Manche haben gleich 16 davon, und fahren entsprechende Fotomotive auf den örtlichen Straßenbahnen spazieren. So etwa die Stadt Frankfurt am Main: Man begegnet Straßenbahnen mit Motiven der Partnerstädte Tel Aviv und Lyon unvermittelt, wenn man in der Stadt unterwegs ist, und bekommt dann vielleicht gleich ein bißchen Fernweh. Doch bei der Idee der Städtepartnerschaft geht es um weit mehr als um Tourismus und Freizeitvergnügen. Die Aktivitäten innerhalb der Städtepartnerschaften spannen heute von freundschaftlichen Begegnungen bis hin zur konkreten inhaltlichen Arbeit einen weiten Bogen. Für viele Menschen ist der Austausch über eine Städtepartnerschaft der erste Auslandsaufenthalt überhaupt. Insbesondere der Verwaltungsaustausch, in dessen Rahmen aktuelle Städteprobleme wie Migration, Demografie, Städtebau, Nachhaltigkeit diskutiert werden, sind wichtig, aber auch kulturelle Gepflogenheiten und Erfahrungen werden hier nachvollziehbarer.
Die Idee, dass Städte sich in dieser Form miteinander verbinden, entstand nach 1945. Man wollte den Verwerfungen und Verletzungen, die zwei Weltkriege hinterlassen hatten, etwas entgegensetzen. Verbunden mit der Idee der Städtepartnerschaft, die auch Gemeindepartnerschaft oder Jumelage genannt wird, ist das Ziel, sich kulturell und wirtschaftlich auszutauschen, die Partnerschaften sind ein wichtiges Instrument kommunaler Außenpolitik.
Den Verletzungen zweier Weltkriege etwas entgegensetzen.
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs luden Engländer, Amerikaner und Kanadier kommunale Vertreter in ihre Heimatländer ein, um ihnen dort einen Einblick in eine auf demokratischer Grundlage funktionierende Kommunalverwaltung zu gewähren und Kommunen als Orte der Demokratie zu stärken und etwas gegen neue kriegerische Auseinandersetzungen zu tun. Daraus entstanden Partnerschaften zwischen englischen, französischen und deutschen Städten.
Die meisten Partnerschaften bestehen zwischen Städten verschiedener Länder, im Mittelpunkt stehen die Bürger und Bürgerinnen der Städte selbst, die wechselseitig reisend unterwegs sind, im Rahmen von Austauschbeziehungen, die in der Regel auf einem zeitlich und sachlich nicht begrenzten Partnerschaftsvertrag beruhen. Wie viele deutsch-internationale Städtepartnerschaften es gibt ist nicht genau bekannt, auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) ist die Rede von »5.497 deutsch-internationalen Städtepartnerschaften (Stand 2018, es handelt sich dabei um freiwillige Angaben der Kommunen, dementsprechend wird die Zahl realiter höher sein). Dabei werden vom Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) die deutsch-deutschen Städtepartnerschaften, insbesondere die zahlreichen ost-westdeutschen Städtepartnerschaften nicht mitgezählt, deren Anzahl sich nochmals um ca. 1.000 bewegen dürfte«.
Göttingen und Thorn – ein stimmiges Paar
Ein Beispiel für eine langjährige und fruchtbare Städtepartnerschaft ist die zwischen Thorn [auf Polnisch: Toruń] und Göttingen. Im Jahr 1978 haben sich die Städte als zweite deutsch-polnische Städtepartnerschaft in der Bundesrepublik Deutschland verbunden. Thorn ist bekannt für die gut erhaltene mittelalterliche Altstadt, für den Astronomen Nikolaus Kopernikus und den traditionellen Lebkuchen – Göttingen für die lange Universitätsgeschichte, den Mathematiker und Astronomen Carl Friedrich Gauß und ebenfalls für eine gut erhaltene Altstadt. Junge Menschen prägen das Innenstadtbild beider Städte, ein lebendiges kulturelles Leben ist beide gemeinsam und eine hohe Vielfalt an kulturellen Einrichtungen. Sie passen also gut zusammen. Im jährlichen Austausch von Menschen, in gemeinsamen Begegnungen auf kultureller, sportlicher oder wirtschaftlicher Ebene wird die Partnerschaft gelebt.
