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Die Russlanddeutschen, die AfD und der Ukraine-Krieg Putins Verbündete in Deutschland?

Als sogenannte »Russlanddeutsche« gelten je nach Berechnung zwischen zweieinhalb bis fünf Millionen Menschen – die größte Minderheit mit Wahlrecht in Deutschland. Seit dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine sehen sie sich dem Generalverdacht ausgesetzt, den russischen Angriffskrieg zu unterstützen. In der öffentlichen Debatte dominiert oftmals die Vorstellung, dass sich ein Großteil von ihnen enger mit Russland verbunden fühle als mit der »neuen« Heimat, dass diese Bevölkerungsgruppe konservativ bis autoritär eingestellt sei und dem Ideal einer pluralen Gesellschaft tendenziell ablehnend gegenüberstehe.

Es erscheint auf den ersten Blick befremdlich, dass ausgerechnet die Russlanddeutschen, die sich dazu entschieden haben, in Deutschland leben zu wollen und nicht in Russland beziehungsweise im übrigen postsowjetischen Raum, nun zu den treusten Unterstützern von Wladimir Putin in Deutschland zählen könnten. Zudem erscheint es paradox, dass innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe, die selbst nach Deutschland eingewandert ist, die Skepsis gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen deutlich ausgeprägter zu sein scheint als in der Gesamtbevölkerung.

Doch wer sind eigentlich diese »Russlanddeutschen«? Die Behörden unterscheiden zwischen Aussiedler/innen (zwischen 1945 und 1993 immigriert) und Spätaussiedler/innen (ab 1993 immigriert). Es handelt sich hierbei um die Nachfahren von deutschstämmigen Siedlern, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den teils jahrhundertealten Siedlungsgebieten in Osteuropa in die Bundesrepublik einwanderten. Da sie nicht als Russen, sondern als »deutsche Volkszugehörige« galten, wurden sie gegenüber anderen einwanderungswilligen Personen bevorzugt behandelt und konnten ohne größere Hürden die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.

Als 2016 bundesweit über 10.000 Menschen – größtenteils russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler – gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung unter Angela Merkel demonstrierten, fragten sich daher viele: Was bewegt Migranten dazu, gegen andere Migranten zu demonstrieren? Warum wählen Menschen, die selbst nach Deutschland eingewandert sind, eine Partei wie die AfD, die so massiv gegen Zuwanderung Stimmung macht? Der ursprüngliche Anlass für die Proteste war die Meldung von der angeblichen Vergewaltigung des russlanddeutschen Mädchens Lisa durch »südländische« Flüchtlinge. Diese Demonstrationen weiteten sich schnell zu einem Protest gegen die deutsche Flüchtlingspolitik insgesamt aus. Russland versuchte sich dabei als Schutzmacht der Russlanddeutschen in Deutschland zu inszenieren; der russische Außenminister Sergej Lawrow sprach gar von »unserem Mädchen«.

Dieses aufsehenerregende Beispiel der Einflussnahme des russischen Staates auf die öffentliche Meinung in Deutschland gibt Anlass zu der Sorge, dass auch im Ukraine-Krieg die öffentliche Meinung in Deutschland und anderen EU-Staaten mit Fake News überzogen wird. Wie anfällig sind nun die Russlanddeutschen für derartige Manipulationsversuche? Ist die Befürchtung gerechtfertigt, dass ein größerer Teil der Russlanddeutschen die russische Aggression in der Ukraine unterstützt?

Zunächst – was wissen wir über die Lebenslagen der Russlanddeutschen? Beinahe 90 Prozent leben in den westdeutschen Bundesländern und 10 Prozent in Ostdeutschland. Eine Studie des »Sachverständigenrates für Integration und Migration« (SVR) von 2021 zeigt, dass circa 90 Prozent der (Spät-)Aussiedler/innen ihre Deutschkenntnisse als gut einschätzen und Deutsche ohne Migrationshintergrund zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zählen. Des Weiteren gaben lediglich vier Prozent der Befragten an, sich stärker mit ihrem ehemaligen Heimatland zu identifizieren als mit Deutschland.

Die ökonomische Situation der Russlanddeutschen scheint je nach Migrationsgeschichte äußerst heterogen. Häufig liege das Pro-Kopf-Einkommen vieler post-sowjetischer Einwanderer/innen unter dem anderer Migrant/innen, heißt es in der Studie »Integration gelungen?« (2022) von Nils Friedrichs und Johannes Graf. Unter den (Spät-)Aussiedler/innen liegt der Anteil der Arbeiter/innen mit 36 Prozent deutlich über dem Wert der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (17 Prozent) und dem der übrigen Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte (33 Prozent). Außerdem sei etwa ein Drittel der (Spät-)Aussiedler/innen ab 65 Jahren von Altersarmut betroffen.

Skeptischer gegenüber Migration

Ein aufschlussreicher Befund der Studie des SVR sagt, dass lediglich eine knappe Mehrheit der befragten Russlanddeutschen (53,6 Prozent) der Aussage zustimmt, dass die aufgenommenen Flüchtlinge Deutschland langfristig kulturell bereichern werden, während 71,5 Prozent der Personen ohne Migrationserfahrung diese Ansicht teilen. Die Aussage »Auch wenn andere EU-Länder keine Flüchtlinge hineinlassen wollen, sollte Deutschland weiterhin Flüchtlinge aufnehmen« wurde von Personen ohne Migrationshintergrund mehrheitlich befürwortet, die (Spät-)Aussiedler/innen lehnten dies jedoch mit einer klaren Mehrheit von 60,4 Prozent ab.

Insofern scheint es also durchaus Überschneidungen zwischen der AfD und den Einstellungen der Russlanddeutschen beim Thema Migration zu geben. Doch ist hieraus auch abzuleiten, dass diese soziale Gruppe überproportional oft die AfD wählt? In den 90er und frühen Nullerjahren beobachtete man, dass Russlanddeutsche mehrheitlich die Unionsparteien CDU/CSU wählten. Dies wurde vor allem auf die religiöse Prägung, das konservative Familienbild und die Dankbarkeit gegenüber Helmut Kohl zurückgeführt, in dessen Amtszeit die meisten Russlanddeutschen nach Deutschland eingewandert sind. Zwischen 2000 und 2008 gaben durchschnittlich 65 Prozent an, die Unionsparteien zu wählen, 2016 waren es 45; 2018 rund 36 und 2021 nur noch 20 Prozent.

Im Zeitverlauf ist die Zustimmung der Russlanddeutschen zur CDU also deutlich zurückgegangen, während sie für die AfD gewachsen ist. Denkbar ist, dass die CDU für viele Russlanddeutsche nicht mehr konservativ genug ist. Möglicherweise stößt insbesondere die liberale Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik bei einer Mehrheit der Russlanddeutschen – die sich selbst nicht als (ehemalige) Migranten wahrnehmen, sondern als »deutschstämmige Heimkehrer« – auf entschiedene Ablehnung. Der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis gibt hierzu folgende Erklärung: »Dass relativ viele Russlanddeutsche für die AfD stimmten, wird oft mit einem Konkurrenzempfinden gegenüber den Flüchtlingen begründet. Da hört man Dinge wie: Denen gibt man alles, uns hat man nichts gegeben, wir durften die Familie nicht mitbringen, die dürfen das, bei uns hat niemand applaudiert am Bahnhof«.

In Westdeutschland gibt es einige Wahlbezirke, die zugleich als Hochburgen der AfD gelten, in denen besonders viele (Spät-)Aussiedler/innen leben. Bei den Landtagswahlen in NRW 2018 holte die AfD beispielsweise in Bielefeld Baumheide 18,8, in Duisburg-Neumühl 19,6 und in Espelkamp knapp 24 Prozent der Stimmen. Wie Studien gezeigt haben, wird die AfD überdurchschnittlich oft von Wähler/innen mit niedrigen und mittleren Bildungsabschlüssen gewählt und von Menschen, die das Vertrauen in die etablierten Parteien verloren haben. Diese Merkmale sind unter Russlanddeutschen überproportional oft zu finden.

Keine höhere Zustimmung für die AfD

Dass – abgesehen von einigen Hotspots der AfD in Westdeutschland – die (Spät-)Aussiedler/innen größtenteils AfD-Wähler/innen sind, ist jedoch ein Trugschluss. Zu diesem Befund kommt Achim Goerres, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen: Bei der Bundestagswahl 2017 habe die AfD rund 15 Prozent der russlanddeutschen Stimmen erhalten. Das sei nur wenig mehr als die 12,6 Prozent in der Gesamtbevölkerung. Bei der Bundestagswahl 2021 gaben 30 Prozent der Russlanddeutschen an, die SPD gewählt zu haben, die Grünen 28, CDU 20, AfD sechs, Die Linke zwei Prozent.

Bisher scheinen also die Versuche der AfD, einen Großteil der russlanddeutschen Community für sich einzunehmen, nicht erfolgreich zu verlaufen: Lediglich eine Minderheit, die dafür allerdings umso lauter auftritt, unterstützt die rechtspopulistische Partei. