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Luigi Pirandello zum 150. Geburtstag Maskenspiele der Existenz

»Heute sind wir, morgen nicht. Was hat man uns für ein Gesicht mitgegeben, um die Rolle des Lebenden zu spielen? … Masken, Masken … Ein Lufthauch, und sie vergehen, um anderen Platz zu machen …« Sätze aus dem großen philosophischen Essay Der Humor von Luigi Pirandello. Für den italienischen Schriftsteller war das menschliche Leben ein Maskenspiel. Was aber steckt hinter den Masken, was hinter den Scheinbildern der Kunst? Immer neue Masken, Spiegelbilder oder Abspaltungen einer ungreifbaren Identität? Und verdecken sie alle am Ende – das bloße Nichts?

Pirandello, dem sich solche Fragen stellten, hat sie zeitlebens in seinem vielschichtigen, ungeheuer umfangreichen Werk umkreist. In den vier Jahrzehnten, in denen er als Schriftsteller produktiv war, schrieb er acht Romane, über 250 Novellen, vier Bände Lyrik, mehrere Bände mit kritischen Schriften, schließlich jene rund 40 Theaterstücke, mit denen er, neben Henrik Ibsen und August Strindberg, zu einem der großen Anreger der Moderne wurde, in formaler Hinsicht vielleicht der kühnste und eigenwilligste. Von seinen Methoden haben so unterschiedliche Autoren wie Bertolt Brecht und Jean-Paul Sartre, Antonin Artaud und Eugène Ionesco gelernt, und noch ein Dramatiker wie Samuel Beckett gehört in die Nachfolge des Italieners: Seine reduktionistischen »Endspiele« bilden gleichsam die letzte Konsequenz Pirandelloscher Überlegungen und Entwürfe.

Der internationale Ruhm Pirandellos verbindet sich mit seinem bekanntesten Stück, dessen Titel sprichwörtlich wurde: Sechs Personen suchen einen Autor. Die Uraufführung der bizarren Komödie am 10. Mai 1921 in Rom war ein ungeheurer Skandal, vergleichbar den theaterhistorischen Saalschlachten um Victor Hugos Hernani oder Igor Strawinskys Le sacre du printemps. Während ein Teil des Publikums im römischen Teatro Valle dem »erst herzustellenden Stück« (so der Untertitel) heftig akklamierte, versuchte ein anderer Teil, vor allem auf den teuren Plätzen, den Abbruch einer Vorstellung zu erzwingen, die alle liebgewordenen Theatergewohnheiten über den Haufen warf. Als der Vorhang fiel, bekämpften sich auf der Bühne Schauspieler und Zuschauer mit den Fäusten, und der Autor verließ das Theater durch den Hinterausgang, während Damen der römischen Society »Irrenhaus« riefen und elegante junge Männer »Hanswurst« skandierten.

Unzählige Ichs

Einen Monat später wurde das Stück am Mailänder Teatro Manzoni ein triumphaler Erfolg. Sechs Personen suchen einen Autor setzte sich rasch auf allen internationalen Bühnen durch, wurde in zwei Dutzend Sprachen übersetzt, allein an Max Reinhardts Berliner Bühne mehr als 130-mal gespielt. Und George Bernard Shaw erklärte nach der englischen Erstaufführung, man habe es hier mit dem revolutionärsten Drama seit Aischylos und Shakespeare zu tun. Was hatte das Publikum der Uraufführung so verstören können? Die sechs Personen, die so verzweifelt ihren Autor suchen, wollen auf der Bühne ihre eigene Lebensgeschichte spielen, und dies in der Hoffnung, sich im Spiel aus der fatalen Rolle zu befreien, die ihnen das Leben auferlegt hat. Ihr Wortführer erklärt: »Das Drama besteht darin, dass wir uns immer nur für einen Menschen halten. Aber das ist nicht wahr. Keiner von uns ist nur ›einer‹, sondern er ist ›viele‹. In jedem von uns sind unzählige Ichs. Die Vorstellung, immer der gleiche für alle zu sein, ist eine Illusion …«

Hier wird ein zentraler Gedanke Pirandellos – nicht nur dieses Stücks, sondern seines gesamten Werks – formuliert: die Ungewissheit der eigenen Identität. »Ich ist ein anderer« hieß es bereits bei Arthur Rimbaud. Dieser Gedanke wird von Pirandello radikalisiert und mit theatralischen Mitteln potenziert. Im Theater fand er das ideale Medium für seine gedanklichen und existenziellen Provokationen. Das Theater lebt von der Maskerade, dem Rollenspiel, der Interaktion zwischen Bühne und Publikum, es kann den Ort der Inszenierung zu ihrem Gegenstand machen, es kann die unsichtbaren Mitwirkenden, die Bühnenarbeiter, die Souffleuse, sogar die Zuschauer, in Akteure verwandeln und in das Bühnenspiel hineinziehen. Gleichzeitig verabschiedet sich der Autor als allmächtiger Drahtzieher des Geschehens, er wird zum Arrangeur von Improvisationen, die man treffend als »Inszenierungen des Zweifels« bezeichnet hat. So entpuppt sich Sechs Personen suchen einen Autor als tragikomische Parabel einer Welt ohne Gott.

