Liebe Bundesregierung,
ich solle Ihnen etwas ins Stammbuch schreiben, sagt man. Und schon beginnt das Elend. Die Idee »Person des Kulturlebens fordert die Regierung zu XY auf«, wirkt fast rührend im Jahr 2025. Und dann noch »Stammbuch«? Weil das hier »schon immer« so gemacht wurde und wir wie selbstverständlich in patriarchalen Sprachwendungen verharren, sprich: sie unseren sozialen Austausch bestimmen lassen? In Stammbüchern notierten i.d.R. Männer (Staatsdiener, Stammhalter) Botschaften für Männer (Stammhalter). Die gezeichneten Linien schlossen Frauen aus.
Den Teufel werde ich tun. Misogynie ist kulturell bedingt. Die weiterhin herrschende Ungleichbezahlung von Männern versus nichtmännlichen Personen ruht ihr auf. Frauenverachtung wird durch kulturelle Praktiken weitergegeben und gefestigt. Sie kann durch sie aber auch kritisch befragt, unterlaufen und ausgesetzt werden. Ich wünsche mir eine Kulturpolitik, die letzteres deutlich unterstützt. Angesichts der gefährlichen Formen, die Frauenhass in der virtuellen und realen Welt annimmt, ist diese Aufgabe dringlich.
Ich wünsche mir eine Kulturpolitik, die kulturelle Praktiken kritisch befragt.
Soziale Regeln verkörpern sich in Sprache. Sie ist ein Kulturinstrument; sie bestimmt in wesentlichen Aspekten mit, wie wir zueinander stehen. Statt sich aufzuwerfen und »ins Stammbuch zu schreiben« bietet sie immer auch Raum für Respekt und Dialog. Es ist Teil unserer kulturellen Bildung, diese Räume (und ihre Verstellung z.B. durch Althergebrachtes) zu erkennen und zu schützen. Statt »Stammbuch« schreibe ich Ihnen einen Brief – eine Einladung zu einem Gespräch.
Doch werden Sie antworten? In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, wenn etwa Heinrich Böll oder Günter Grass die Stimme erhoben, wurde es laut; Tageszeitungen und Fernsehen berichteten. Kultur, gerade auch die Buchkultur, war ein Leitmedium der gesellschaftlichen Selbstverständigung. Heute kommt einem das wie ein Märchen vor.
Selbstzweifel kommen hinzu. Wer bin ich, dass ich etwas zur Kulturpolitik zu sagen hätte? Nun, vielleicht eben dies: eine Person, die nicht aus angenommener Prominenz-Autorität oder dem Gefühl heraus, es besser zu wissen, zu Ihnen spricht. Geboren in eine Flüchtlingsfamilie, aus prekären Verhältnissen stammend, weiß ich, wie es sich anfühlt, nicht »wirklich« dazuzugehören. Meinen Zugang habe ich mir erkämpft. Nach 30 Jahren Praxis im Literaturbetrieb schreibe ich Ihnen als eine beobachtungsgeschulte Frau, die aus eigener Anschauung kennt, was passiert, wenn man Kultur ausdünnt, angefangen bei den Bildungsprogrammen der Schulen, die als Lehrende an deutschen, europäischen und internationalen Universitäten aus erster Hand weiß, welche mentalen Folgen Kultur-»Reduktions«-Programme zeitigen. Eine, die sich vor den Feuern fürchtet, mit denen wir zündeln.
Kulturpolitik? Politik!
Genug der Vorrede. Doch man kann ein Gespräch, das sich genuin um Erkenntnis und Austausch bemüht, nicht führen, ohne offenzulegen, woher man spricht. Dies ist ein Stück Gesprächskultur. Damit haben wir begonnen. Doch bei näherem Nachdenken scheint es unmöglich mich zu »Kulturpolitik« zu äußern. Die Abspaltung einer »Kultur«-Politik will ich nicht mitvollziehen. Folgt man ihr, ist man die schiefe Bahn schon halb hinuntergerutscht. Billig ist der Konsens zu haben, dass man Kultur brauche – wert ist er nichts. »Die Kultur« (als gäbe es sie, als wäre das nicht immer ein Plural) erscheint als jenes Token, das man kürzen, einstreichen, (so gut wie) abschaffen kann.
