Im Januar 1954 besuchte der 78‑jährige Thomas Mann in Zürich eine Aufführung von Friedrich Dürrenmatts Theaterstück Ein Engel kommt nach Babylon und notierte in seinem Tagebuch: »Wie mans heut so macht. Nicht ohne Bühnenphantasie, aber Gemisch von Anspruch und Billigkeit, Ideenunsinn, langweilig.« Er hatte offenbar wenig Vergnügen an dem Stück, aber aufschlussreich sind seine Hinweise auf die »Bühnenphantasie« und den »Ideenunsinn«.
Als Schriftsteller ging Dürrenmatt vom Gedanklichen aus und entwickelte von da aus seine dramatischen Situationen. Der Berner Pfarrerssohn war ein guter Kenner der Bibel, und kein Motiv der Bibel hat ihn so stark beschäftigt wie der Turmbau zu Babel: »Meine Gedanken, meine Träume kreisten jahrelang um dieses Motiv, ich beschäftigte mich schon seit meiner Jugend damit, stand doch in der Bibliothek meines Vaters ein blau-weißer Band der Monographien zur Weltgeschichte, Ninive und Babylon.« Daraus ging später das Theaterstück Ein Engel kommt nach Babylon hervor: »Ich plante, jeden Akt in einem höheren Stockwerk spielen zu lassen, in einem Turm, der sich dem Himmel entgegenschiebt, die Wolken durchstößt, in die Leere des Alls vordringt, bis die Akteure nur noch in Sauerstoffmasken auftreten.« Nebukadnezar, der Erbauer des Turms, der als Einziger nach oben gelangt, trifft dort aber nicht auf Gott, sondern auf einen anderen Nebukadnezar, einen früheren Turmbauer. Und so fort, von Stockwerk zu Stockwerk. Dürrenmatts Plan scheiterte, das Stück war sein eigener Turmbau zu Babel.
Als es in Zürich auf die Bühne kam, war sein Autor 32 Jahre alt und stand erst am Anfang seiner gloriosen Karriere, die ihn bald zu einem der weltweit meistgespielten Dramatiker aufsteigen ließ. Seine zwei Dutzend Theaterstücke, aber auch seine Romane und Erzählungen wurden in viele Sprachen übersetzt und erreichten eine Auflage von mehr als 20 Millionen Exemplaren. Seine »tragische Komödie« Der Besuch der alten Dame, 1956 uraufgeführt, wurde ein Welterfolg, und die Komödie Die Physiker war 20 Jahre nach ihrer Uraufführung, als die Rüstungsdebatte alle Köpfe beschäftigte, das meistgespielte aller Theaterstücke, nicht nur in Deutschland. Auf den Leselisten amerikanischer Universitäten stand es an erster Stelle, noch vor Shakespeares Hamlet und König Ödipus von Sophokles.
Dürrenmatt war ein Autor, der sich wie nur wenige andere den großen Themen und Fragen seiner Zeit gestellt hat – nicht durch direktes politisches Engagement (obwohl er es daran nicht fehlen ließ), sondern weil er die aktuellen Fragen schärfer als andere durchdachte und für ihre Darstellung auf der Bühne starke, unvergessliche Bilder fand. Dazu gehörte die in den Bereich des Möglichen gerückte kollektive Selbstvernichtung der Menschheit. Die drei Physiker, die in seiner Komödie als Patienten in einer privaten Irrenanstalt leben, spielen ja nur die Irren. Der eine gibt sich als Newton, der zweite als Einstein aus, aber sie sind Agenten rivalisierender Weltmächte, die sich als Irre getarnt haben. Der dritte heißt Möbius, und er spielt den Irren, weil er erkannt hat, dass seine Entdeckungen, wenn sie bekannt und benutzt werden, das Ende der Menschheit bedeuten können. Die Geheimdienste sind Möbius bereits auf der Spur. Dann aber nimmt das Stück eine andere, überraschende Wendung. Die Leiterin der Anstalt, Fräulein Doktor von Zahnd, hat die falschen Irren längst entlarvt und Möbius’ gefährliche Formel an sich gebracht. Sie ist die einzige wirklich Wahnsinnige in dem Stück, die über den Untergang der Menschheit entscheidet.
