeniertem und sozial regulierten Ich, das sich durch Begegnungen, Anlässe, Aufgaben etc. in klar voneinander abgrenzbaren Situationen bewegt, während es im Internet dauerhaft »performen« muss, was nicht nur bei der Autorin einen deutlichen Wandel im eigenen Verhalten bewirkte. Tolentino schildert, wie viel Zeit sie täglich im Internet verbrachte. Sie beschreibt, wie das »inszenierte Ich« ständig glaubt, sich über seine eigene Meinung definieren zu müssen, wie dadurch wiederum auch die eigene Verunsicherung gewachsen, ein Teufelskreis der Selbstoptimierung insbesondere für Frauen entstanden sei, wie aber auch eine neue Form der Hochstapelei durch den medialen Wandel einen zusätzlichen Schub erfahren hat.
Konjunktur für Betrugsmaschen
Der vielleicht instruktivste Essay »Die Geschichte einer Generation in sieben Betrugsmaschen« schildert am Beispiel von sieben Fällen, wie dies vorstatten geht, und was sich dadurch in der Gesellschaft verändert. Zu den Beispielen zählt der Abschnitt, der schildert, wie es dem Studienabbrecher Billy McFarland gelang, aus viel heißer Luft und durch neugegründete, übers Internet gehypte Firmengründungen ohne Nutzen für ihre Klientel für eine Weile nicht nur Geld zu verdienen. McFarland schaffte es auch, maximale Aufmerksamkeit für sich zu erheischen, bis sein Schwindel aufflog. Tolentino zufolge kann dieser Schwindel exemplarisch für eine Nation gelten, »die sich auf die Vorstellung gegründet hat, es sei gut, wichtig und sogar nobel, sich zu nehmen, was man kann, sobald sich eine lukrative Gelegenheit bietet«. Die Betrugsmasche McFarland ähnelt dabei der Masche der sozialen Medien. Auch die Erfolgsgeschichte von Facebook gehört in diese Kategorie. Tolentino zählt diesen »wunderbaren narzisstischen Traum« zu den sieben großen Betrugsmaschen, denen (nicht nur) ihre Generation auf den Leim gegangen ist, indem der angeborene menschliche Narzissmus und das Bedürfnis, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, schamlos ausgenutzt wird. Man kennt die Problematik, und doch entkommt man ihr nicht, denn inzwischen zählt Facebook 2,25 Milliarden Nutzer und übt dadurch indirekt Einfluss auch auf diejenigen aus, die sich nicht auf dieser Plattform registrieren lassen. Mehr als jedes andere Medium, so Tolentino, habe Facebook die Vorstellung gefesselt, dass das Ich in Form eines gut performenden Avatars existiert.
Doch nicht nur Facebook, auch Amazon habe dazu beigetragen, den Kult der Selbstinszenierungen weiter zu verbreiten, indem es Diversität des Handels vernichtet, mit räuberischen Geschäftspraktiken Gewinne in die Höhe treibt, all das mithilfe einer Benutzeroberfläche, die so intuitiv funktioniert, dass die Käufer ihren Kauf kaum mehr als solchen registrierten. Tolentinos Essay gipfelt schließlich in einer Schilderung des größten Betrugs, auf den die Generation der Millennials hereingefallen sei, des Wahlbetrugs, der Donald Trump zum Präsidenten machte.
Das empirische Material, das Tolentino für ihre Essays zusammengetragen hat, ist beeindruckend. Die Texte halten selbst den Lesern einen Spiegel vor, der sie zugleich als Opfer und Unterstützer eines Narzissmus sozusagen schmerzhaft zur überdeutlichen Kenntlichkeit entstellt. Damit reihen sich die Essays, deren Übersetzung ins Deutsche leider nicht immer zu überzeugen vermag, ein in die Phalanx so substanziell die Verführungen des Internets analysierender Bücher wie Jeroen Laniers Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst oder Edward Snowdens Permanent Record. Wenn im Nachwort ein Appell an die gesellschaftliche Verantwortlichkeit jedes Einzelnen bezüglich des eigenen Internetkonsums formuliert wird, geschieht dies auf der Grundlage einschneidender und profunder Erfahrung. Gefragt werden muss einmal mehr, wie sich das Ich aus seinen isolierenden und unbefriedigenden Spiegelungsabhängigkeiten, die in den Untiefen des Webs verführerisch bereit stehen, befreien kann, um zu befriedigenderen und fruchtbareren Formen notwendiger Anerkennung und Bestätigung zu finden.
Jia Tolentino: Trick Mirror. Über das inszenierte Ich (Aus dem amerikanischen Englisch von Margarita Ruppel). S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 368 S., 22 €.
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