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Ein neuer Roman macht die 80er Jahre in West-Berlin lebendig Keine Atempause, Geschichte wird gemacht…

Wie viele Metropolen dient auch Berlin häufig als literarischer Schauplatz. Nicht nur Romane wie Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin (1929), Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen (1932), Hans Falladas Jeder stirbt für sich allein (1947) oder Gabriele Tergits Effingers (1951) entfalten zugleich Panoramen der Stadt zu einer bestimmten Zeit. Auch in neueren Romanen wird Berlin zum Schauplatz, etwa in Teil der Lösung (2007) von Ulrich Peltzer oder in Wiener Straße (2017) von Sven Regener.

Wie das literarische Panorama jeweils entfaltet wird, hängt dabei maßgeblich von denen ab, die es entfalten, vom Milieu, dem seine Protagonisten entstammen oder dem sie sich zuschlagen. Dies zeigt sich auch an Aufprall, einem als Roman deklarierten Text über die bunt gemischte, nicht ausschließlich akademisch geprägte Hausbesetzerszene im West-Berlin der 80er Jahre, die hier aus einer ganz spezifischen, akademisch geprägten Perspektive geschildert wird.

Weder ein Memoir, noch eine Autobiografie haben sie schreiben wollen, erklärt die Autorin Karin Wieland in einem auf Spotify abrufbaren Podcast. Dass hier das Hilfsverb im Plural steht, ist kein Tippfehler. Denn »sie«, das sind die Sachbuchautorin Karin Wieland, der Soziologe Heinz Bude und die Künstlerin Bettina Munk. Die drei haben den Text gestaltet als erzählerisches Wechselspiel zwischen einem literarischen Wir, einer kommentierenden Hybridstimme, und zwei Ich-Erzählern Luise und Thomas. Dadurch ist ein zunächst sperrig wirkendes, rasch aber höchst faszinierendes Buch entstanden.

Aufprall erzählt rund ein Jahrzehnt West-Berliner Geschichte zwischen 1981 und der Wende. Die Lebenswege der vielen Figuren werden nicht nur nachgezeichnet, sondern ihr Tun wird häufig auch kommentiert. Die Erzähler haben bei allem Temporeichtum der Handlung, bei allen Verwicklungen ihrer Figuren das Material im Rückblick intellektuell so intensiv durchdrungen, wodurch die Gattungsbezeichnung »Roman« etwas irritierend wirkt, da immer wieder derart analytische Töne angeschlagen werden, dass der Text zwischen literarischer »Tür« und sozio-historiografischer »Angel« hängt. Genau das macht aber seinen Reiz aus: Was das punkige Hausbesetzer-Völkchen erlebt, das sich Anfang der 80er Jahre (wie ein Jahrzehnt später erneut) im kalten, zugigen West-Berlin einfindet, um ein anderes Leben zu führen – »eine Gruppe aufrührerischer Jungmenschen« –, ist nicht nur im Anekdotischen spannungsvoll und überraschend. Von überall her aus Westdeutschland kommend sind sie in Berlin gelandet, wie auf einem kalten Stern, allen voran Luise und Thomas, aber auch Soraya, Lenny, Michael, und all die anderen. Sie suchen in der Stadt nach bezahlbarem Wohnraum und finden diesen schließlich in einem Haus, das sie besetzen, kostenlos. Und genauso, wie sie sich das heruntergekommene und verwahrloste Haus eher schlecht als recht zu eigen machen, basteln sie an ihren Biografien und Beziehungen in einem Berlin der Brachen, der Drogen, der Sehnsucht nach einem Lebensgefühl, das sich von der hippiehaften 68er-Bewegung unterscheidet: »Berlin, das ist die Stadt mit den breiten Trottoirs, die viel Platz zwischen den Passanten lassen, mit den Mietshäusern, durch deren große Eingangstüren Langsame und Eilige verschwinden, und mit der Mauer, die teilt und eint. Eine Stadt aus Schutt, die zu einem Symbol der Politik des Kalten Krieges geworden war.«

»Ideologie des Unideologischen«

Der Aufbruch und Umbruch der jungen Leute auf diese »Insel im Osten, die sich selbst genügt«, wird durch Zufall zum buchstäblichen Aufprall – ausgerechnet an einer Autobahnausfahrt nahe des ehemaligen Konzentrationslagers Theresienstadt. Auf einer Autofahrt nach Prag verunglücken dort durch einen unaufmerksamen Fahrer eines Militärtransporters der Roten Armee Luise, Thomas, Elena und Soraya, letztere tödlich. Luise muss wochenlang in einem tschechoslowakischen Klinikum in Ústí nad Labem, einer tschechoslowakischen Industriestadt nahe der Grenze zur DDR bleiben, wo man sie unter Aufbietung aller ärztlichen Fähigkeiten mehr schlecht als recht wieder zusammenflickt. Die kühle Leichtigkeit der Figuren ist nach diesem Unfall dahin. Durch den Tod Sorayas und die Verwundung Luises erleben nicht nur die Reisenden einen Dämpfer, der Schock überträgt sich auch auf die Mitbesetzer im Haus, auf deren auf der »Ideologie des Unideologischen« gründenden Miteinanders, das in seiner Fragilität ohnehin ständig auf dem Prüfstand steht, und das aus dem Gestus der Systemverweigerung kaum je verlässlich sein könnte.

Die Jahre, die in Aufprall erinnert und reflektiert werden, sind Jahre der Abweichungen, des trial and error, in denen sich auch immer wieder Szenen abspielen, die sich wie Kabinettstückchen lesen, etwa jene, in der die Hausbesetzer mit dem jüdischen Eigentümer des besetzten Hauses so reden wollen, als müssten sie eine historische Schuld begleichen – was, erwartbar genug, komplett schiefgeht.

Ähnlich den vielen Steinchen in einem Kaleidoskop werden die Figuren von ihren Affekten, von ihren prekären Lebensverhältnissen und Kopflosigkeiten so geschüttelt, als würde ein Röhrchen mit bunten Steinen von einer fremden Kraft gedreht. Die sich dabei formierenden Bilder und Konstellationen wirken zufällig, aber nicht beliebig, die Kommentare der Erzähler kühl wie der Look, den Luise und die anderen Frauen in der Szene sich zurechtlegen: »Weit ausgeschnittene Pullover, breite Gürtel, Strings, Strapse und Heels waren angesagt. Auf kurze Röcke wollten wir auch im Winter nicht verzichten. (…) Mit Kleidern vom Flohmarkt kreierten wir einen glamourösen Schlampenchic. Irgendwas zwischen Monica Vitti und Madonna.«

Indem das Jahrzehnt voranschreitet, mendeln sich aus dem flüchtigen Kollektiv schließlich doch individuellere Lebenswege heraus: Luise will als Künstlerin nicht nur die männerdominierte Szene aufmischen, sondern eine neue Sicht auf die Kunst etablieren. Thomas sucht sich in akademischen Zirkeln und dem legendären Heinrich-Heine-Antiquariat Gewährstexte und ‑kontexte, aus illegalen Wohnverhältnissen werden solche mit Mietverträgen.

Indem die Erzählerstimmen nicht einfach rückblickend beschreiben, was sich im Leben ihrer Figuren zugetragen hat, sondern das Geschehen kommentieren und dabei manchmal bis in die Gegenwart vordringen, wie etwa in diesem Kommentar Luises: »Bilder wurden verschenkt, Skulpturen gingen verloren. Ihr Verlust hat mich nie geschmerzt. Bis auf eine Skulptur sind alle weg«; indem die Geschichte und Geschichten immer wieder in der Gegenwart verankert werden, entsteht bei aller Distanz der Erzähler zum Erzählten nie der Eindruck, dass die hier erzählte Vergangenheit abgeschlossen wäre.

Das befördert den Eindruck von der Aktualität des Historischen und von der Prägekraft dieser Jahre für die Biografien der Erzählenden. Der Ton der Stimme, mit der die detaillierten Beobachtungen, die musikalischen, geisteswissenschaftlichen Referenzen aufgerufen und historische Ereignisse wie der Reagan-Besuch 1982 und die Proteste gegen ihn wiedergegeben werden, entspricht in seiner Kühle und Härte der relativen Selbstgenügsamkeit der Protagonisten, die sich zwischen der Studentenrevolte und der Wende in einer paradox zeitgebundenen Zeitlosigkeit provisorisch einrichten. »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht« zitiert Aufprall zu Beginn eine Zeile des Songs Es geht voran der Band Fehlfarben von deren Album Monarchie und Alltag, das im Jahr 1980 erschien. Wer das Album nicht kennt, sollte es vor oder nach der Lektüre von Aufprall hören, um noch deutlicher zu verstehen, wie gut das Konvolut der hier erzählten Geschichten tatsächlich gemacht ist. Etwas Zeittypisches ist im Album der Fehlfarben wie auch im Text von Bude, Munk und Wieland so gut aufgehoben, dass es einem als individuell Erlebtes objektiver verständlich und dadurch umso nachvollziehbarer wird. Vergangenheit wird aktualisiert. Das klingt spröde, ist aber, auch und gerade im Abgründigsten und Kühlsten, oft glühend lebendig – weit mehr als so manches Geschichtsbuch, das von dieser Zeit berichtet.

Heinz Bude/Bettina Munk/Karin Wieland: Aufprall. Roman. Hanser, München 2020, 384 S., 24 €.

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