Ein Roman aus England steht am Anfang der modernen europäischen Literatur: Daniel Defoes Robinson Crusoe, geschrieben 1719 von einem fast 60-jährigen Autor, der bis dahin vor allem ein politischer Journalist gewesen war. Mit der Geschichte des schiffbrüchigen Sklavenhändlers, der auf einer einsamen Insel strandet und entschlossen daran geht, sich die Erde untertan zu machen, erschien zum ersten Mal jene Gattung auf der weltliterarischen Bühne, die man »bürgerlichen Roman« nennt. Robinson verkörpert, wie Odysseus, Don Quijote, Hamlet, Don Juan oder Faust, einen menschlichen Grundtypus: den Zivilisationsmenschen, der durch übermächtige Gewalt in den Naturzustand zurückgeworfen wird. Doch wird hinter diesem zeitlosen Typus noch eine andere Figur sichtbar: der puritanische Welteroberer und Gründer von Kolonien, die Portalfigur des britischen Empire.
Robinson Crusoe war das meistgelesene Buch des 18. Jahrhunderts und blieb bis heute eines der populärsten Bücher überhaupt: literarisches Urgestein von fast schon sagenhafter Herkunft. Defoes Roman hat es sich gefallen lassen müssen, immer wieder bearbeitet und dabei nicht selten verunstaltet zu werden. Es gibt Robinsone von 100 und von 500 Seiten, illustrierte, broschierte, solche in altmodischem Deutsch und andere, die sich wie Groschenromane lesen. Die zahllosen Bearbeitungen belegen die enorme Lebenskraft der alten Geschichte und den stofflichen Reiz, der von ihr ausgeht. Er war so groß, dass der Autor dadurch ganz in den Hintergrund gerückt wurde. Edgar Allan Poes Frage, ob denn für diese außerordentliche Erfindung eine »Spur von Genie« – und wahrscheinlich mehr als eine Spur – erforderlich war, wurde gar nicht erst gestellt: »Man betrachtet das Buch einfach nicht unter dem Gesichtspunkt eines literarischen Erzeugnisses. An Defoe denkt keiner dabei; an Robinson jeder.«
Urbild des Kolonisators
Defoe selbst war sich der Reichweite der Robinson-Gestalt sicher nicht bewusst, als er den Roman nach seiner Gewohnheit in wenigen Wochen niederschrieb. Nach Herkunft und Haltung ein Puritaner, erhob er keinen Anspruch auf Dichterruhm, teilte vielmehr das puritanische Vorurteil gegen Romane und Fiktionen, gegen erfundene Geschichten und Ausgeburten der Fantasie, sofern sie nicht geistlichen Zwecken dienten. Seinen Roman gab er als Tatsachenbericht aus – und verstand ihn auch so.
Den jungen Robinson treibt es zur See, und davon lässt er sich weder durch die Besorgnis seiner Mutter noch die Mahnungen seines Vaters abhalten. Als er sich an Bord eines sogenannten Guineafahrers begibt, um als Sklavenhändler zu Reichtum zu kommen, wird er auf eine einsamen Insel vor der Küste Südamerikas verschlagen. Nachdem er einiges Werkzeug vom Wrack des Schiffes hat retten können, geht er mit kühlem Kopf daran, seine neue Umgebung zu prüfen, drohende Gefahren zu bedenken und alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Er wägt die Vor- und Nachteile seiner Situation gegeneinander ab und verfährt dabei wie ein Kaufmann, der Soll und Haben gegenüberstellt. Zu Recht hat man in Robinson das Urbild des Homo oeconomicus gesehen. Nachdem er sich auf der Insel so gut wie möglich eingerichtet hat, beginnt er mit dem Rest an Tinte, den er vom Schiff hat retten können, ein Tagebuch zu führen und seine Erlebnisse und Gedanken festzuhalten. Das Tagebuch ist das wichtigste Indiz seiner menschlichen Selbstbehauptung. Da der Leser seine Erlebnisse in zweifacher Spiegelung kennenlernt, zunächst durch seinen im Rückblick geschriebenen Bericht, dann durch das Tagebuch, erweist sich die Erzählweise des Romans als viel komplexer und raffinierter, als der äußere Anschein zunächst nahelegt.
