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Jochen Hörisch reflektiert über eine riskante Beziehung Poesie und Politik

Der Satz »Gestern regnete es in Rom«, so konnte man in den 90er Jahren im Einführungskurs in die Literaturtheorie an der deutschen Universität lernen, ist ein Satz, der seinen Wahrheitsanspruch für unser aller Lebenswirklichkeit nur geltend machen kann, nur sinnvoll überprüfbar ist, wenn er in einem nichtliterarischen Kontext geäußert wird. Liest man ihn dagegen in einem Roman, einem Gedicht oder einem Theaterstück, käme niemand auf die Idee, bei einem in Rom lebenden Bekannten nachzufragen, wie denn das Wetter am Vortag tatsächlich gewesen ist.

Die Einigkeit darüber, dass Letzteres unsinnig wäre, die Verpflichtung der Literatur auf eine andere als die empirisch nachprüfbare Sphäre, nimmt zugleich der Literatur aber nichts von ihrem Wahrheitsanspruch. Wenn wir einen Roman lesen, glauben wir innerhalb seiner Sphäre, was wir lesen, und das unter Umständen umso mehr, umso überzeugender ein Text lügt oder fabuliert. Nach der getroffenen Entscheidung, das Erzählte als Produkt der Vorstellungskraft des Dichters aufzufassen, als Fiktion, und es als wahr im Rahmen unserer Vorstellungskraft zu betrachten, hinterfragen wir in der Regel nicht mehr diese Wahrheit, wir betrachten sie für den Roman als gesetzt. So weit, so (idealtypisch) klar.

In den vergangenen Jahren ist infolge einer zunehmenden Politisierung der künstlerischen Sphäre auch die Literatur – und nicht nur sie – zunehmend ins Visier vieler geraten, denen politische Korrektheit ein wichtiges und berechtigtes Anliegen ist. Das ist gut so. Die Diskussion um Gesinnung und Kunstproduktion brandet dabei nicht selten rasch sehr hoch auf, und das oft aus triftigem Grund. Wie aber kommt es dazu, dass wir Dichtern eine besondere Autorität auch in politischen Belangen zugestehen, wie ist dieses Phänomen historisch einzuordnen und wie verschafft man sich Klarheit über die Frage nach dem Umgang mit politischen Äußerungen von Schriftstellern?

Jochen Hörisch, Professor emeritus für Germanistik und Medienwissenschaft an der Universität Mannheim, hat diesen Konnex und die daraus resultierenden Fragen nun in seiner Essaysammlung Poesie und Politik genauer unter die Lupe genommen, und unternimmt damit den wichtigen Versuch, etwas Licht ins Dunkel der Allianz von Poesie und Politik zu bringen. Er stellt an den Beginn seiner Überlegungen die Entscheidung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, die Auszeichnung für Literatur 2019 an Peter Handke zu vergeben, der den Milizenführer Radovan Karadžić besucht hatte, der wiederum später in letzter Instanz vom UN-Kriegsverbrechertribunal wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Die Diskussion um Handkes Haltung, so Hörisch, werfe die Frage auf, ob abwegige, gar schockierende politische Äußerungen beziehungsweise das Engagement eines Dichters dessen poetisches Werk diskreditieren, oder ob das Werk jenseits der politischen Überzeugungen eine Geltung sui generis hat. Daraus, so Hörisch, resultiere die zweite Frage, ob man überhaupt gut beraten sei, wenn man politische Äußerungen von Dichtern ernst nimmt, ihnen ein besonders Gewicht beimisst, ihnen Vertrauen entgegenbringt.

Wie brisant diese Frage ist, zeigte sich auch nach Erscheinen des Buches vergangenen Oktober. Da ereignete sich nämlich erneut ein Fall solcher Polarisierung: Nach der Erklärung des Stockholmer Komitees, der Nobelpreis für Literatur gehe 2022 an die französische Autorin Annie Ernaux, brandete wenige Stunden später erneut eine Welle der Empörung auf: Ernaux hatte laut einem Artikel in der Jerusalem Post mehrere Petitionen der umstrittenen und schwer greifbaren, antiisraelischen und vom Bundestag als antisemitisch eingestuften BDS-Bewegung unterzeichnet, die Israel kulturell, politisch und wirtschaftlich isolieren will.

Im Mai 2019 hatte Ernaux zusammen mit über 100 anderen französischen Künstler/innen einen Brief unterschrieben, in dem sie zum Boykott des Eurovision Song Contest aufrief, der in Tel Aviv stattfand. Und 2018 hatte sie gemeinsam mit etwa 80 anderen Kulturschaffenden einen weiteren Brief unterschrieben, der sich darüber empörte, dass das Image des Staates Israel in Frankreich beschönigt dargestellt werde. In einem anderen Brief wurde die Freilassung des libanesischen Aktivisten Georges Abdallah gefordert.

Keine Kausalbeziehung

Erneut wurde und wird diskutiert, welche Verbindungen zwischen Poesie und Politik hier bestehen und wie sie zu bewerten seien. Jochen Hörisch bezieht in dieser Frage klar Stellung: »Zwischen der poetischen Qualität eines Werkes und der politischen Kompetenz und Urteilskraft seines Autors besteht kein Zusammenhang, geschweige denn eine Kausalbeziehung. Produktive, gute, selbst großartige Autoren können verstörende, diagnostisch falsche, prognostisch blamable, ethisch inakzeptable, hochgradig unsensible bis zynische politische Einschätzungen von sich geben.« Umgekehrt gelte aber auch, dass Dichter, die im besten Sinne politisch korrekte Einschätzungen vorweisen können, im Hinblick auf die poetische Qualität ihrer Werke nicht automatisch die besseren Dichter seien.

