Drei bekannte Autoren um die 60 erleben das Unausweichliche – ihre Mutter stirbt. Didier Eribon hat eine autobiografisch konnotierte Gesellschaftsanalyse verfasst, Wolf Haas und Maxim Biller jeweils einen autofiktionalen Roman.
Den Tod des Vaters hatte Didier Eribon in Rückkehr nach Reims als Ausgangspunkt genommen, um seine proletarische Herkunft zu reflektieren, ebenso wie die frühe Flucht aus einem Milieu, das ihn wegen seiner Gewalt, seiner Unbildung, seines Rassismus, seiner Homophobie anwiderte. Erst die radikale Abkehr von seiner Familie und seinem Herkunftsmilieu eröffnete Eribon ein Leben als Homosexueller und Intellektueller. Das Buch in seiner Mischung aus persönlichem Erleben und Gesellschaftsanalyse überzeugte, erklärte es doch die Hinwendung der »einfachen Leute« zu den rechtsnationalen Kräften in Frankreich. Eribons Eltern waren einst Kommunisten gewesen, nunmehr bekannten sie sich wie auch seine Brüder zum Front National. Was Eribon einmal mehr abstieß, war zugleich der Stoff für seine Analyse.
Ein Leben als Arbeiterin
Mit Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben arbeitet der französische Soziologe ähnlich. Am Beginn steht der Umzug der Mutter in ein Pflegeheim in Fismes unweit von Reims. Peu à peu hatte sich Eribon nach dem Tod des verhassten tyrannischen Vaters seiner Mutter wieder angenähert, hatte sie gelegentlich angerufen und besucht. Sie erzählte dann wieder und wieder von ihrem Traum, Grundschullehrerin zu werden. Dass sie die Sekretärinnenschule abbrechen und als Hausmädchen arbeiten musste. Auch wegen ihres begabten Sohnes schuftete sie jahrelang in einer Pressglas-Fabrik, in der es der Werkstudent Didier Eribon nur wenige Tage aushielt. Nach einer lieblosen Ehe verliebte sie sich noch im hohen Alter, war emotional und auch sexuell glücklich. Auch davon handelt Eine Arbeiterin.
Altsein in unserer Gesellschaft ist eine oft entwürdigende Lebensphase.
Da der körperliche Verfall der 87-Jährigen voranschreitet, beschließen Eribon und seine Brüder, die Mutter in einem Heim unterzubringen. Eribon begleitet sie die ersten Tage und beobachtet ihre Abwehr. Seine Mutter »musste sich aber dem Unvermeidlichen fügen und konnte ihren Protest nur durch Tränen zum Ausdruck bringen«. Nun zielt Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben allgemein auf die Lage der Alten in unserer Gesellschaft, auf die letzte, oft entwürdigende Lebensphase. Die Altenheimbewohner würden belogen und ließen sich belügen, als glaubten sie je nochmals an ein Leben außerhalb.
Im Heim gibt sich die Mutter schon bald ganz auf. Nach sieben Wochen stirbt sie, ohne dass die beiden einander wiedergesehen hätten. Denn Eribon unternimmt gleich nach dem Umzug der Mutter eine längere Urlaubsreise, ist sehr beschäftigt. »Am Ende bin ich also nur zwei Mal in Fismes gewesen.« Dieser erste Satz des Buches wird zur Provokation. Zwar schildert Eribon die katastrophalen Zustände in französischen Altenheimen, die auch der Journalist Victor Castanet 2022 in Les Fossoyeurs (Die Sargnägel) angeprangert hat, die unausweichliche Gemeinschaftlichkeit und die entindividualisierenden Erfahrungen des Heimaufenthalts – eben all die Zwangselemente, denen Alte und Hochalte oftmals ausgesetzt sind: »Das System ist unmoralisch.« Er verwebt seine Analyse mit klug arrangierten Zitaten aus literarischen Werken, von Beckett über Coetzee und Hrabal, zitiert Simone de Beauvoirs Das Alter und Norbert Elias‹ Die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen.
»Ich bin zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zur ihr der geworden, der ich bin.«
Doch zur Brutalität dieses Textes gehört zu begreifen, dass Eribon der eigenen Mutter in deren letzten Lebenswochen fern blieb. »Noch lebend, sind sie bereits verlassen«, schrieb Elias über die Sterbenden. Die Beisetzung der Mutter besucht Eribon nicht, hält er Begräbnisse doch für ein leeres, ihm nicht gemäßes Ritual. Aber manchmal fliegen ihn »Alltagsszenen« an. Sie handeln von den Entsagungen der Mutter, aber auch von ihren Wutanfällen, vom ständigen Geldmangel. Mit diesen kurzen Passagen enthält Eribons Buch zehn, zwölf Inseln des Intimen in einem Meer von Reflexionen. »Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit Langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit. Mich schmerzt, wie viel Schmerz ihr mein Egoismus und meine Undankbarkeit zugefügt haben.« Eribon, dieser Intellektuelle, der sich immer für seine Mutter geschämt hat, zeigt sich am Ende selbst beschämt.
Schreibwettstreit zwischen Mutter und Sohn
Maxim Biller erfindet in seinem Roman Mama Odessa den Erzähler Mischa Grinbaum, der vom »scheußlichen, einsamen Tod« der Mutter schreibt. Sie hatte viele Jahre im Hamburger Grindelviertel gelebt. Ausgerechnet in Deutschland war sie, Aljona Grinbaum, hängengeblieben, als sie mit Mann und Sohn 1971 aus Odessa geflohen war. Ihren Mann, den Zionisten, zog es eigentlich nach Israel, doch es kam anders. Anders als bei Didier Eribon und Wolf Haas ist auch das Milieu, in dem Mischa aufwächst. Aljona Grinbaum, die an der Hamburger Universität arbeitet, ist gebildet und belesen. Sie schreibt wie beiläufig, im Auto auf dem Parkplatz, während ihr Mann im Supermarkt einkauft. Ihre Geschichten erzählen von Odessa, das sie vermisst, von ihrer Familie, vom Massaker an Juden auf dem Tolbuchinplatz 1941, von selbst erlebten antisemitischen Übergriffen und der Observierung durch die Sicherheitspolizei. »Erfinden konnte meine Mutter beim Schreiben nie – nur ab und zu etwas verschweigen.« Ihre Geschichten schweigen vom Nervenkampfstoff, der ihr in der kasachischen Steppe die Lungen verätzte, oder vom Satz einer Nachbarin im noblen Stadtteil Rotherbaum: »Ihr seid nette Juden«.
Aljona klagt: »Ich wollte nie weg.« Die »verunglückte Ehe der Eltern« zerbricht. In immer neuen Wendungen verdeutlicht Mama Odessa die Lebensbrüche der Figuren, die wiederum zu weiteren Brüchen führen – in der Beziehung zu anderen wie zu sich selbst. So vertraut Mischa den meisten Menschen in seinem neuen Land nie mehr wirklich. Da er fortgesetzt mit dem eigenen Schreiben oder einer schwierigen Beziehung oder seiner Hypochondrie beschäftigt ist, registriert er die gesundheitlichen Probleme seiner Mutter nur nebenbei. Bei einem Besuch sieht er die Windeln in ihrem Badezimmer. Als ihr das Atmen immer schwerer fällt, wohnt fortan eine Pflegerin bei ihr. Sie leidet sehr, und Mischa ist zeitweise an ihrer Seite. Wie sie stirbt, spart der Roman aus. Nach ihrem Tod findet er zahlreiche Briefe, die sie ihm geschrieben und schon frankiert, aber nie abgeschickt hat. Jetzt kann er sie lesen, kann Erinnerungen zulassen: »Seit meine Mutter gestorben war, flackerten immer wieder Sekunden, kurze Bilder und Szenen von ganz früher in meinem Kopf auf.«
»Die Mutter habe ihn gelehrt, dass man sich nichts wirklich ausdenken müsse.«
Die Schreibverwandtschaft zwischen Mutter und Sohn schwingt immer mit, mehrere kurze Geschichten von ihr sind – kursiv gedruckt – in den Roman eingeschrieben: »Was wäre aus mir und Mama geworden, wenn wir nie weggegangen wären? Hätte auch nur einer von uns ein Buch geschrieben und veröffentlicht?« Die Mutter habe ihn gelehrt, dass man sich nichts wirklich ausdenken müsse, sagt der Erzähler Mischa. Der Autor Maxim Biller ignoriert in Mama Odessa diese Maxime. Er erzählt vielmehr Halberfundenes und entwirft so seine Lebensgeschichte neu – und auch die seiner realen Mutter Rada Biller. Er selbst wurde mitnichten in Odessa, sondern in Prag geboren, von wo die Eltern mit ihm nach Hamburg flohen. Diese geografisch-mentale »Verschiebung« zeigt Billers Verbundenheit mit der Ukraine angesichts des russischen Angriffskrieges. Sein Mutter-Roman bietet einen wilden Ritt durch Persönliches und Politisches in einem grausamen Jahrhundert, aber eben auch einen Schreibwettstreit zwischen Mutter und Sohn. Der endet wie im Märchen. Der Großvater hatte dem elfjährigen Mischa nämlich anvertraut, seine Mutter habe schon immer Schriftstellerin sein wollen. »Aber du bist noch talentierter als sie.«
Das Sterben der Mutter
Wolf Haas hält es mit Fontane: »Immer enger, leise, leise/Ziehen sich die Lebenskreise«. Eigentum beginnt drei Tage vor dem Tod der Mutter. Marianne Haas stammt aus einem Dorf bei Salzburg. Sohn »Wolfi« aus Wien ist bei ihr: »Sie hatte keine starken Schmerzen und auch keine richtige Krankheit, außer eben das Alter.« Sterbensmüde lebt die fast 95-Jährige schon länger im Heim, da ihr die Wohnung gekündigt worden war. Sein Buch über das Sterben der Mutter solle kurz werden, erklärt Haas, als wolle er jede Sentimentalität vermeiden: »Ein schneller Text. Bis zum Begräbnis bin ich fertig, und dann bin ich es los, die Erinnerung und alles.« Haas »strickt das Leben der Mutter nach«, wie im Zeitraffer und in einem Schelmenton, der das Schwere leicht erscheinen lässt.
Ein von Plackerei und Mangel bestimmtes Leben.
Marianne Haas arbeitet als Kellnerin in der Schweiz. Nach dem Krieg steht sie in Diensten der amerikanischen Briefzensur, wo sie Tag für Tag tippt, mit Durchschlag. Ihr Refrain dieses von Plackerei und Mangel bestimmten Lebens lautet: »arbeiten arbeiten arbeiten«. Stets wiederholt sie: »Dann ist die Inflation gekommen und das Geld war hin« – hin waren damit auch alle Anstrengungen, es durch Strebsamkeit und Fleiß zu Eigentum zu bringen. Ihre triadischen Litaneien »waschen putzen bügeln«, »kochen stricken nähen«, jede Nuance ihres Tonfalls hätten ihn wehrlos gemacht. Aber er habe auch sehr früh gespürt, dass Sprache eigentlich Musik sei: »Schon in der Fruchtblase hatte ich mich eingeschwungen.«
So leichthin streut Wolfi seine Erinnerungen ein und beobachtet genau. Das Altenheim ist vormals die Geburtsklinik gewesen, in der er zur Welt kam. Beim Gang ins Heimatdorf legt er also den umgekehrten Weg zurück wie die Mutter einst vor seiner Geburt. Den Friedhof inmitten des Dorfes konnte er vom Fenster seines Jugendzimmers sehen. Jetzt sieht er, dass das Mietshaus, in dem sie gewohnt hatten, mitnichten abgerissen, sondern dem Hotel nebenan zugeschlagen wurde.
Kann man vom Leben schreiben?
Oft kommt Haas trotz aller Konzentration auf die Mutter seine Poetikvorlesung in den Sinn. Der Titel steht schon: »Kann man vom Leben schreiben?« Welche Ironie, schreibt er doch über’s Sterben. Wen wundert’s, er preist die Nützlichkeit der Wiederholung: »Man wiederholt einfach den täglichen Refrain, ohne überzüchteten Inhaltismus. Wie geht es dir? Gut! Herzliches Beileid. Danke.« Die Poetikvorlesung drängt. Drei Mal (!) flicht Haas eine Brecht-Sentenz ein, spielt auf H.C. Artmann an, erwähnt Robert Walser. »Lass weg, Haas!«, mahnt Ernst Jandl aus dem Poeten-Himmel. Weglassen kann Haas, schon wegen seiner Herkunft aus einfachen Verhältnissen. Am Ende hat die Mutter ihre Grabgrube als einziges Eigentum. Der Sohn aber besitzt nun ihren »sehr schön geschriebenen Brief« – ihr erfolgreiches Gesuch um eine Sozialwohnung. Den Durchschlag hatte sie zeitlebens aufbewahrt.
Eigentum ist ein dialogischer Wechselgesang aus dem Gedankenstrom Wolfis während der Sterbetage und den Lebenssätzen der Mutter in Pinzgauer Mundart. Wir hören ihre Stimme und verstehen: Ihr verdankt er sein Schreiben. Mehr noch. Eigentum erzählt von einem Abschied – und enthält dabei zugleich auch die Poetik von Wolf Haas.
Wie unterschiedlich Trauer sein kann! Die drei Bücher bezeugen die Schwere des Verlusts allein dadurch, dass sie überhaupt geschrieben wurden. Doch möchte man dem herzenskalten Eribon mit Martin Buber zurufen: »Der Mensch muss Du sagen, um Ich zu werden.« Und dem egozentrischen Biller mit Peter Rühmkorf wünschen: »Komm raus aus deiner Eber-Einzelbucht«. Allein Haas berührt. Traurige Bücher werden eben nicht nur aus Worten, sondern auch aus Gefühlen gemacht.
Wolf Haas: Eigentum. Hanser, München 2023, 160 S., 22 €.
Maxim Biller: Mama Odessa. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 240 S., 24 €.
Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, Berlin 2024, 272 S., 24 €.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!