»Nun komme ich zu einem neuen Abschnitt meines Lebens«, sagt Robinson, bevor er erzählt, wie er nach 15 Jahren völliger Einsamkeit den Abdruck eines menschlichen Fußes am Strand entdeckt. So scheinbar kunstlos leitet Defoe einen der unvergesslichen Augenblicke der Weltliteratur ein. Über die Kannibalen, die die Insel zum Schauplatz ihrer schaurigen Mahlzeiten machen, schreibt Robinson: »Ich kam zu dem Schluss, dass diese Menschen nicht Mörder waren in dem Sinne, wie ich sie vorher in meinen Gedanken verurteilt hatte, so wenig jedenfalls wie jene Christen Mörder sind, die oft die in der Schlacht gemachten Gefangenen töten, ja noch öfter und bei vielen Gelegenheiten ganze Scharen von Menschen ohne Erbarmen über die Klinge springen lassen, auch wenn diese ihre Waffen schon weggeworfen und sich ergeben haben.«
Das waren ungewöhnliche Gedanken in einer Zeit kolonialer Bestrebungen Britanniens. Shakespeare hatte die sogenannten wilden Völker, auf die man im Zuge der Entdeckungsreisen gestoßen war, am Beispiel seines Caliban noch als monströs und abscheulich beschrieben. Defoe stellt sich eher auf die Seite Montaignes, der den Hauptunterschied zwischen den »zivilisierten« und den »wilden« Völkern darin sah, dass die einen Hosen tragen und die anderen nicht. Das heißt aber nicht, dass er sie als gleichberechtigt ansah. Robinson gewinnt später einen Gesellen und Diener, den er Freitag nennt und der dem Typus des »edlen Wilden« entspricht, für den das 18. Jahrhundert schwärmte. Dass Robinson der Herr und Freitag sein Diener ist, erscheint wie etwas Naturgegebenes. Robinson betritt seine Insel mit dem Instinkt und der Tatkraft des Kolonisators, in ihm ist, wie James Joyce schrieb, »der ganze angelsächsische Geist, die Ausdauer, die wirkungsvolle Intelligenz, die sexuelle Apathie, die praktische Religiosität und die berechnende Schweigsamkeit«.
Der visionäre Realist
Der Schluss des Buches berichtet von Robinsons Befreiung und seiner Rückkehr nach England, was stofflich zwar notwendig ist, aber nicht den eigentlichen Reiz des Buches ausmacht. Sein Fokus ist zweifellos die Inselgeschichte, nicht nur weil sie 80 % des Textes in Anspruch nimmt, während die vorausgehenden Abenteuer und Robinsons Heimkehr als bloße Rahmenhandlung von der Erinnerung vernachlässigt werden. Wenn man an Robinson denkt, dann denkt man ihn auf seiner Insel, das ist es, was die Figur so stark, was sie unsterblich macht. Das haben bereits die Zeitgenossen so wahrgenommen.
Das Buch erschien am 25. April 1719, vor 300 Jahren, und wurde sogleich ein Bestseller. Fünf Verleger hatten sich zusammengetan, um den Verkaufserfolg zu lancieren. Die Rechnung ging auf: Nach vier Wochen wurde eine zweite Auflage fällig, wieder vier Wochen später die dritte, und nach zwei weiteren Monaten erschien die vierte Auflage, gleichzeitig mit der am Ende des Buches bereits angekündigten Fortsetzung von Robinsons Abenteuern. Auch die Übersetzungen ließen nicht lange auf sich warten. Die erste deutsche Übersetzung kam 1720 in Hamburg heraus, die erste französische in Paris. Beide waren erfolgreich, aber während die deutsche Übersetzung Robinson Crusoe als robusten Lesestoff darbot, adelte die stilistisch elegante französische Übersetzung den Roman als Werk der Literatur. In dieser Form lernte Rousseau das Buch kennen, das er in seinem Erziehungsroman Émile als erste Lektüre des jugendlichen Helden empfahl. Das war 1762, und Defoe war bereits seit 30 Jahren tot. Ihn als visionären Realisten zu erkennen, blieb dem 20. Jahrhundert vorbehalten. Sollte man eine Formel für ihn finden, dann könnte man ihn den englischsten aller englischen Schriftsteller nennen, aber auch das Urbild aller elenden Schreiberlinge.
Literatur zum Thema: Daniel Defoe: Robinson Crusoe (aus dem Englischen neu übersetzt von Rudolf Mast, mit einem Nachwort von Günther Wessel). Mare, Hamburg 2019, 400 S., 42 €.
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