Menü

Die westliche Demokratie in der Krise Partizipation vs. Wohlstand

Als 1989/90 die Regime des real existierenden Sozialismus zusammenbrachen, wurde das von vielen Menschen als nachhaltige Bestätigung dafür angesehen, dass Demokratie und Wohlstand untrennbar zusammengehören. Dauerhafter Wohlstand sei nur dort zu finden, wo die Bevölkerung durch politische Partizipation die Chance hätte, Zufriedenheit mit der Regierung oder Unmut über sie folgenreich zu artikulieren. Zugleich, so die ergänzende Annahme, bringe die ständige Beteiligung an Entscheidungsprozessen bei den meisten Menschen Umsicht, Urteilsvermögen und Verantwortungsbewusstsein hervor, was wiederum der Sicherung des Wohlstands zugutekäme. Dass autoritäre Regime dazu nicht in der Lage wären – dafür war der Zusammenbruch des Realsozialismus ein schlagender Beweis. Der Wettkampf der Systeme, der über 70 Jahre ausgetragen worden war, schien damit endgültig entschieden: Es gab zur Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft – beziehungsweise Kapitalismus – keine grundsätzliche Alternative. Francis Fukuyama hat diese Vorstellung damals auf die Formel vom »Ende der Geschichte« gebracht.

Der Sieg über den lange Zeit so bedrohlichen Kontrahenten verstellte jedoch den Blick für die Voraussetzungen des Zusammenspiels von politischer Partizipation und Wohlstandssteigerung. Ob es die Zügelung des Kapitalismus durch die Konkurrenz der sozialistischen Gegenwelt war, wie das seit dem Platzen der US-Immobilienblase, den Turbulenzen der Finanzmärkte und der anschließenden Wirtschaftskrise einige behaupteten, mag dahingestellt bleiben. In Deutschland, Frankreich und Italien ist trotz der angeblich vorherrschenden neoliberalen Ideologie der Sozialstaat keineswegs eingedampft worden, sondern sein Umfang weiter gewachsen. Die Bundesrepublik hat sich das infolge einer seit einigen Jahren guten Wirtschaftsentwicklung leisten können, während in Italien und Frankreich die Staatsausgaben immer drückender geworden sind. Und doch haben sich gerade dort rechts- wie linkspopulistische Parteien etabliert, die von einer wachsenden Unzufriedenheit vor allem in der unteren Mittelschicht profitieren, weil dort die Einkommen seit etwa zwei Jahrzehnten stagnieren. Im Verhältnis zu den schwindelerregend gestiegenen Einkommen anderer Gruppen der Gesellschaft läuft das auf erhebliche Wohlstandsverluste hinaus. Mit schwindender Aussicht, dass sich daran etwas ändern werde, wuchs die politische Unzufriedenheit – zunächst in Gestalt schrumpfender Wahlbeteiligung, später im rasanten Anwachsen populistischer Bewegungen.

Verlust der Mitte

Offensichtlich ist bei der Feier einer Verbindung von Demokratie und Marktwirtschaft etwas vergessen worden, das der Zweierbeziehung erst Halt und Stabilität verliehen hat, nämlich eine starke gesellschaftliche Mitte, die sich als dauerhafte Profiteurin der Verbindung von Demokratie und Marktwirtschaft begreift. Blickt man auf die sozialökonomische Entwicklung der westeuropäischen Staaten von den 50er bis in die frühen 90er Jahre zurück, war dies eine auf realen Prozessen beruhende Selbstwahrnehmung: Der wachsende Wohlstand wurde zwar auch damals ungleich verteilt, jedoch in solcher Weise, dass die Schichten der gesellschaftlichen Mitte dies als kollektiven Aufstieg erfahren konnten. Die kollektive Erfahrung der Wohlstandssteigerung wurde durch individuelle Aufstiege ergänzt, bei denen vor allem bessere Bildungsabschlüsse eine wichtige Rolle spielten. So entstand eine gesellschaftliche Mitte, die für politische Stabilität sorgte. Diese zeigte sich wiederum in einem stabilen Parteiensystem. Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein, schon gar nicht in Frankreich und Italien, nicht einmal in den Niederlanden und Skandinavien, und auch nicht in Deutschland, wo vor allem die Sozialdemokratie zur Leidtragenden der jüngsten Entwicklung und der aus ihr erwachsenen Unzufriedenheit geworden ist.

