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Neue Bücher zum sozialen Strukturwandel Messen und werten

Wir messen unablässig – die täglich absolvierten Schritte und Entfernungen, unsere Fitness und unser Wohlbefinden, die Qualität von Ausbildungsstätten ebenso wie die Bonität von Staaten oder unsere Zufriedenheit mit Dienstleistungen. Das Phänomen fortwährenden Messens und dessen gesellschaftliche Folgen untersucht der Makrosoziologe Steffen Mau von der Berliner Humboldt-Universität in seinem Buch Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Andreas Reckwitz, Kultursoziologe an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, entwirft in seiner Studie Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne eine Theorie der postindustriellen Ökonomie. Ihr zufolge hat der sich seit den 70er Jahren entwickelnde kulturelle Kapitalismus eine hochqualifizierte Mittelklasse herausgebildet, deren Angehörige vor allem Einzigartigkeit für sich reklamieren. Es lohnt, beide Bücher komplementär zu lesen – als Analysen weitgehend saturierter Gesellschaften im Sog der Digitalisierung.

Steffen Mau beschreibt einen »neuen Quantifizierungskult«. Durch die Möglichkeiten digitalen Datensammelns wurde er enorm gesteigert und ist allgegenwärtig. »Daten zeigen an, wo eine Person, ein Produkt, eine Dienstleistung oder eine Organisation steht, sie leiten Bewertungen und Vergleiche an – kurz: produzieren Status und bilden diesen ab.« Er verdeutlicht anhand unterschiedlicher Quantifizierungsmechanismen – Rankings und Ratings, Scorings und Screenings, Bewertungen mittels Sternen und Punkten, Balken und Kurven – deren Funktionsweise, ihre Zuordnungs- und Deutungsmacht. Während Rankings öffentlich publiziert und kontrovers diskutiert werden, ist es bei Scorings, wie sie große Konzerne bei Bewerbungsverfahren einsetzen oder amerikanische Gerichte zur Bemessung der Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftätern verwenden, ungleich schwieriger, gegen ihr Zustandekommen anzugehen. »Wer von der Software als nicht oder als weniger geeignet klassifiziert wird, ist draußen.« Datenarrangements, so Mau, übernehmen inzwischen eine gesellschaftliche Platzanweiserfunktion.

Permanentes Aufzeichnen, Vermessen und Bewerten wirken sich auf das menschliche und institutionelle Handeln aus, führen dazu, dass sich sowohl die Fremd- als auch die Selbststeuerungsleistungen intensivieren. Digitale Statusdaten werden zu Unterscheidungsmerkmalen, weil Daten soziale Verhältnisse nicht nur darstellen, sondern mit Zuschreibungen einhergehen und Wertigkeitsordnungen abbilden. Die Quantifizierungskultur hat also gravierende soziale Folgen. Sie verändert die Vorstellungen von Wert und Status, auch wird Wettbewerb nunmehr universell möglich – vor allem aber, so die zentrale These von Mau, transformiert die Darstellung in Tabellen, Grafiken und Listen qualitative Unterschiede in quantitative Ungleichheiten.

Vergleichen – das Ende des Glücks?

Die »Bewertungsgesellschaft« weist Statusränge zu und verändert die Ungleichheitsordnung allein dadurch, weil bislang Unvergleichbares vergleichbar gemacht wird. Ein Mehr an objektivierten Statusinformationen mag zwar Halt geben – doch um den Preis einer Dynamisierung des Statuswettbewerbs. Wenn es aber selbstverständlich wird, quantitative Rangbildungen vorzunehmen und sie als angemessen anzusehen, bedeutet das nicht gleichsam eine Naturalisierung sozialer Ungleichheit? Wächst damit die Rivalität stärker als das Miteinander? Erzeugt eine quantitativ orientierte Mentalität unentrinnbare Erwartungen und Zwänge? Der Sog der Messbarkeit hat uns alle erfasst. Wir messen mit. Wer nicht mitmacht, wird abgehängt.

Das Vergleichen sei das Ende des Glücks, schrieb Søren Kierkegaard. Mau macht deutlicht, dass die Verdatung der Gesellschaft die Vergleichbarkeit von allem und jedem ins Unendliche steigert. Daraus resultieren Zuschreibungen und Wertigkeitsgefälle: »Durch die Nutzung neuer Indikatoren, Daten und numerischer Notationen zur Selbsterkennung, -beschreibung und -bewertung entwickelt sich das soziale Wir zum metrischen Wir. Daten machen sichtbar und legen fest, wer wir sind, wo wir stehen, wie andere uns sehen und was uns erwartet.« Das Datensammeln verhilft vermeintlich zu mehr Objektivität und Orientierung, schafft aber tatsächlich mehr kompetitive Zurichtung. China plant 2020 die Einführung eines Social-Credit-Systems, das den Wert des Einzelnen anhand seines sozialen Verhaltens bewertet, ihn belohnt oder aber bestraft – die Datenverknüpfung als Grundlage der perfekten Überwachungsgesellschaft.

Steffen Mau leuchtet die Konsequenzen datengetriebener Gesellschaften aus, in denen die meisten Individuen das Datensammeln verinnerlicht und die daraus resultierenden Klassifikationsmöglichkeiten und Wettbewerbsmodi internalisiert haben. Die Lektüre seines Buches provoziert die Überlegung, ob es überhaupt Personen gibt, die sich dem Messen entziehen – qua Eigensinn, Macht oder Autorität? Ob sich Individuen immun erweisen gegenüber Einstufungen und Wertungen?

Folgt man Andreas Reckwitz ist das Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit eine prägende Manifestation der Gegenwart. Die creative economy, die er als Leitbranche sieht, hat nicht nur die Produktions-, sondern auch die sozialen Logiken grundlegend verändert. Der Kampf um Sichtbarkeit erfasst die gesamte Lebensführung der hochqualifizierten Mittelschicht. Unter dem Primat des Besonderen steht, wie man wohnt, was man isst, wie und wohin man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet. Individualität reicht da nicht mehr, so Reckwitz, sondern Singularität wird zum Maßstab – als subjektiver Wunsch und als gesellschaftliche Erwartung. Der Einzelne der tonangebenden neuen Mittelschicht kuratiert sein Leben: »Das spätmoderne Subjekt performed sein besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden.« Nicht die Gestaltung des Allgemeinen wird gefördert und belohnt. Die Gesellschaft zielt nunmehr auf Abweichendes, Besonderes, Singuläres, auf Selbstinszenierungen, und zeichnet sie aus – auf Kosten der Allgemeinheit.

Die Valorisierungsgesellschaft

Reckwitz beschreibt Muster, Typen und Konstellationen der sozialen Fabrikation von Einzigartigkeiten, insbesondere kulturelle Güter, mediale Formate, Lebensstile und Ereignisse. Sich abzuheben, ob durch Produkte, Gemeinschaften, Events, Städte etc., bedeutet deren ständiges Bewerten und Entwerten. Die »Valorisierungsgesellschaft« mit ihren hoch volatilen Wertzuschreibungen erzeugt paradoxerweise eine rationalistische Standardisierung, der die auf Originalität orientierten Menschen doch gerade entkommen wollen. Auch deshalb gerät Reckwitz’ Ausblick auf eine entfesselte Gesellschaft der Singularitäten durchaus ernüchternd: »Die nichtplanbare Dynamik von Valorisierungen und Entwertungen lassen Vorstellungen rationaler Ordnung, einer egalitären Gesellschaft, einer homogenen Kultur und einer balancierten Persönlichkeitsstruktur, wie sie manche noch hegen mögen, damit als das erscheinen, was sie sind: pure Nostalgie.«

Reckwitz legt eine Gesellschaftstheorie vor, die den Wandel vom industriellen zum kulturellen Kapitalismus und damit einen umfassenden Kulturalisierungsprozess der neuen Mittelklasse diagnostiziert. Diese lebt und prägt Unverwechselbarkeit als Rollenmodell des richtigen Arbeitens, Wohnens und Essens. Nicht Waren sind knapp, sondern Wertschätzungen, die mittels Distinktion gewonnen werden. Maus Analyse verdeutlicht die Konsequenzen des permanenten Datensammelns und Quantifizierens. Die ihnen innewohnenden Wertungslogiken erzeugen gesellschaftlich wirksame Anerkennungs- und Selektionsmechanismen. Sie infrage zu stellen, ist kaum noch möglich, weil sich der Einzelne immer wieder auf Daten zurückgeworfen sieht: »Wenn jede Aktivität aufgezeichnet, registriert und in Bewertungssysteme eingeschrieben wird, verlieren wir die Freiheit, unabhängig von den darin eingelassenen Verhaltens- und Performanzerwartungen zu handeln.«

Beide Bücher liefern gerade in ihrer Unterschiedlichkeit durchaus desillusionierende Argumente zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Perspektiven des Politischen.

Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Suhrkamp, Berlin 2017, 308 S., 18 €. – Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp, Berlin 2017, 480 S., 28 €.

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