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Etwas fehlt in der Pracht der neuen Frankfurter Altstadt Maushaar statt Plastik

Im September 2018 wurde sie eingeweiht, die neue Altstadt in Frankfurt am Main mit ihren Neubauten auf einem rund 7.000 Quadratmeter großen Areal zwischen Römer und Dom, über deren historisierende Rekonstruktion die Stadtverordneten im Herbst 2007 entschieden hatten. Welch wechselvolle Entwicklung dieser Einweihung vorausgegangen war, wie es zu der Planung aller Häuser in ihrer jetzigen Gestalt kam und welche ästhetischen und ideologischen Debatten in den vergangenen rund 100 Jahren im Kontext der Altstadt geführt wurden und werden, zeigt derzeit eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, kuratiert von dem Politikwissenschaftler Philipp Sturm und dem Kunsthistoriker Moritz Röger. Sie dokumentiert, auch in einem eindrucksvollen Katalog, ausführlich, was hier nur umrissen werden kann.

Ausgangspunkte für den Bau der neuen Altstadt waren die unbefriedigende städtebauliche Situation und der sanierungsbedürftige Zustand des Technischen Rathauses gewesen, an die sich im Jahr 2005 ein städtebaulicher Wettbewerb anschloss, dessen Pläne keine Rekonstruktion historischer Bauten, sondern lediglich die Wiederherstellung des sogenannten Krönungswegs vorsahen, im Übrigen dem für die letzten Jahre in Frankfurt probaten »Patentrezept« für Neubauvorhaben folgten: »Massive Kubaturen und maximale Bruttogeschossflächen auf minimalen Grundstücksgrößen«. Man hatte im Anschluss an den Wettbewerb einen Beitrag des Architekturbüros KSP ausgezeichnet. Zwischen 2005 und 2007 wuchs die Kritik daran, mehrten sich infolge eines Antrags der Freien Wähler Stimmen, die für einen auf Rekonstruktion setzenden Wiederaufbau plädierten. 2009 wurde die DomRömer GmbH von der damaligen Oberbürgermeisterin Petra Roth eingesetzt, unter der Leitung des Geschäftsführers Michael Guntersdorf wurde das Projekt realisiert.

Die neue Frankfurter Altstadt präsentiert sich nun nicht neufrankfurterisch »plumpkubaturig«, sondern kleinteilig mit 35 neuen, mehr oder weniger »alt« wirkenden Häusern. Zum Teil sind diese nach dem Zustand vor dem Zweiten Weltkrieg rekonstruiert, zum Teil als schöpferische Nachbauten, alle befinden sich in direkter Nachbarschaft der Schirn Kunsthalle, dem neu errichteten Stadthaus am Markt, den postmodernen Häusern der 80er Jahre in der Saalgasse, der Ostzeile des Römers, die zum Römerberg hin mit Fachwerkfassaden grüßt und zum U-Bahn-Eingang hin ihre rekonstruierte architektonische Verfasstheit offen zur Schau trägt – insgesamt im Kontext eines Ensembles, das sichtbar macht, wie es um die Konstruktion städtischer Szenerien seit Jahrzehnten in Frankfurt bestellt ist: spannungsreich, teilweise verschämt, teilweise offensiv Bewegungen der und Verwerfungen durch die (Stadt-)Geschichte offenlegend, oder sie verschleiernd, wie es beim Wiederaufbau der Alten Oper der Fall war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war in der Innenstadt planerisch vieles offen. Blickt man zurück auf das Jahr 1948, wird man entdecken, dass die stark zerstörte Stadt, in der die Bizone verwaltet wurde, beschloss, für die Innenstadt einen »Generellen Fluchtlinienplan« zu verabschieden: eine vierspurige Nord-Süd- und Ost-West-Schneise, eine Verbreiterung und Weiterführung der Einkaufsstraße Zeil bis zur Alten Oper, ein neuer Platz an der Konstablerwache, Ausweitungen an der Hauptwache, am Roßmarkt und Goetheplatz und in anderen Straßen. Die eigentliche Wiederaufbauzeit begann nach der Entscheidung, Bonn zur Hauptstadt zu machen. Weite Teile der Frankfurter Innenstadt atmen noch immer den Geist der Wirtschaftswunderjahre: Im März 1951 wurde beschlossen, den Stadtumbau in kommunaler Regie vorzunehmen und so kam es, dass eine Melange aus eleganten Bauten und trostlosen Rasterfassaden lange weitgehend das Gesicht der Innenstadt bestimmte, abgesehen von der Paulskirche und vom Römer, dem kuriosen Rathausbau, der einem architekturgeschichtlichen Palimpsest, das immer wieder neu beschrieben wurde, gleicht. Über die Frage nach einem Umgang mit der ehemaligen Altstadt, deren größerer Flächenanteil von einem Parkplatz zwischen Dom und Römer belegt war, wurde 1951 gewitzelt: In der Frankfurter Rundschau war eine Karikatur abgedruckt, auf der ein Gebäude zu sehen ist, vor dessen massige Kubatur drei Giebelfassaden gehängt sind: zwei spitzgieblige und eine mit veritablem Treppengiebel. Die Unterzeile lautete: »Die Lösung. Moderne Bauweise mit Attrappen netter Altstadthäuschen – das dürfte alle zufriedenstellen, die Verfechter des historischen und jene des modernen Altstadt-Wiederaufbaus.« Was einst ironisch gemeint war, sieht nun insofern wie eine Vorwegnahme der damals noch im Dunklen liegenden Zukunft aus, als der größere Teil der neuen Altstadt auf einem Tiefgaragendeckel ruhte.

Doch zurück zum aktuellen Zustand: Aus städtebaulicher Sicht hat sich mit der neuen Frankfurter Altstadt die vorherige, schlichtweg katastrophale Situation zum Besseren gewendet. Wo das Technische Rathaus, ein brutalistischer Bau von 1974, der 2009 abgerissen wurde, und der Archäologische Garten auf dem südlichen Teil des Areals im Ensemble mit den U-Bahn-Abgängen ein seltsames Durcheinander aus Höhen und Tiefen bildeten, machte man als Frankfurter vor dem Abriss am liebsten einen Bogen darum, nahm es im Alltag vermutlich als blinden Fleck (nicht) wahr. Nicht nur das Technische Rathaus, auch der Archäologische Garten, nun begeh- und einsehbar überplant vom neuen Stadthaus am Markt, wirkte deplatziert: eine Grube mitten in der Stadt, flankiert von einem historisch heterogenen architektonischen Durcheinander von Bauten unterschiedlicher Materialien und Kubaturen. (Immerhin hatten die Frankfurter keine Bahntrasse hindurchgeführt wie die Mainzer durch ihr Römisches Theater.)

Städtebaulich also ist die Wiederherstellung des ehemaligen Krönungswegs zwischen Dom und Römer – wobei der Name trügt, denn es handelt sich hier nicht um einen Prachtboulevard im Stile Georges-Eugène Haussmanns, des großen Stadtplaners von Paris, sondern um das, was der hessischen Dialekt als »Gass’« bezeichnen würde, um einen schmalen, leicht abknickenden Weg – quasi ein ausnahmsweise gelungenes Beispiel für das, was der 2015 verstorbene Architekturkritiker Dieter Bartetzko im Kontext der Errichtung zahlreicher Ausfallstraßen nach dem Zweiten Weltkrieg die Frankfurter »Achsenlust« genannt hat.

Im Chor der Befürworter und der leiser und weniger gewordenen Kritiker fehlt seine Stimme: Bartetzko begleitete lange Zeit für die Frankfurter Allgemeine Zeitung als Autor kundiger Beiträge über Ge- und Misslungenes die Entwicklung der Stadt. Er galt als Befürworter der Rekonstruktionslösung. Wäre er nun einverstanden mit dem neu errichteten Ensemble, einverstanden damit, dass durch die kleinteilige Parzellierung zunächst der Eindruck von Klasse statt Masse entsteht? Vielleicht.

Aber vielleicht registrierte auch er einen Eindruck von Leere, der sich einstellen kann, wenn man die neue Altstadt betritt. Woher rührt dieser? Paradoxerweise nicht allein von den bislang nicht vollständig bezogenen Läden in den Erdgeschossen der neuen Häuser, nicht von den Restarbeiten, die an einigen der Gebäude noch auszuführen sind, nicht allein von der kargen Möblierung des neu entstandenen Hühnermarktes, wo außer dem dorthin versetzten Friedrich-Stoltze-Brunnen weder Bänke noch Kinderspielgeräte einen Ort finden – eine Entscheidung, die übrigens nicht revidiert werden soll, was daran liegt, dass die Anwohner, die sich in den neuen Häusern eingerichtet haben, dort in Ruhe wohnen wollen – was, wie der lokalen Presse zu entnehmen ist, angesichts der täglichen Stadtführungen, viele von ihnen mit Mikrofonen, nicht recht klappt. Er rührt gewiss nicht her von der Sorgfalt, mit der die zahlreichen, einzeln vergebenen Parzellen nach einem weiteren Wettbewerb, der für alle Parzellen mehrere Alternativentwürfe vorschlug, bebaut wurden.

Aseptisch, aber grundsolide

Paradoxerweise rührt der Eindruck her vom Fehlen eines sichtbaren Mangels, des Improvisierten, all dessen, was zu einer Stadt immer auch gehört(e): In der neuen Altstadt ist nichts schäbig, nichts zufällig unfertig, es fehlt jedwede sichtbare Kehrseite von spät- bzw. postbürgerlichem Glanz, es fehlen Risse, Brüche, Versehrungen, zuordenbare (architektur-)historische Zäsuren.

Die neue Altstadt erinnert an die Illustrationen von Otfried Preußlers Das kleine Gespenst, in dem ein friedliches, zierliches Gespenst im fiktiven Städtchen Eulenberg durch eine Uhrenreparatur in seinem Rhythmus gestört wird, die Nacht zum Tag macht und eine historische Feier aus Anlass der Vertreibung der Schweden im Dreißigjährigen Krieg mit dem Krieg selber verwechselt: Es verjagt den kostümierten schwedischen General noch einmal und stört die Feierlichkeiten in Eulenburg, das sich seit der zurückliegenden 300 Jahre nicht groß verändert hat. Die Illustrationen des Grafikers Franz Josef Tripp zeigen Eulenburg als idealtypische Kleinstadt: mit Marktplatz, Schloss, Kopfsteinpflaster und einer Kanalisation, in der sich das Gespenst verirrt, mit Läden und Häusern, deren Fassaden Renaissanceanklänge zeigen, viele von ihnen haben Treppengiebel (ähnlich wie der Römer, das Frankfurter Rathaus). Die Szenerie – Tripp zeichnet zweidimensional – ist kindgerecht wie eine Kasperletheaterkulisse.

Die neue Frankfurter Altstadt strahlt zugleich auch jene etwas aseptische, aber grundsolide Manufactum-Ästhetik aus, die dem betuchten, auf Distinktion bedachten Konsumenten verspricht, es gäbe »die guten Dinge« noch – und mit ihnen auch die »gute alte Zeit«. Und wer von uns, Hand aufs Herz, hätte sie nicht schon häufiger auch für sich herbeigesehnt, diese fälschlich verklärte Zeit, in der doch auch schon galt, dass ein Kehren mit einem handgeschnitzten Holzbesen samt handgezupften Maushaarborsten letztlich den Dreck nicht besser beseitigt als mit einem x-beliebigen, billigen chinesischen Vergleichsprodukt (Plastik mit Synthetikborsten, maschinell gefertigt).

Das Fehlende der Frankfurter Altstadt ist, wie sie zu vermitteln versucht, es fehle doch nichts. Das stimmt, denn was der Tourist auf der Suche nach einem idealtypischen europäischen Stadtzentrum sucht, das wird er finden, und – welche Ironie! – er kann den Eindruck über den Moment hinaus dadurch verlängern, dass er in einem Laden am Hühnermarkt die Häuser dieser neuen Altstadt im Miniaturformat ersteht und zu Hause als Eisenbahnlandschaft nachbaut. Eine Dönerbude, eine Fixerstube, einen Jugendtreff – all das wird man in diesem idealtypischen Stadtpanorama nicht verorten, weder in natura noch im Miniaturformat.

In dem Artikel »Dom, offene Stadt« in der FAZ vom 12. Mai 2018 führt Niklas Maak aus, warum es sich bei der neuen Altstadt trotz der einzeln vergebenen Parzellen, trotz des Versuchs, so etwas wie ein historisches Lebensgefühl mit unbestimmbarem historischen Zweck zu vermitteln, im Hinblick auf ihr soziales Konstrukt um einen Fake handelt, nämlich um eine Stadt, die die vielen eklatanten Lücken ja nicht nur in ihrem Stadtbild, sondern auch in ihrer Infrastruktur aufweist. Bezahlbarer Wohnraum? Stadt für alle? Fehlanzeige! Die neue Altstadt zeigt sich phänotypisch nicht als Aushängeschild einer innovativen Architektenzunft, sondern als begehbares Museum, als gebauter Traum einer Stadtverordnetenversammlung, die sich in Zeiten der Globalisierung, der kriegsbedingten Migrationsbewegungen noch einmal eine idealtypische Stadt herbeigesehnt und sie nun für viel Geld bekommen hat. Klasse statt Masse, wenn man denn zur richtigen Klasse gehört.

Zum Schluss eine Szene aus dem Sommer 2018: Die neue Altstadt ist noch nicht offiziell wiedereröffnet. Doch Touristen flanieren schon den Krönungsweg entlang. Die einstmals so geschichtsmächtig konnotierte Wegeführung zwischen Römer und Dom ist wieder schön plan und wird nun flankiert von Hut-, Schmuck- und Weinläden und dem obligaten Frankfurt-Shop. Die Menschen, die sich das Areal mit dem zugleich neugierigen, aber auch etwas haltlosen Blick des Stadtreisenden anschauen, werden musikalisch begleitet von einem Drehorgelmann im Gründerzeitkostüm. Mit der rechten Hand dreht er mechanisch die Kurbel. Mit der linken tippt er Nachrichten in sein Handy. Im Film – man denke nur an den Piratenfilm Der rote Korsar von 1952, der im 18. Jahrhundert spielt, in dem in einer Szene im Hintergrund ein Kreuzfahrtschiff vorbeifährt – würde man sagen: »Das Continuity hat geschlafen.« In der Wirklichkeit der neuen Altstadt wirkt die Szene auf eine groteske Art erleichternd: Die Bruchlinien der Geschichte werden wenigstens für einen Moment lang im Detail sichtbar und selbst das kleine Gespenst würde womöglich den Fake bemerken.

Erst auf lange Sicht wird sich zeigen, ob und wenn ja, welche tieferen Risse auch die schöne Fassade der neuen Altstadt bekommen wird und ob und wie sich die Illusion einer heilen Stadtmitte für ihre Bewohner halten lässt.

Die Ausstellung »Die immer neue Altstadt. Bauen zwischen Dom und Römer seit 1900« im Deutschen Architekturmuseum läuft noch bis zum 12. Mai 2019. Begleitend ist ein umfangreicher Katalog bei jovis erschienen, 368 S., 58 €.

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