So unheimlich, so abgründig sind Dürrenmatts dramatische Situationen. Ihr Erfinder war ein scharfsinniger Denker, der die Entwicklung der Naturwissenschaften, von Kernphysik, Astronomie, Biologie, nicht ignorierte. Damit war er der Gegensatz zu dem anderen berühmten Schweizer Schriftsteller seiner Zeit, Max Frisch, der das eigene Leben literarisch bespiegelte, gemäß seinen Worten: »(...) ich komme nämlich nicht von der Literatur, sondern von der Eigenerfahrung her und würde, wenn man das Wort nicht mißbrauchen will, mich zu der Gattung der Notwehrschriftsteller rechnen. Das heißt, ich schreibe, um (…) mich auszudrücken«. Ganz anders Dürrenmatt: »(...) meine Schriftstellerei [zielt] von mir weg, wenn ich auch nichts geschrieben habe, das nicht in irgendeiner Beziehung zu etwas von mir Erlebtem steht, auch zu teils verdrängten, teils längst vergessenen Erlebnissen, Gefühlen und Gedanken«.
Er war das Gegenteil eines innigen und gemüthaften Poeten aus der Tradition des 19. Jahrhunderts. Seine äußere Erscheinung, die voluminöse Gestalt, der große Kopf mit der schweren Brille und den geröteten Wangen des weltfreudigen Zechers, die rollende Behäbigkeit seines Schweizer Dialekts, wirkten da leicht trügerisch. Dürrenmatt war mit dem dialektischen Materialismus eines Karl Marx ebenso vertraut wie mit der dialektischen Theologie eines Karl Barth, der er im Übrigen viel näher stand. Über Brecht schrieb er: »Seine Irrtümer waren nie die meinen, ich irre mich anders.« Brechts Glauben, die Welt enträtseln, in Parabeln und Lehrstücken rational und eindeutig darstellen zu können, hat er nicht geteilt. Er selber zeigte eine rätselhafte, undurchschaubare, eine absurde Welt. Ihr entspricht in den Physikern die Metapher des Irrenhauses. Daher die Prämisse des Stückeschreibers, die Darstellung einer absurden Welt sei nur als Komödie möglich. In dem Essay Theaterprobleme von 1955, einem oft zitierten Text, hat Dürrenmatt eine theoretische Begründung versucht: »Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr (…) Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat. Uns kommt nur noch die Komödie bei.« Noch in der späten Komödie Achterloo von 1988 hat Dürrenmatt die Welt in ein Irrenhaus verwandelt, jetzt aber in der resignierenden Einsicht, dass das dramatische Geschehen auf der Bühne stets hinter der Wirklichkeit zurückbleibt.
Die schlimmst-mögliche Wendung
Dürrenmatts Neigung zur Farce und Groteske, zum tiefsinnigen Mumpitz, sind nicht zu erklären als Exzess und Laune einer unbändigen literarischen Fantasie, so üppig sie dem Autor auch zu Gebote stand, sie war Konsequenz seiner finsteren Weltsicht. Auch als Erzähler hielt er sich an die Maxime: »Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst-mögliche Wendung genommen hat. Die schlimmst-mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.« Seine berühmte Erzählung Die Panne nannte Dürrenmatt im Untertitel »Eine noch mögliche Geschichte«.
Das gilt nicht weniger für seine Kriminalromane, auch wenn sie hauptsächlich um des Geldes willen geschrieben oder als Drehbücher für Filme entworfen wurden. Der dritte und letzte dieser Romane, Das Versprechen von 1958, ist nur noch ein Spiel mit der Form des Kriminalromans. Es ist die Geschichte des Kommissars Matthäi, der eines Tages zur Leiche eines ermordeten Mädchens gerufen wird. Dessen Mutter gibt er das Versprechen, die Tat aufzuklären, und zwar, wie er gelobt, »bei meiner Seligkeit«. Der Hauptverdächtige, ein Hausierer, legt ein Geständnis ab und nimmt sich danach in seiner Zelle das Leben. Kommissär Matthäi glaubt nicht an seine Täterschaft, zumal zwei ähnliche Morde an jungen Mädchen einige Jahre zuvor verübt wurden, ohne dass ein Täter gefunden werden konnte. Er untersucht das Verbrechen auf eigene Faust und kommt aufgrund karger Indizien zu dem Schluss, dass der Täter ein Autofahrer und Psychopath ist. Matthäi lässt sich daraufhin als Tankwart an der Straße Chur–Zürich nieder und benutzt die Tochter seiner Haushälterin, die den ermordeten Mädchen ähnlich sieht, als Köder, um dem Mörder eine Falle zu stellen. Die Rechnung geht nicht auf. Auf dem Weg zu dem Ort, wo er das Kind treffen will und wo Matthäi und einige Polizisten ihn bereits erwarten, verunglückt der Mörder mit seinem Wagen. Der Zufall durchkreuzt die Pläne des Kommissars. Dieser, von seiner fixen Idee besessen, wartet noch jahrelang, verfällt dem Alkohol und verkommt. Erst viel später gesteht eine reiche alte Frau im Spital, dass ihr geistig beschränkter Mann die Morde begangen hatte und den letzten Mord nur wegen des Unfalls nicht mehr ausführen konnte. Sie wusste von den Morden, ohne die Polizei zu informieren, aus dem banalen Grund, dass sie ihrer Schwester einen solchen Triumph über ihre nicht standesgemäße Ehe nicht gönnen wollte.
