Eines muss man voranstellen: Die amerikanische Originalfassung des aktuellen Buches von Jason Brennan (Against Democracy) wurde noch vor der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA geschrieben, es ist also nicht aus der Verärgerung darüber geschrieben, dass die amerikanischen Wählerinnen und Wähler einen großmäuligen und unfähigen Bauunternehmer ins Weiße Haus beförderten. Zweifellos dient dieser Umstand aber der Verbreitung des Buches in Deutschland, welches nun, da sich alle Welt kopfschüttelnd über den demokratischen Gau in den USA erregt, in deutscher Übersetzung erschienen ist. Der Titel Gegen Demokratie ist zudem provokativ – und soll wohl auch provozieren. Auf den ersten rund 300 Seiten sammelt der Autor fleißig Beweismaterial für seine These, dass bei dem, was wir normalerweise unter Demokratie verstehen, von einer Regierung durch das Volk und für das Volk, keine Rede sein kann. Es sind vor allem zwei Argumente, die Brennan gegen das System der westlichen, genauer: der US-amerikanischen Demokratie ins Feld führt: Erstens, dass die Wähler in ihrer großen Mehrheit politisch völlig inkompetent sind und zweitens, dass der einzelne Wähler so gut wie keinen Einfluss darauf hat, was nach der Wahl mit seiner Stimme gemacht wird.
Die Inkompetenz der Wähler belegt Brennan mit einer Vielzahl empirischer Untersuchungen, aus denen hervorgeht, dass die allermeisten amerikanischen Wähler weder das zur Wahl stehende politische Personal kennen noch eine halbwegs klare Vorstellung davon haben, worum es bei den politischen Streitfragen geht. Der Autor unterscheidet zwischen drei Arten von demokratischen Bürgern, die er mit Namen versieht, die teilweise der Fantasy-Literatur entlehnt sind: Hobbits, Hooligans und Vulkanier. Die unwissenden und völlig unpolitischen Hobbits und die ebenfalls unwissenden, aber sich oft besonders engagiert gebenden Parteigänger, die er Hooligans nennt, machen nach Brennan mehr als 90 % der Wählerschaft aus. Wirklich politisch informiert und urteilsfähig ist nach seiner Einschätzung nur die winzige Minderheit der Vulkanier. Sie allein verhalten sich wissenschaftlich rational, d. h. sie beurteilen die zu Wählenden ausschließlich danach, was von ihnen als politischer Output im Sinne konkreter Problemlösung zu erwarten ist.
Wenn die vielen inkompetenten Menschen sich dennoch an den Wahlen beteiligen, so tun sie das nach Meinung des Autors in der Regel so, wie viele Menschen ihren Fußballclub unterstützen: aus blinder Parteinahme und Spaß an der Rangelei mit dem Gegner. Hobbits, die sich politisch für eine Partei engagieren, würden so in aller Regel zu Hooligans. Von einem politischen Bildungseffekt durch die Beteiligung an Wahlkämpfen und Wahlen könne gar keine Rede sein. Im Gegenteil: »Ich behaupte«, schreibt Brennan, »dass politische Partizipation für einen Großteil von uns überwiegend schädlich ist«. Was bei dem Wahlspektakel im demokratischen Vorzeigeland USA herauskommt, kommentiert er so: »Der durchschnittliche US-Senator hat ein Nettovermögen von fast 14 Millionen Dollar, und der durchschnittliche Abgeordnete im Repräsentantenhaus hat ein Nettovermögen von 4,6 Millionen Dollar. Im Gegensatz dazu hat der durchschnittliche amerikanische Haushalt ein Nettovermögen von weniger als 70.000 Dollar. Politische Ämter sind in den Vereinigten Staaten also reichen Personen vorbehalten.«
Lückenhafte Argumentation
Auch hier zeigt sich wie so oft in diesem Buch, dass der deprimierende Befund in der Tat kaum zu bezweifeln, dass aber die Schlussfolgerungen, die der Autor daraus zieht, alles andere als überzeugend sind. Zwar ist es tatsächlich hochwahrscheinlich, dass in einer Demokratie, die regelmäßig mehrheitlich Reiche und Superreiche in die Volksvertretungen spült, die Interessen der großen Mehrheit zu kurz kommen. Sollten wir jedoch deswegen, wie Brennan meint, »genauso, wie wir die Emissionen regulieren, um die Luftverschmutzung zu verringern, auch die Wahlbeteiligung regulieren, um die Wahlverschmutzung zu verringern?« Ist tatsächlich zu erwarten, dass Wähler, die zuvor ihre politische Kompetenz in standardisierten Prüfungen erwiesen haben, Volksvertretungen und Regierungen wählen, die eher den Interessen der Mehrheit dienen? Wäre es tatsächlich, wie Brennan behauptet, »besser für uns und für unsere Umwelt, wenn wir uns aus der Politik heraushielten«?
Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte es nicht für ein Sakrileg, wenn jemand die allzu oft gedankenlos beweihräucherte westliche Demokratie grundsätzlich infrage stellt, noch dazu, wenn er es so geistreich tut wie Jason Brennan. Aber gerade weil der Autor den Anspruch erhebt, anders als die vielen faden Lobredner der Demokratie allein auf die Kraft des Arguments zu vertrauen, muss er es sich auch gefallen lassen, dass man seine Argumentation auf Herz und Nieren prüft. Das fängt bereits bei dem Maßstab an, mit dem Brennan die Qualität der unterschiedlichen Regierungssysteme bemisst. »Ich (…) vertrete die Ansicht«, schreibt er gleich im ersten Kapitel, »dass die Demokratie ausschließlich instrumentellen Wert hat: Der einzige Grund, der Demokratie den Vorzug vor einem anderen politischen System zu geben, besteht darin, dass sie besser geeignet ist, gerechte Resultate zu liefern, die an verfahrensunabhängigen Maßstäben der Gerechtigkeit gemessen werden können.« Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn die Demokratie, wie Brennan zumindest für die USA nachweist, nicht zu gerechten Verhältnissen führt, sollte man sie abschaffen.
Ist die Sache so einfach? Mit seiner Konzentration auf den Output schiebt Brennan das Problem der Legitimität politischer Entscheidungen, insbesondere der Legitimation durch Verfahren, von vornherein als unerheblich beiseite. Stattdessen bemängelt er an vielen Stellen des Buches, dass der einzelne Wähler sich von seiner Wahlentscheidung keinen persönlichen Nutzen versprechen könne. Zwar räumt er beispielsweise ein, dass die Suffragetten, die das Frauenwahlrecht durchgesetzt haben, den Frauen als Gruppe mehr Macht verliehen hätten, »aber der einzelnen Frau gaben sie im Großen und Ganzen nicht mehr Macht über ihr Schicksal«. Offenbar unterschätzt Brennan, wie viele Liberale, die Bedeutung kollektiver Regelungen für die freie Lebensgestaltung des Einzelnen. Dass Wähler andere als eigennützige Interessen haben könnten, dass es ein Wählerinteresse an so etwas wie Gemeinwohl, d. h. an zivilisierten und gerechten Verhältnissen geben könnte, das keineswegs mit persönlichen Vorteilen identisch ist, scheint ihm weitgehend fremd zu sein. Was der Glücksforscher Bruno Frey den »Prozessnutzen« politischer Partizipation und Deliberation nennt, dass die Lebenszufriedenheit der Menschen nachweislich höher und die Neigung zu Gewalt geringer ist, wenn sie über ihre Belange mitbestimmen können, wird bei Brennan ausgeblendet.
Alternative Demokratiemodelle
Wie fragwürdig diese von vornherein verengte Sicht des Demokratieproblems ist, zeigt sich, wenn der Autor gegen Ende seines Buches auf seine »Alternative« zu sprechen kommt: die Epistokratie oder die Herrschaft der Wissenden. Er erwägt zwei Modelle: das Modell des amerikanischen Politologen Claudio López-Guerra und eine Kombination von allgemeinem Wahlrecht und epistokratischem Veto. Im ersten Modell wird aus der Gesamtzahl der Wahlberechtigten per Losverfahren eine sehr viel kleinere Gruppe sogenannter »Vorwähler« bestimmt. Diese Vorwähler werden wiederum in kleine Gruppen aufgeteilt und nehmen an einem »Kompetenzentwicklungsverfahren« teil, aus dem dann diejenigen als tatsächliche Wähler hervorgehen, welche die strenge Kompetenzprüfung bestehen. Im zweiten Verfahren werden wie bisher alle Bürger von einem bestimmten Alter an als Wähler zugelassen, aber ein »epistokratischer Rat« von Bürgern, die in einer besonders strengen Kompetenzprüfung ausgewählt wurden, hat die Macht, Gesetze aufzuheben und Entscheidungen zu verhindern oder aufzuhalten, die ihm verfassungswidrig oder einfach unklug erscheinen.
Offenbar neigt der Autor schließlich dem zweiten Modell zu. Freilich, so etwas wie den hier vorgeschlagenen epistokratischen Rat gibt es in den allermeisten der gescholtenen existierenden Demokratien schon heute. In den USA kann das oberste Gericht, der Supreme Court, in politische Entscheidungen des Präsidenten und des Kongresses eingreifen, in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht, in der EU der Europäische Gerichtshof eine vergleichbare Kompetenz. Eigentlich weisen alle westlichen Demokratien solche institutionellen Beschränkungen von Mehrheitsentscheidungen und von Regierungshandeln auf, weshalb die Angriffe auf die unabhängige Justiz, die Presse- und Meinungsfreiheit – wie sie heute in Ungarn und Polen erfolgen – in Europa nahezu einhellig als Angriff auf die Demokratie angesehen werden.
Bei der Lektüre des Buches Gegen Demokratie kann man schließlich den gleichen Eindruck gewinnen, der auch bei der Lektüre von David Van Reybroucks Gegen Wahlen entstehen kann: Die offenbaren Unzulänglichkeiten der westlichen Demokratie provozieren den Autor zur Behauptung einer fundamentalen Gegenposition, die er selbst am Ende nicht durchhalten kann, sodass das, was mit großer Geste als Alternative angeboten wird, bestenfalls als eine Teilverbesserung des Bestehenden infrage kommt. So räumt auch Brennan am Ende seines Buches sogar ein, dass die Epistokratie womöglich nicht besser funktionieren würde als das bestehende System, weshalb er vorschlägt, zunächst einmal in einem Bundesstaat der USA mit »Wählerzulassungsprüfungen zu experimentieren«. Das mag dem einen oder der anderen vielleicht als ein gangbarer Kompromiss erscheinen. Allerdings stellt sich da natürlich sofort die Frage, wer außer den »inkompetenten« Wählern denn über die Durchführung eines solchen Experiments entscheiden soll, wer die Kriterien festlegt, nach denen die demokratische Reife der Wähler bestimmt wird und wie man verhindert, dass auch hier wieder bildungsbürgerliche Vorurteile und Einzelinteressen das Ergebnis beeinflussen.
Was bleibt als Fazit nach 464 Seiten geistreicher und zuweilen sogar witziger Gedankenarbeit? Es lohnt sich, immer mal wieder über die Grundlagen der modernen Demokratie nachzudenken. Es wäre wünschenswert, wenn dabei praktikablere Verbesserungsvorschläge zutage träten. Wir sollten aber nicht vorschnell Totalalternativen versprechen. Denn es könnte ja durchaus sein, dass Winston Churchill doch recht hatte, als er sagte: »Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.«
Jason Brennan: Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Ullstein, Berlin 2017, 464 S., 24 €.
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