Über die Ursachen für die Erosion der gesellschaftlichen Mitte und die wachsende Spreizung der Einkommen in der Gesellschaft ist zuletzt viel diskutiert worden. Dabei wurden vor allem zwei Ursachen geltend gemacht: die rasant gewachsene Verflechtung der Weltwirtschaft, in deren Folge die Kontrollmacht und Regulationsfähigkeit des Staates immer weiter geschrumpft ist und zum anderen das Verschwinden der klassischen Industriegesellschaft und deren Ablösung durch eine Dienstleistungsgesellschaft, in der das »Normalbeschäftigungsverhältnis« immer seltener geworden ist. Die gesellschaftliche Mitte beruht jedoch auf eben diesem »Normalbeschäftigungsverhältnis«, und die schwindenden Einflussmöglichkeiten des Staates führen dazu, dass er die sozioökonomischen Entwicklungen nicht mehr in der Weise kontrollieren und korrigieren kann, wie das in den vier goldenen Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Im Gefolge der wirtschaftlichen Globalisierung ist der Reichtumsabstand zwischen den Schwellenländern und den alten Industrieländern geringer geworden, während die soziale Spreizung in den Ländern des nach wie vor reichen Nordens größer geworden ist. Daher wünschen sich viele einen »starken Staat« zurück: als Bollwerk gegen die Globalisierung und als Ausgleichsinstanz gegen soziale Spreizung. Und überhaupt als Instanz gegen Kontrollverlust.

Die Brexit-Entscheidung der Briten, die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, die Unterstützung, die Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan in ihren Bevölkerungen genießen, die Formierung nationalprotektionistischer Regierungen in Polen, Ungarn und weiteren EU-Ländern Mitteleuropas sowie die starke Stellung rechtspopulistischer Bewegungen in vielen Ländern Westeuropas – all das ist ein Ausdruck dieses Wunsches nach Rückgewinnung des Staates als schützende und sorgende Macht. Weil das jedoch nicht so schnell und leicht zu haben ist – wenn es denn überhaupt noch zu haben ist –, begnügen sich viele einstweilen mit autoritären Politikern, die zumindest durch ein aggressives Auftreten nach außen zeigen, dass sie die Interessen des eigenen Landes schützen wollen und durch patriarchales Gebaren nach innen den Eindruck erwecken, sich um die Nöte und Sorgen der Menschen zu kümmern. Die autoritäre Vatergestalt ist dadurch der strategische Vorgriff auf die Rückkehr von »Vater Staat«, in dessen Geborgenheit viele zurückwollen.

Autoritäre Verheißungen

In mancher Hinsicht sind China und Russland die Blaupausen dessen, was entstehen wird, wenn sich diese Entwicklung durchsetzt: die Fortdauer der Einkommens- und Vermögensspreizung, eine infolge unkontrollierter Macht zutiefst korrupte wirtschaftliche und politische Elite und die Ruhigstellung der Bevölkerung durch eine Mischung aus demonstrativen Wohltaten und allgegenwärtiger Unterdrückung. In Ländern, die nie über längere Zeit eine funktionierende Verbindung von politischer Partizipation und wirtschaftlicher Aufwärtsentwicklung erlebt haben, wie Russland und die Türkei, ist das bloß eine neue Variante des seit jeher Gewohnten. Die Unzufriedenen verlassen das Land, ansonsten herrscht Ruhe. Sehr viel spannender ist die Entwicklung dort, wo eine durch populistische Bewegungen zeitweilig erhöhte Wahlpartizipation dazu benutzt wird, die partizipative Demokratie schrittweise auszuhöhlen. Das Versprechen einer gerechteren Wohlstandsverteilung dient dabei als Hebel, mit dem die politische Unterstützung für dieses Vorhaben mobilisiert wird.

Hier gerät die Politik unter Legitimationsdruck, dem sie unter demokratisch-rechtsstaatlichen Bedingungen auf Dauer nicht gewachsen ist. Das Wohlstandsversprechen – in der Regel in der reduzierten Variante einer Rückkehr der alten industriellen Arbeitsplätze – wird dabei zum Bumerang gegen die eigene Politik. Populisten an der Macht werden die politischen Partizipationsmöglichkeiten zunehmend kappen, da das populistische Projekt ansonsten zu einem von den Wählern nach einiger Zeit wieder beendeten Intermezzo wird. Welches der beiden Szenarien eintritt, hängt von den demokratischen Traditionen und der politischen Kultur des betreffenden Landes, aber auch von der politischen Urteilskraft der Wähler ab. Was wir zurzeit beobachten, sind Versprechen auf schnelle Wohlstandssteigerungen der unteren Mittelschicht, die auf diese Weise dazu gebracht werden soll, die Chancen der politischen Partizipation zu nutzen, damit diese auf Dauer eingeschränkt werden kann. Das ist die gegenwärtige Krise der Demokratie. Über ihren Ausgang entscheidet, mit wie viel historischer Erinnerung und wie viel Langfristigkeit bei der Zukunftsperspektive die Bürgerinnen und Bürger ihre Entscheidungen treffen. Entscheidend wird dabei sein, ob die etablierten Parteien es schaffen, der unteren Hälfte der gesellschaftlichen Mitte wieder Zukunftsvertrauen und die Aussicht auf eine faire Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand zu vermitteln.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben