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picture alliance/dpa | Thomas Banneyer

Deutschland braucht eine aktive Industriepolitik des Staates – auch gegen Widerstände Kontaminierte Debatte

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Global operierende Konzerne wie Siemens, Mercedes, BASF, Bayer, ThyssenKrupp, Bosch, Continental, ZF oder Volkswagen repräsentieren stolze Industriegeschichte, die oft mehr als 100 Jahre zurückreicht. Doch diese Industrieunternehmen symbolisieren weit mehr: Sie sind weltweit ein Sinnbild für »Made in Germany«, sie haben den internationalen Ruf deutscher Ingenieurskunst und Innovationsfähigkeit begründet, und sie sind für viele auch ein Grund für Stolz und nationales Selbstbewusstsein.

In jüngster Zeit jedoch setzen die Zentralen der deutschen Industrie vorwiegend Hiobsmeldungen ab. Das Gespenst der Deindustrialisierung geht um! Und es sind nicht mediale Schwanengesänge sondern reale Gefahren für die (noch) drittgrößte Volkswirtschaft der Welt: Wir sehen eine anhaltende Schwäche der Industrieproduktion bereits seit 2017, einen Abbau von Industriearbeitsplätzen, drohende Werksschließungen und die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland, eine Zunahme von Firmenpleiten und insgesamt eine Abnahme des Wertschöpfungsanteils der Industrie an der Gesamtwirtschaft. Viele haben den Ernst der Lage mittlerweile erkannt und mahnen entschlossenes Handeln an. In der Zielsetzung besteht zwischen den Parteien kaum noch Dissens: Deutschland muss Industrieland bleiben. Politisch kontrovers ist allerdings, wie den Gefahren einer Deindustrialisierung konkret begegnet werden müsste und welche Instrumente dafür in Betracht kämen.

Zunächst: Die deutsche Wirtschaft insgesamt befindet sich in einem Krisenmodus. Während sich in vielen europäischen Ökonomien, in China und besonders in den USA nach Pandemie, Energiekrise und Rekordinflation mittlerweile wieder ansehnliche Wachstumsraten eingestellt haben, kommt die deutsche Wirtschaft nicht vom Fleck. Nach der Schrumpfung beim Wachstum in den Vorjahren (2023: – 0,3 Prozent; 2024: – 0,2 Prozent) droht auch für das Jahr 2025 ein abermaliger Rückgang der Wirtschaftsleistung. Und selbst wenn die Regierungsprognose eines marginalen Wachstums eintreten sollte, bliebe ein kräftiger Aufschwung in weiter Ferne.

Obwohl die konjunkturellen, strukturellen und geopolitischen Ursachen der wirtschaftlichen Probleme mit Inflation, gestiegenen Energiepreisen, Fach- und Arbeitskräftemangel, hoher Sparneigung, Investitionszurückhaltung, zunehmendem Protektionismus und verschärftem internationalen Wettbewerb allgemeiner Natur sind, fokussiert sich die kontroverse politische Debatte verstärkt auf das Thema Industriepolitik und die Rolle des Staates.

In der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 war die deutsche Indus­trie noch ein stabilisierender Faktor für die schnelle Erholung nach dem tiefen Einbruch infolge der Lehman-Pleite. Während seit 2000 der Anteil der Indus­trie an der Bruttowertschöpfung in fast allen Ländern geschrumpft ist, konnten sich Deutschland (bis 2017) und China von diesem Trend abkoppeln. Im Vergleich zeigt sich die Dominanz der deutschen Industrie im Anteil an der Bruttowertschöpfung: in Deutschland rund 20 Prozent, in Japan etwa 18 Prozent, in den USA nur 13 Prozent.

»Das politische und gesamtgesellschaftliche Interesse an einer Stabilisierung der deutschen Industrie ist verständlich.«

Da es sich in der deutschen Industrie um hochwertige Arbeitsplätze mit vergleichsweise guter Bezahlung handelt, der Sektor eine hohe Beschäftigung garantiert, die Unternehmen zu den größten Steuerzahlern des Landes gehören, die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Sektors noch einmal verstärkt wird durch die Nachfrage nach allerlei Vorprodukten, vor allem aber die Industrie und speziell die drei deutschen Autohersteller die höchsten Ausgaben für Forschung und Entwicklung (Innovationen) leisten, ist das politische und gesamtgesellschaftliche Interesse an einer Stabilisierung der deutschen Indus­trie berechtigt.

Seit gut einem Jahrzehnt vollziehen sich gravierende Verschiebungen auf den Weltmärkten. Obwohl der Industrieanteil an der deutschen Bruttowertschöpfung schon ab 2017 rückläufig war, konnte sich die stark exportorientierte deutsche Industrie dennoch behaupten. China hat im verarbeitenden Gewerbe seinen Anteil an der weltweiten Bruttowertschöpfung ausbauen können. In etwas mehr als einer Dekade hat China die Spitzenposition übernommen und mit »Made in China 2025« den Wandel von der Werkbank zu einer Supermacht in der industriellen Produktion geschafft. Den USA ist es während der ersten Trump-Präsidentschaft und in der Zeit der Biden-Administration mit dem »Inflation Reduction Act« gelungen, Industriearbeitsplätze in die USA zurückzuholen oder neue Produktion anzusiedeln.

Trotz aller systemischen Unterschiede und ungeachtet geopolitischer Spannungen weisen die USA und China in ihren industriepolitischen Ansätzen mit einer Mischung aus protektionistischen, nationalistischen und keynesianischen Elementen einige Ähnlichkeiten auf. Jedenfalls spielt der Staat in beiden Fällen eine zentrale und wichtige Rolle. Während China eine führende Rolle bei Green Tech (Dekarbonisierung) einnimmt, haben die USA klar die Nase vorn bei Big Tech (Digitalisierung). Deutschland und Europa drohen derweil in beiden Zukunftsfeldern zurückzufallen.

In Deutschland zeichnete sich angesichts dieser Entwicklungen vor der neuen Regierungsbildung lagerübergreifend ein Konsens zumindest bei einigen Überschriften ab:

»Staatlich subventionierte Preisdeckel könnten Wirtschaft und Privathaushalte entlasten.«

Erstens: Die Energiepreise in Deutschland sind international nicht wettbewerbsfähig. Bis heute konnte der Ausfall der Gaslieferungen aus Russland zwar stofflich durch LNG-Importe kompensiert werden, nicht aber preislich. In Deutschland sind die Netzentgelte und die Kosten für die Übertragungsnetze zu hoch. Staatlich subventionierte Preisdeckel könnten Wirtschaft und Privathaushalte entlasten. Zudem sollte in der gegenwärtigen Phase der Transformation für einen erweiterten Kreis von Unternehmen ein gesonderter Industriestrompreis eingeführt werden.

Zweitens: Deutschland leidet unter einer eklatanten Investitions- und Innovationsschwäche. Unser Land lebt von der Substanz und investiert zu wenig in seine Zukunftsfähigkeit. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) beziffert den Investitionsbedarf in Deutschland bis 2030 auf 1,4 Billionen Euro; das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) geben allein zur Modernisierung der altern­den Infrastrukturen eine öffentlich zu finanzierende Summe von 600 Milliarden Euro für denselben Zeitraum an.

Drittens: Das Angebot an Arbeitskräften muss durch Qualifizierung, Aus- und Weiterbildung von bereits in Deutschland lebenden Personen und ergänzt durch gezielte Zuwanderung von Fachkräften ausgeweitet werden.

Viertens: Die aktuelle Auslegung der im Grundgesetz seit 2011 geregelten Schuldenbremse ist falsch konstruiert und zu dogmatisch. Eine neue, an die veränderte globale Situation angepasste Regelung, die wirtschaftliches Wachstum unterstützt, ist dringend erforderlich. Ein sinnvoller Kompromiss könnte darin bestehen, die frühere Regelung aus dem Grundgesetz zur staatlichen Verschuldung, die sogenannte »Goldene Regel«, zu reaktivieren. Damit wären Kreditaufnahmen für konsumtive Zwecke weiterhin ausgeschlossen.

Bei diesen Themen sind die Unterschiede zwischen den Parteien nicht so groß, dass es in etwaigen Koalitionsverhandlungen nicht zu Verständigungen kommen sollte, auch wenn um konkrete Instrumente und Umsetzungen heftig gerungen werden dürfte. Diese Forderungen an eine »staatliche Industriepolitik« sind indes nicht nur ob ihrer Konsensfähigkeit wohlfeil, sie ergeben faktisch nicht mehr als eine »halbierte Industriepolitik«, die zwar notwendige Entlastungen für Unternehmen und Industrie bewirken können, aber gravierende strukturelle Probleme in der industriellen Transformation unbearbeitet lassen.

»Halbierte Industriepolitik« ist limitiert, sie kann vielleicht Marktversagen zu Teilen korrigieren, die allgemeinen Rahmenbedingungen verändern und Unternehmen kostenseitig Entlastungen bieten. Aber sie greift deutlich zu kurz, wenn in der Transformation zu einer dekarbonisierten und digitalisierten Wirtschaft substanzielle Fortschritte erzielt werden sollen und müssen. Niedrigere Energiekosten wären für Unternehmen und Privathaushalte ohne Zweifel ein Segen, doch »grüne Leitmärkte« lassen sich so noch nicht entwickeln. Dann sind Kosten nur ein Faktor, dann geht es zuallererst um Wertschöpfungsketten, um deren Beherrschung und Lokalisierung.

Missionsorientierte Industriepolitik

Auch in Deutschland braucht es also eine »missionsorientierte Industriepolitik«, deren Kernelement die Verfolgung eines demokratisch festgelegten, übergreifenden Ziels ist, das gesamtgesellschaftlichen Nutzen stiftet. Dieses zu definierende Ziel sollte sektorübergreifend sein und im Prozess positive Spillover-Effekte auf andere Bereiche entfalten, die wiederum Innovationen und Wachstum begünstigen. Benjamin Mikfeld hat in der Ausgabe 11/2024 der NG|FH diesen Ansatz zutreffend herausgearbeitet.