Dass niemand sich nur auf eine einzige Rolle festlegen lässt, diese Einsicht vertrat bereits der junge Pirandello, der im Juni 1867 nahe Girgenti, dem heutigen Agrigent, geboren worden war. Seiner Braut Antonietta, die ihm sein Vater zur Frau bestimmt hatte, schrieb er bei der Rückkehr von seinem Studium in Bonn: »In mir sind einfach mehrere Personen. Die eine kennst Du schon, die anderen kenne ich nicht einmal selbst richtig. Ich weiß nur, wie sehr sie mich spalten und wie sie im Widerstreit miteinander liegen.« Die Ehe mit der reichen Erbin, von Pirandello offenbar geschlossen, um sorgenfrei als Schriftsteller leben zu können, wurde ein einziges Desaster. Antonietta verfolgte ihren Mann mit krankhafter Eifersucht. 1903, nach zehn Jahren Ehe, kam ihre Geisteskrankheit zum Ausbruch, aber erst nach weiteren 16 Jahren wurde sie in eine Heilanstalt eingeliefert. Pirandello, nach seinen persönlichen Lebensumständen gefragt, erklärte gegenüber einem Journalisten: »Ich habe zu leben vergessen, so sehr, daß ich nichts mehr über mein Leben sagen kann, wirklich nichts außer diesem, daß ich nicht lebe, sondern schreibe.«

Hunderttausend Spiegelungen

In den frühen Jahren stand die Prosa im Zentrum von Pirandellos Schaffen: neben den ersten Romanen vor allem die zahlreichen Erzählungen und Kurzgeschichten, die er »Novellen« nannte – gemäß der jahrhundertealten italienischen Literaturtradition seit Giovanni Boccaccio. Der literarische Erfolg kam mit seinem dritten Roman Mattia Pascal von 1904, der im italienischen Original Il fu Mattia Pascal, »Der gewesene Mattia Pascal«, heißt und eine vertrackte Geschichte erzählt. Denn die Titelfigur, ein verarmter Grundbesitzer, fristet an der Seite seiner zänkischen Frau ein provinzielles Kleinbürgerleben als Bibliothekar in einem ligurischen Städtchen. Mattia weiß nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Auch sein Beruf als Bibliothekar langweilt ihn, da er in den Büchern keinen »höheren Sinn«, sondern nur »absolute Bedeutungslosigkeit« findet. Er flieht nach Monte Carlo, spielt im Casino und gewinnt eine hohe Summe. Zufällig erfährt er aus einer Zeitungsnotiz, dass man zuhause einen toten Selbstmörder geborgen und als Mattia Pascal identifiziert hat. Er beschließt, den Wink des Schicksals zu nutzen und unter einem neuen Namen in Rom ein neues Leben zu beginnen. Doch ist er nun zu einem Maskenspiel gezwungen, um seine Identität zu wahren. Nur sein zweiter Tod, der fingierte Selbstmord im Tiber, kann ihm die verlorene Identität wiedergeben. Er kehrt in seine Heimatstadt zurück, wo er seine Frau wieder verheiratet findet, und wahrt sein Inkognito. Den Leuten gilt er als Fremder, der dem verstorbenen Mattia Pascal verblüffend ähnlich sieht. Wie einst arbeitet er in der Bibliothek, und so wird er allmählich zum »gewesenen« Mattia Pascal, der von Zeit zu Zeit Blumen auf sein eigenes Grab legt.

Auch in diesem Roman wird wieder die Frage der menschlichen Identität aufgeworfen. Mattia Pascal wehrt sich, wie so viele Pirandello-Helden, gegen die ihm zugewiesene Rolle, aber der Versuch, aus ihr »auszusteigen«, führt zu einem neuerlichen Scheitern von tragikomischem Charakter. Ganz ähnlich ergeht es Vitangelo Moscarda, dem Helden des Romans Einer, keiner, hunderttausend, der unablässig in den Spiegel blickt in der Gewissheit, dass der Mann im Spiegel nicht er selber ist. Doch auch im Blick der anderen vermag er sich nicht wiederzuerkennen, da sieht er nicht einen, sondern viele, »hunderttausend« Spiegelungen seines Ichs, alle gleichermaßen weit von ihm entfernt. Unter diesem »Blick des anderen«, der anderthalb Jahrzehnte später Sartres großes Thema sein wird, wird Moscarda sich zunehmend fremd, ein nessuno, »keiner«. In einem Obdachlosenasyl dämmert er schließlich dahin, fühlt sich eins mit dem All – als Vogel, als Wolke, als Baum: »Nur so kann ich jetzt noch leben. Nie mehr sich bewusst zu sein, wie ein Stein, wie eine Pflanze will ich sein. Ich bin dieser Baum, die Wolke, morgen werde ich Wind sein … Nie mehr zulassen, daß der Verstand wieder einsetzt.«

