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Helmut Böttiger über die Literatur der 70er Jahre Porträt einer Epoche

Als junger Redakteur besuchte ich im Herbst 1976 eine Lesung des Schriftstellers Alfred Andersch, danach saßen wir im Gespräch zusammen, in dem es natürlich auch um Literatur ging. Gerade war der Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte von Nicolas Born erschienen, den meine Kollegin Gisela Lindemann überschwänglich lobte: Darin sei ein ganz neuer Ton, etwas Innerliches, Sehnsüchtiges, zutiefst Empfindsames. Andersch, einer der Altmeister der westdeutschen Nachkriegsliteratur, verharrte einen Augenblick betroffen und stumm, dann sagte er abwehrend: »Ja, ich weiß, das ist die neue Subjektivität.« Der Satz grub sich in mein Gedächtnis ein, vielleicht weil ich, wenn auch gefangen »im Dunkel des gelebten Augenblicks« (Ernst Bloch), einen Flügelschlag der Literaturgeschichte zu spüren meinte.

Fast ein halbes Jahrhundert später macht der Literaturkritiker Helmut Böttiger die hier beschriebene Erfahrung zur Grundlage eines literaturhistorischen Buches. Es trägt den Titel Die Jahre der wahren Empfindung und beschreibt die Literatur der 70er Jahre als eine »wilde Blütezeit der deutschen Literatur«. Der Titel enthält eine zweifache Anspielung: zunächst auf Hubert Fichtes vielbändiges Buchprojekt einer Geschichte der Empfindlichkeit, die in den 70er Jahren entworfen, aber nie ganz zu Ende geführt wurde (Fichte starb 1986 im Alter von 50 Jahren), sodann auf Peter Handkes 1975 erschienenen Roman Die Stunde der wahren Empfindung.

Gregor Keuschnig, der Protagonist des Buches, sieht sich darin mit der plötzlichen Erkenntnis konfrontiert, in einer Welt zu leben, in der die Menschen, wie es heißt, »nur AUSWENDIG gelernt hatten, WIE MAN LEBEN VORTÄUSCHTE…« Diese Lebensform der Lebensvortäuschung, vom Autor durch Großbuchstaben hervorgehoben, ist für ihn schlagartig vorbei, aus den Angeln gehoben durch einen einzigen Augenblick »wahrer Empfindung«. Danach heißt es: »Auf einmal gehörte er nicht mehr dazu.«

Peter Handke ist die heimliche Hauptfigur von Böttigers Buch, sein Name wird darin immer wieder genannt, und er wird auch am ausführlichsten porträtiert. »Es ist im Nachhinein kaum zu erfassen«, so beginnt das ihm gewidmete Kapitel, »welche Bedeutung der junge, etwas linkisch daherkommende Schriftsteller Peter Handke Anfang der siebziger Jahre hatte«. Das bringt Handkes ersten öffentlichen Auftritt einige Jahre zuvor bei der Gruppe 47 in Erinnerung, als er in Princeton die »Beschreibungsimpotenz« der damals etablierten Autoren verspottete. Zunächst ließ sich dieser Auftritt als kalkulierter Skandal abtun, aber schon bald erkannte man darin die Unmutsreaktion eines jungen Autors, der ein anderes literarisches Konzept verfolgte. Schon bald darauf stieg er zur Portalfigur jener »neuen Subjektivität« auf, die das folgende Jahrzehnt so maßgeblich bestimmte.

Auch Nicolas Born hätte zu einer solchen Portalfigur werden können, zumal nach seiner freundschaftlichen Verbindung mit Handke Mitte der 70er Jahre, aber er starb zu früh, im Alter von nur 41 Jahren, um sein literarisches Potenzial ganz ausschöpfen zu können. Mit dem Gedichtband Das Auge des Entdeckers hatte er 1972 debütiert, vier Jahre später erschien sein Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte – Böttiger nennt ihn »einen der beeindruckendsten, zerrissensten, tiefgehendsten und ratlosesten Romane« dieser Jahre. Bereits der Titel war eine große Metapher für das, »was das Individuum ausmacht« und »was nicht in allgemeinen Anschauungen aufgeht«. In diesem Sinn war der Roman eine Reaktion auf die theorielastigen 60er Jahre. Diese hatten nach dem politischen Aufbruch von 1968 nur soziologische Begriffshülsen übriggelassen und literarisch in die Erstarrung geführt.