»Insbesondere China steht beispielhaft für eine erfolgreiche und geostrategisch ausgerichtete Industriepolitik.«

Insbesondere China steht beispielhaft für eine im Grundsatz erfolgreiche und geostrategisch ausgerichtete Industriepolitik. Bereits 1996 hat das Land einen nationalen Entwicklungsplan für erneuerbare Energien verabschiedet. Bei der Entwicklung, Produktion und beim Absatz von »grünen Technologien« wie Photovoltaik, Windenergie, Elektroautos und Batterien strebte China eine führende internationale Rolle an. Mit der Transformation zu neuen Technologien und zur schrittweisen Dekarbonisierung der Wirtschaft wollte China auch den Status als »verlängerte Werkbank« aus den frühen Zeiten nach der Marktöffnung überwinden und in der Wertschöpfung eine zentrale Position einnehmen. Am Beispiel der Elektromobilität lässt sich sehr anschaulich zeigen, dass die chinesischen Erwartungen aufgegangen sind. Die aktive staatliche Industriepolitik, eingeleitet vor rund 20 Jahren, hat wesentliche Ziele erreicht: Eine neue Technologie konnte etabliert werden, das Kaufverhalten der Verbraucher hat sich angepasst, ein neuer »grüner« Markt wurde kreiert. Mehr noch: China ist führend bei Elektroautos.

Auch die zweite zentrale Dimension der wirtschaftlichen Transformation – die Digitalisierung – darf keinesfalls vergessen werden. Während die Dekarbonisierung von Industrieprozessen zumindest aus traditioneller deutscher Sicht einer gewissen Pfadabhängigkeit folgt, erfordert die Digitalisierung einen wirklichen Paradigmenwechsel. Deutschland tut sich hier nach wie vor schwer. Beim Thema Software und KI scheinen uns China und die USA aktuell enteilt zu sein. Auch beobachten wir hier ein neues Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik gerade in den USA. Denn anders als in der Dekarbonisierung, wo vor allem staatliche Mittel als Katalysator fungieren, zeigt sich bei der jüngsten Ankündigung von Präsident Trump zur 500 Milliarden Dollar umfassenden Stargate-KI-Initiative, dass es vor allem private Mittel sind, die die Entwicklung treiben. Der Staat flankiert mit schnellen Genehmigungen und einer klaren politischen Zielrichtung. Wenn wir in Deutschland und Europa ebenfalls »digitale Champions« entwickeln wollen, müssen wir auch Anreize für private Investitionen unbedingt verbessern. Hier kann der Staat wichtige Impulse geben.

Industriepolitik konsequent zu Ende denken

Jedoch ist in Deutschland die Diskussion um eine aktive Industriepolitik des Staates kontaminiert. Dann wird an Glaubensfragen gerüttelt; dann geht es um das Ganze, um das Verhältnis von Markt und Staat. Aber: Um neue Märkte für »grüne« Produkte und Technologien zu entwickeln, braucht es staatliche Intervention, denn es handelt sich um politisch definierte und gewollte Märkte, die entstehen sollen.

Die Klimagesetzgebung mit ihren mittel- und langfristig disruptiven Klimazielen bleibt ohne eine vernünftige Steuerung in der Industrie- und Technologiepolitik letztlich inkonsequent, wenn nicht voluntaristisch. Eine theoretisch denkbare Steuerung mittels der marktwirtschaftlichen Instrumente einer CO2-Bepreisung oder einer CO2-Steuer kann punktuell, gerade bezogen auf das spezifische Verbrauchsverhalten von Kunden, sinnvoll sein, aber die gesamte Anpassung einer technologischen Transformation hierüber vorzunehmen, würde zu sozialen Verwerfungen und gesellschaftlichen Konflikten führen.

Industriepolitik konsequent zu Ende gedacht heißt also, über einzelne Anreize hinauszugehen und auf integrierte Wertschöpfungsketten abzuzielen. Ein erster Schritt bestünde darin, jene Branchen zu definieren, die in Deutschland produzieren sollen. Der SPD-Präsidiumsbeschluss nennt Stahl, Automobile, Maschinen- und Anlagenbau, Chemie, Pharma, Halbleiter und Batteriezellen. Diese Liste ist durchaus begründet und überzeugend. Wenn es aber nicht nur – wie im Bündnis »Zukunft der Industrie« von 2014 – bei pathetischen Floskeln von der Industrie als dem »Stabilitätsanker, Innovationskern und Wachstumstreiber der deutschen Wirtschaft« bleiben soll, muss für die industriellen Zukunftssektoren, auf die Deutschland nicht verzichten will, der Staat eine Defizit- und Bedarfsanalyse vornehmen, um sicherzustellen, dass in diesen Feldern Produktion durch deutsche oder durch ausländische Unternehmen in Deutschland erfolgt. Klassische Angebots- und Nachfragepolitik behält ihre Bedeutung, ist aber nicht geeignet, um neue »grüne« Märkte zu kreieren und zu entwickeln. Das kann nur der Staat – und der nur im engen Zusammenspiel mit den Marktakteuren.

(Der Text stellt die persönliche Meinung des Autors dar.)

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