Vitangelo Moscarda, Mattia Pascal, die sechs Personen auf der Suche nach einem Autor, schließlich der verrückte Titelheld des Theaterstücks Heinrich der Vierte, der in dem Wahn lebt, der Canossa-Kaiser zu sein und diese Rolle vor der Welt weiterspielt, obwohl er längst wieder bei Verstand ist: Sie alle sind Personifikationen und Variationen des zentralen Pirandello-Themas von der Maskerade des Lebens. Sie verkörpern die Macht der Illusionen und die Relativität all der Bilder, die sich der Mensch von sich selber, seiner Rolle, den Masken seines Lebens macht. Nackte Masken – unter diesem Titel gab Pirandello seine gesammelten Theaterstücke heraus. »Wir werden nie etwas wirklich wissen«, schrieb er in einem Brief, »wir werden vom Leben und von uns selbst nie eine genaue Kenntnis haben, sondern nur das Gefühl einer unbeständigen, veränderlichen Existenz«.

Politische Irrwege

Man kann nicht unerwähnt lassen, dass der Autor, der 1934 als dritter Italiener den Nobelpreis für Literatur erhielt, eingeschriebenes Mitglied der faschistischen Partei war, die er bis zum Tode nicht verließ. 1924 war er in die Partei eingetreten, damals bereits ein weltberühmter Dramatiker, er empfing die Subventionen des Duce für sein Teatro d’Arte und rühmte im Gegenzug Benito Mussolini, der – wie er schrieb – »mit solcher Kraft will, daß die Bewegung in einer geordneten Form gezügelt wird und daß die Form nicht mehr ein leeres, eitles Idol ist, sondern das Leben, pulsend und brausend, in sich aufnimmt, so daß sie es von Moment zu Moment wiedererschafft und immer bereit ist zur Tat …« Man liest diese Sätze mit schmerzhafter Verwunderung, waren sie doch Pirandellos künstlerischen Überzeugungen diametral entgegengesetzt und stehen in schwer erklärbarem Widerspruch zu einem Werk, das weit eher darauf angelegt ist, totalitäre Ansprüche und ideologische Gewissheiten zu erschüttern und ja Misstrauen zu wecken gegenüber jeder unanzweifelbaren »Wirklichkeit«. Eben darin bestand Pirandellos »Modernität«. Anders als in Mussolinis Italien erregte sie im nationalsozialistischen Deutschland Anstoß. Als Hitler 1934 in Darmstadt das Märchen vom vertauschten Sohn, eine Vorstufe zu dem unvollendet gebliebenen Theaterstück Die Riesen vom Berge, gesehen hatte, wurde das Stück kurz darauf verboten.

Die Riesen vom Berge, das gewaltige Fragment, hat Pirandello einen »Mythos« genannt. Er führt uns hier in ein Traumreich jenseits der realen Welt, über das Zauberer Cotrone gebietet. Endlich können die Figuren, zumeist heruntergekommene Schauspieler, sich aus ihrer maskenhaften Existenz befreien, vielleicht sogar eins werden mit sich und der Welt. Der Pilger, heißt es einmal, »gelangt nach langer Lebensfahrt endlich ans Ziel, kann die Sandalen lösen und den Wanderstab beiseitestellen«. Am Ende seines Lebens suchte Pirandello Zuflucht in einer märchenhaften Privatmythologie, die ebenso vieldeutig ist wie sie undeutlich bleibt. Jedenfalls hat noch keine Inszenierung dem megalomanen Stück einen überzeugenden Schluss geben können. Man möchte es auch kaum als repräsentativ ansehen für Pirandellos gesamtes Werk, das uns mit so ungetrübter Klarheit über unsere Irrtümer aufklärt, über die Irrtümer, die wir über uns selbst und andere haben, voran den Irrtum, nicht diejenigen zu sein, die wir zu sein glauben. Pirandello hat diese Wahrheit ganz einfach ausgedrückt in dem Satz: »Ich werde immer ein Wanderer ohne Haus, ein Vogel ohne Nest sein, der nicht weiß, wo er hingehört, wer er ist.«

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