Auch die Antwort auf die Frage nach der spezifischen Kompetenz von Dichtern und Dichtung in politics fällt bei Hörisch klar und deutlich aus: Die sogenannte schöne Literatur sei auf nichttriviale, überraschende, so reizvolle wie aufreizende Wahrnehmungen, Geschichten, Erklärungs- und Verständigungsmodelle fokussiert. Wer bei der Lektüre eines Textes den oben genannten Schritt vollzogen habe, den empirischen Wahrheitsanspruch einer literarischen Aussage außer Kraft gesetzt, sich mit dem eingelassen habe, was Hörisch die Fiktionszumutung nennt, wird nicht länger auf die Idee kommen können, die Dichter wüssten es sonderlich besser -- im Gegenteil!

Und er weist nach, wie viele der besten und weniger guten Dichter und Dichterinnen von Johannes R. Becher, Thomas Mann, der den Ersten Weltkrieg ebenso befürwortete wie Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke, Luise Rinser, die dem Nationalsozialismus zusprach, Ezra Pound, der sich als Faschist positionierte, sich in politischen Fragen auf teilweise höchst peinliche, lächerliche oder gar verstörende Weise geirrt beziehungsweise verirrt haben, und mit politischen diskreditierenden Aussagen an die Öffentlichkeit getreten sind: »Wer sich in politischen Fragen großen Dichtern anvertraut«, so Hörisch, »muss mit schweren Enttäuschungen rechnen«.

Woher rührt nun aber die Zuschreibung einer besonderen politischen Kompetenz zu Dichtern und Dichterinnen? Zum einen, so Hörisch, ganz basal an deren Instrument, der Sprache, die sie selbstredend auch außerliterarisch einsetzen und die prinzipiell alle teilen, zum anderen aber an einer Annahme, die unter dem griechischen Begriff Kalokagathie gefasst ist. Der Begriff bezeichnet die Bereitschaft zu glauben, das Schöne, das Wahre und das Gute bildeten eine Heilige Dreifaltigkeit. Der Begriff hat eine über 2.500 Jahre alte Tradition. Er fällt im Phaidros-Dialog von Platon, in dem es heißt: »Das Göttliche nämlich ist das Schöne, Weise, Gute und was dem ähnlich ist.« Hier liegt die Quelle, Kunst als eine Art Religion zu betrachten, ihren Sätzen zu glauben.

Doch Hörisch weist darauf hin, dass bereits an dieser Stelle eine gewisse Ironie mit im Spiel, beziehungsweise den Redenden das Sprachspielerische der Dichtkunst höchst bewusst ist, vor allem aber, dass in dem Begriff selbst lediglich das Gute und das Schöne auftauchen, um die angenommene Dreiheit zu bezeichnen, das Wahre aber fehlt – ganz so, als sei der Verdacht, etwas an der Formel könne unwahr sein, schon in ihr angelegt ist.

Und dennoch: Als Idee war die Kalokagathie von Beginn an so bestechend, dass sie sich allen naheliegenden Einwänden zum Trotz als sehr zählebig erwiesen hat. Aus der Kombination der Kalokagathie, der öffentlichen Position und bisweilen der Prominenz des Dichters, der im besten Fall wie Johann Wolfgang von Goethe in Weimar oder Émile Zola auch ein erfolgreicher Politiker war, verführte zu der Annahme, Dichter seien vielleicht doch besonders geeignet in der Rolle des Staatsmannes oder der Staatsfrau.

Aber auch aus der psychologisch respektive psychoanalytisch fundierten Annahme, dass Literatur Ungesagtes und Untersagtes mittransportiert, aus dieser Überlagerung so unterschiedlicher Faktoren von historischer, gesellschaftlicher, psychologischer und philosophischer Dignität lasse sich, so Hörisch, ableiten, warum die Dichtung und ihre Hervorbringungen es verdienen, ernst genommen zu werden, gerade weil wir sie nicht ganz ernst nehmen, ihre Täuschungsabsichten nicht nur billigend, sondern gerne in Kauf zu nehmen bereit sind, obwohl oder gerade weil Dichter Dilettanten sind.

Wenn sich die Faktoren günstig mischen, kommt im Idealfall ein literarischer Text zustande, in dem sich Poesie und Politik glücklich ergänzen. Jochen Hörisch führt hier als Beispiel den Essay Bruder Hitler von Thomas Mann an. Manns Ansprache an den gescheiterten Künstler Hitler verwandelt sich darin zur Reflexion auf Manns Hass und führt zu der Erkenntnis, es mit einem »gespenstisch nahen Bruder« zu tun zu haben. Das Skandalöse von Manns Beobachtungen wird durch die ästhetische Bedeutsamkeit des Textes und nicht zuletzt auch durch Thomas Manns Autorität als Schriftsteller in Balance gehalten.

Im Anschluss an die Lektüre von Hörischs eingängig zu lesendem Buch dürften sich manche Debatten über politische Stellungnahmen von Dichtern etwas gelassener führen lassen, dürfte sich ihre Analyse erleichtern, weil einem die Bedingungen dieser Rede begrifflich gefasst und damit deutlich klarer geworden sind. Material für Debatten über die Allianzen von Politik und Poesie sind ausreichend vorhanden, insbesondere, wenn es sich um Redebeiträge handelt, die dezidiert auch politische Positionen von ihren Urhebern wenn nicht explizit einfordern, so doch nahelegen. Ein gutes Beispiel aus jüngster Zeit wäre etwa die Rede von Serhij Zhadan, die dieser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2022 gehalten hat.

Jochen Hörisch: Poesie und Politik. Szenen einer riskanten Beziehung. Carl Hanser, München 2022, 160 S., 24 €.

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