Gegründet wurde die Städtepartnerschaft gegen Widerstände. Im Angesicht des heute so selbstverständlich wirkenden Austauschs zwischen den Städten ist die emotional geführte Debatte um die Annäherung zwischen Deutschland und Polen im Kalten Krieg fast vergessen. Und trotzdem steht im Kern der Partnerschaft unverkennbar eine Generation, die geprägt war vom Krieg oder zumindest von der Nachkriegszeit, deren Handlungsantrieb es war, durch Kommunikation, Austausch, Kennenlernen der nächsten kriegerischen Auseinandersetzung entgegenzuwirken. Geschlossen wurde das Bündnis, um Versöhnung und Zusammenarbeit zu fördern – eine politische und symbolische Geste.
Die anfänglichen Kämpfe auf institutioneller Ebene sind heute nicht mehr spürbar. Besuche und Gegenbesuche von Stadtpräsident*innen und Oberbürgermeister*innen sind eine Selbstverständlichkeit. Schwieriger als in den Anfängen gestaltet sich heute hingegen die bürgerschaftliche Ebene. Die ehemals engagierten Mitstreiter*innen sind weggebrochen, neue werden kaum gefunden. Der Austausch ist schwer zu organisieren. Das Interesse der jungen Menschen auf beiden Seiten ist gering: Es locken entferntere Reiseländer, die gegenseitige Sprache wird in der Schule nicht gelehrt, neue Nationalismen verstärken das Gefühl der Grenze. Bundesweit unterliegen deutsch-polnische Städtepartnerschaften dem Problem der Nachwuchsgewinnung.
Eine Städtepartnerschaft ist eine Form, die immer wieder neu lebendig werden muss. Die Änderungen politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen setzten die Herausforderungen für neue Anpassungen. Der EU-Beitritt Polens, die Reisefreiheit, die durch EU-Fördermittel beschleunigte bauliche Veränderung der Stadt Thorn sind nur einige der Faktoren, auf die die Partnerschaft in den letzten Jahren reagieren musste, um lebendig zu bleiben. Für Städtepartnerschaften ist es nicht einfach, auf solche Veränderungen zu reagieren. Sie sind stark formalisierte Konstrukte, müssen viele Partner*innen mitdenken und ihnen ist im Zusammenspiel zwischen ehrenamtlichem Engagement und Abläufen in einer öffentlichen Verwaltung oft ein langsames Entwicklungstempo zu eigen. Tausende von Städtepartnerschaften ringen mit ähnlichen Herausforderungen. Zwischen hoch aktiven rein ehrenamtlich getragenen Städtepartnerschaften, stark durch Verwaltungen geleiteten Organisationsstrukturen und schon gänzlich eingeschlafenen Zeugen der Vergangenheit findet sich nahezu jede Ausformung in der bundesweiten Landschaft städtepartnerschaftlichen Zusammenspiels.
Die Partnerschaft zwischen Thorn und Göttingen ist eine intensiv geführte und gelebte Verbindung. Es vergeht kein Jahr ohne Besuch und Gegenbesuch, auf der Arbeitsebene gibt es zahlreiche aktive Kontakte, es herrscht ein Austausch in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Für die langfristige Stabilität und Lebendigkeit dieser Partnerschaft spielt der Samuel-Bogumił-Linde-Literaturpreis, den die beiden Städte seit 1996 jährlich verleihen, eine große Rolle.
Gemeinsamer Literaturpreis
Der Preis wird jeweils an eine*n polnische und eine*n deutsche Autor*in verliehen. Gewürdigt werden mit diesem Preis hervorragende literarische Leistungen in Lyrik, Prosa, Drama, Literaturkritik, Publizistik, Übersetzung oder Edition. Es werden Autor*innen ausgezeichnet, die mit ihrer Literatur Menschen, Gesellschaften und Nationen zum gemeinsamen Gespräch führen. Die Vergabe erfolgt abwechselnd in Göttingen und Thorn. Auf der Liste der Preisträger*innen finden sich international bekannte Größen und literarische Entdeckungen, quer durch alle literarischen Gattungen, gibt sie ein Zeichen der wechselreichen Debatten in der Preisjury über die Jahre.
»Die Kontinuität der Preisverleihung gibt der Partnerschaft Gewicht«
Allein die Kontinuität dieser Verleihung gibt der Partnerschaft Gewicht. Regelmäßig wird die Bevölkerung zur Preisverleihung und den Lesungen der Preisträger*innen geladen, besuchen Delegationen aus Künstler*innen und Vertreter*innen aus Politik, Kultur und Verwaltung die Partnerstadt im Rahmen der Preisverleihung. Mit ebensolcher Regelmäßigkeit werden die Partnerstädte durch die Verleihung des Preises medial für die jeweilige Bevölkerung sichtbar. Bei jedem Besuch entstehen neue Kontakte, Netzwerke und gemeinsame Ideen. Die gemeinsame Verleihung des Preises erweist sich auf verschiedenen Ebenen als Stabilisator in den wechselhaften Umbrüchen der Städtepartnerschaftsgeschichte. Durch die Jahrzehnte ist sie Anreiz und Grundlage für Kontaktaufnahmen, erzeugt Kontinuität. Die Debatten über die Preisträger*innen und die Literatur befördern immer wieder auch den inhaltlichen Austausch über die beiden Gesellschaften, ihre inhaltlichen und strukturellen Besonderheiten.
Die Preisträger*innen werden durch eine Fachjury benannt. Der Preis soll auch die Grenzüberschreitung von Literatur befördern. Soll die Autor*innen dabei unterstützen, über ihren eigenen sprachlichen Wirkungskreis hinaus bekannt zu werden. Er schafft eine Repräsentation des polnischen literarischen Schaffens in der deutschen Gesellschaft und umgekehrt. Im besten Fall hilft er dabei, einen neuen Leser*innenkreis zu erschließen, Übersetzungen zu erhalten, im anderen Land veröffentlicht zu werden.
Das sehr konkrete städteübergreifende Projekt einer gemeinsamen Preisverleihung, das im Ursprung als Ausdruck der guten Zusammenarbeit zwischen den Städten gedacht war, führt in Zeiten, in denen die Zusammenarbeit kein Selbstläufer ist, zum Fortlauf, zur Verstetigung der gemeinsamen Arbeit. Es hält Arbeitsprozesse und Auseinandersetzungen in Gang, dient in der konkreten Zusammenarbeit dazu, dass Umbrüche geschafft werden, indem neue Generationen an der Zusammenarbeit beteiligt werden. In der Traditionslinie der bisherigen Preisträger*innen führt sich die Grundintention des Preises jährlich fort. Mit der Auswahl neuer Preisträger*innen wird das Projekt in die Zukunft verlängert und verjüngt sich durch die Positionen neuer Autor*innen.
Der Lindepreis ist zum Garanten des Fortbestandes der Städtepartnerschaft zwischen Göttingen und Thorn geworden. Er ist zentraler Bestandteil der Städtepartnerschaft, ein Projekt unter vielen möglichen, unter vielen noch in den kommenden Jahren zu entwickelnden und hoffentlich noch entstehenden, aber eben eines, das durch Kontinuität, Tiefe der Gespräche, der inhaltlichen Auseinandersetzungen und der Bereitschaft, die andere Kultur wahrzunehmen, als Rückgrat der Partnerschaft eine Stütze sein kann. Auch für schwierigere Zeiten, die vielleicht noch kommen mögen.
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