Zäsuren und Unschärfen

»Die siebziger Jahre begannen 1968, und sie endeten vermutlich im Jahr 1981«, schreibt Böttiger am Ende seines Buches. So jahreszahlgenaue Epocheneinteilungen sind immer problematisch, denn die Übergänge sind meist fließend: Das Neue ist niemals völlig frei von den Spuren des Vergangenen, und das Kommende kündigt sich im Früheren meist an. Eine gewisse Asynchronizität kommt hinzu, denn Böttiger behandelt neben der Literatur der Bundesrepublik auch die Literatur der DDR – beider Abläufe sind nicht einfach zu parallelisieren. Andere Unschärfen kommen hinzu.

Ausführlich wird das Verhältnis Thomas Bernhards zu seinem Verleger Siegfried Unseld beschrieben, aber dessen sadistische Komponente hatte mehr mit den beteiligten Personen als mit den 70er Jahren zu tun. Arno Schmidts 1970 publiziertem Roman Zettels Traum widmet Böttiger ein eigenes Kapitel, aber das macht Schmidt nicht zu einer prägenden literarischen Figur der 70er Jahre. Vielmehr hatte er mit seinen späten Typoskriptromanen seine Rolle als anregender Außenseiter unserer Nachkriegsliteratur weitgehend ausgespielt. Dagegen gehört Peter Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands zweifellos in die 70er, doch steht dieses monumentale Werk eher fremd im Jahrzehnt der »wahren Empfindung«.

Gleichwohl hat die Zäsur des Jahres 1968 eine gewisse Plausibilität, während 1981 als literarische Epochenwende nicht unmittelbar einleuchtet. Böttiger schreibt zur Begründung: »Zu diesem Zeitpunkt erschien ›Paare, Passanten‹ von Botho Strauß. Es war ein Fanal. In kurzen Prosasplittern zeigte der Autor, wie man sich mittlerweile heillos in den neugeschaffenen Beziehungsproblemen und Konsummöglichkeiten verhedderte (…) Damit waren die siebziger Jahre vorbei.«

Hier wird die Rolle eines einzelnen Buches zweifellos überbewertet. Auch wenn die 70er Jahre vorbei waren, so lebten doch einige ihrer literarischen Exponenten weiter, teilweise noch sehr lange, wie Christa Wolf und Günter Grass, und einige leben noch heute wie der jetzt 95-jährige Martin Walser oder wie Peter Handke, der 2019 den Nobelpreis für Literatur erhielt, 44 Jahre nach Publikation des Romans Die Stunde der wahren Empfindung. Diese Stunde ist für ihn bis heute nicht völlig abgelaufen.

Im Unterschied zu akademischen Literaturgeschichten ist Böttigers Buch weder auf Vollständigkeit erpicht noch auf abschließende historische Einordnung und Bewertung. Es ist eher eine Sammlung von Essays, die in lockerer Folge aneinandergereiht sind, prägnant einsetzend mit dem geplanten Puddingattentat auf den US-Vizepräsidenten Hubert H. Humphrey durch die Berliner Kommune 1, die die Wohnung des damals in New York lebenden Uwe Johnson besetzt hielt. Es bringt die kulturrevolutionäre Stimmung der späten 60er Jahre in Erinnerung, die Hans Magnus Enzensberger in einem literarischen Manifest auf die Formel zuspitzte: »Wer Literatur als Kunst macht, ist damit nicht widerlegt, er kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden.«