Der Gegensatz Kultur/Soziales ist falsch. Kulturpolitik bedeutet Zukunftsverantwortung. Kultur ist, was uns zu Menschen macht. Uns dazu befähigt, sprachlich, musikalisch, künstlerisch verhandelnd, Fremdes anzuerkennen und achtsam miteinander umzugehen. Das gelingt nicht von »selbst«; wir müssen dazu erzogen, lustvoll angehalten, dafür gewonnen werden. Auch Bildung und Kultur lassen sich nicht voneinander trennen. »Kultur« ist ein Name für unsere Arbeit an unserer Wahrnehmung, an Geistesfreiheit, an mentaler, psychischer und physischer Beweglichkeit. Sie setzt Begegnungen und Austausch voraus; sie übt sie ein. Kultur ist das Instrument, mit dessen Hilfe wir Proben auf unsere Wirklichkeiten erstellen. Sie erlaubt uns, das Wirkliche im Horizont vorstellbarer Alternativen erscheinen zu lassen. Kulturpolitik kann als essentieller Teil der Außenpolitik verstanden werden, allemal des Zweiges »Diplomatie«.
Wie der Literaturwissenschaftler Martin Puchner in seinem jüngsten Buch Kultur. Eine neue Geschichte der Welt in 15, durch die gesamte Menschheitsgeschichte reichenden Fallstudien eindrücklich zeigt, ist sie als globaler Kleb- und Verbindungsstoff unersetzlich. Unersetzlich als Mittel gegen Nationalismus und Unterdrückung. Auch im Namen der Kultur fanden und finden Übergriffe, Diebstähle, Unterdrückung statt. Doch die Möglichkeit des Missbrauchs ist kein Einwand; sie bezeichnet eine Aufgabe.
Im Frühjahr 2025, einer Zeit ungelöster bewaffneter Konflikte in unserer Nachbarschaft, heftiger politischer Umbrüche, zunehmender Aufpeitschungen des politischen Klimas durch extreme, von manipulativen Fake News durchsetzte Rhetoriken, ist internationale kulturelle Verständigung essentiell. Sie setzt ein Myzel voraus, aus dem zeitgenössische Kulturen wachsen können, so kritisch wie explorativ, so akut wie aktuell, ohne geschichts- oder traditionsvergessen zu sein. Dieses Myzel ist ein Möglichkeitsraum, um einen Begriff des Romanautors Robert Musil aufzugreifen. Sparmaßnahmen hier bedeuten ein Sparen am Fundament. Sparen an zukünftiger Politikfähigkeit. Selbst Zahlen zeigen, dass sich das nicht lohnt: Zehn Prozent Kultureinsparnis sind im gesamten Bundeshaushalt fast nichts. Doch langfristig ist Entscheidendes zerstört.
Politiker:innen denken und handeln in Wahlzyklen. Die Staatsform Demokratie bringt das mit sich. Eben darin liegt allerdings auch eine ihrer Schwächen. Niemand führt gern Fördermaßnahmen durch, deren Früchte sich nicht innerhalb der Legislaturperiode einfahren lassen. Oder, wie im Kulturbereich, ohnehin notorisch unnachweisbar bleiben. Doch, liebe Regierungsmitglieder, noch ist alles offen. Noch ist alles zu gewinnen. Ich appelliere an Ihr Verantwortungsgefühl. Ihre Zukunftsintelligenz. Ihre Sorge um Freiheit und Diversität.
Kultur/Natur
Angela Merkel sagte mir einmal, dass man in der UNO, wenn man die Kopfhörer abnimmt, das vielfältige Rauschen all der Sprachen im Raum aus den Geräten der anderen höre. Ich mochte dieses Bild: Die Welt spricht. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie es in diesem Frühjahr auf sich nehmen zu regieren. Politik scheint (zunehmend?) ein Geschäft der Verkehrungen, der Fiktionalisierung zu sein. Expertenaussagen werden zu Meinungen degradiert, ideologische Lügen zu Meinungen hochstilisiert. Und ist etwas erst richtig groß geworden, darf es nicht mehr scheitern: too big a lie (zu oft wiederholt) to fail.
Wie soll, was ich Ihnen schreibe, durch dieses dichte Rauschen dringen? Vielleicht, wenn Sie für einen Augenblick
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