Dürrenmatts Buch heißt im Untertitel »Requiem auf den Kriminalroman«. Ist es also kein wirklicher Kriminalroman? Ja und nein. Die wichtigsten Elemente eines Krimis, der Mord und ein Detektiv auf der Suche nach dem Mörder, sind zwar vorhanden, aber Dürrenmatt verweigert die Befriedigung, die in der Aufklärung eines Verbrechens liegt, von dessen Sühne ganz zu schweigen. Es geht im Leben eben nicht so säuberlich zu wie in den meisten Kriminalromanen. Irgendetwas kommt dazwischen, jene ungreifbaren Kausallinien, die man Zufall nennt. Der Polizeichef erklärt es dem Autor mit den Worten: »Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen (...) Ihr versucht nicht, euch mit einer Realität herumzuschlagen, die sich uns immer wieder entzieht, sondern ihr stellt eine Welt auf, die zu bewältigen ist. Diese Welt mag vollkommen sein, möglich, aber sie ist eine Lüge.«
In der Welt der »Stoffe«
Der späte Dürrenmatt zog sich in die Prosa zurück, in eine Mischform aus erzählender und analytischer Essayistik, der wir einige bedeutende Arbeiten verdanken: den Israel-Essay Zusammenhänge, den Roman Durcheinandertal, ein ebenso luftiges wie verzweifeltes längeres Gedankenspiel, das in bewährter Form »die schlimmst-mögliche Wendung« nimmt, vor allem aber die neun Teile eines Prosawerks, dem Dürrenmatt den nüchternen Titel Stoffe gegeben hat und das im April dieses Jahres in neuer Edition erscheinen soll. Sie wird die rund 30.000 Manuskriptseiten eines im Prinzip unabschließbaren Schreibprozesses »in textgenetischer Auswahl« präsentieren.
Die Stoffe stellen eine eigenartige Mischform verschiedener Prosaformen dar und verweben autobiografische mit philosophischen und fiktionalen Texten und Textfragmenten. Auf einer ersten Ebene handelt es sich um eine persönliche Werkgeschichte, denn, wie Dürrenmatt schrieb, »in meinen Stoffen drückt sich, da ich Schriftsteller bin, mein Denken aus, auch wenn ich natürlich nicht nur in Stoffen denke. Aber die Stoffe sind die Resultate meines Denkens, die Spiegel, in denen, je nach ihrem Schliff, mein Denken und damit auch mein Leben reflektiert werden.« Man kann die Stoffe aber auch als Gedankenbuch bezeichnen, in dem sich Dürrenmatts subjektive und objektive Ideenbahnen labyrinthisch verschlingen, nicht zuletzt als spirituelle Autobiografie, worin der Autor der Beziehung zwischen seinem persönlichen Erleben und seiner Stoffwahl nachspürt, angetrieben von dem Verlangen, die verborgene Wirkungsweise der eigenen Fantasie zu ergründen.
Neue Literatur zum Thema: Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie. Diogenes, Zürich 2020, 752 S., 28 €. – Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt (Textgenetische Edition in fünf Bänden im Schuber. Aus dem Nachlass hg. von Ulrich Weber und Rudolf Probst. Mit einem einleitenden Essay von Daniel Kehlmann). Diogenes, Zürich 2021, 2.208 S., 400 €.
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