Statt »Kunst« verlangt er: Pamphlete, Flugblätter, agitatorische Druckschriften, instrumentelle Literatur, Literatur als Mittel »politischer Alphabetisierung«. Peter Schneiders Erzählung Lenz, der das zweite Kapitel von Böttigers Buch gewidmet ist, konnte 1973 nur deshalb als Weckruf wirken, weil sie nach der Phase so wilder Politisierung die Leerstelle der Gefühle aufdeckte, die plötzlich spürbar wurde und für die die richtigen Worte noch nicht gefunden waren. Merkwürdig, dass der Avantgardist der neuen Subjektivität später nichts Vergleichbares folgen ließ und hauptsächlich als politisierender Schriftsteller wirkte.

Das Aroma einer Blütezeit

Die 27 Kapitel des Buches sind unterschiedlich angelegt, mal als Einzelporträts (Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann, Heiner Müller, Hubert Fichte und andere), mal als Gruppenbild (Christa Wolf und Sarah Kirsch, Franz Fühmann und Volker Braun, die Nobelpreisträger Heinrich Böll und Günter Grass), mal als thematische Darstellung (alternative Zeitschriften und Verlage oder schreibende Frauen und der schwierige Prozess weiblicher Selbstfindung). Das Kapitel »Klassenliebe« vereinigt so unterschiedliche Autorinnen wie Karin Struck, Verena Stefan, Brigitte Schwaiger, Elfriede Jelinek und Gabriele Wohmann in einem nicht ganz stimmigen Gruppenbild.

Gleichwohl gibt es in Böttigers Buch erhebliche Leerstellen. Bedeutende Autoren wie Erich Fried, Alfred Andersch, Helmut Heißenbüttel und Christian Geissler werden nur beiläufig erwähnt, andere wie Anna Seghers, Alexander Kluge, Herbert Achternbusch und Jean Améry kommen dem Panorama der 70er Jahre vollständig abhanden. Dafür gibt es Kapitel über den als Kriminalschriftsteller unterschätzten Jörg Fauser und den »postmodern-linken« Romancier Manfred Esser, die aber, so lesenswert sie sein mögen, kein rechter Ersatz sind.

Aus der Schweiz werden Fritz Zorn und Hermann Burger in Erinnerung gebracht, die Altmeister Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt dagegen übergangen. Sie hatten, liest man, »ihre große Zeit bereits hinter sich«, was etwas ungerecht ist gegenüber Frischs späten Erzählungen und Dürrenmatts großem Alterswerk mit dem Titel Stoffe. Der einzige Literaturkritiker, dem Böttiger viel Platz einräumt, ist Marcel Reich-Ranicki, den man allerdings nur im Verhältnis zu Peter Rühmkorf erlebt, den er beständig umwarb, und zu Martin Walser, den er sich als ideales Opfer seiner Machtausübung auserkor. Walsers Roman Jenseits der Liebe verriss er grausam unter dem Titel »Jenseits der Literatur«, die Erzählung Ein fliehendes Pferd hob er unter der Überschrift »Ein Glanzstück« in den Himmel.

Böttigers Buch ist keine Literaturgeschichte im üblichen Sinn und auch kein Handbuch, in dem man sich rasch kundig macht. Die einzelnen Kapitel kann man mit Gewinn auch jeweils für sich lesen, aber erst aus ihrem Zusammenhang entsteht das vom Autor intendierte literarturhistorische Mosaik, das uns eine bereits entlegene Zeit wieder vor Augen bringt. Böttiger ist ein guter Stilist, er schreibt lebendig, anekdotisch aufgelockert und mit Sinn für das charakteristische Detail. So können selbst jüngere Leserinnen und Leser, die viele der hier behandelten Autoren und Bücher wahrscheinlich nicht kennen, viel vom spezifischen Aroma dieser »wilden Blütezeit der deutschen Literatur« erspüren.

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur. Wallstein, Göttingen 2021, 473 S., 32 €.

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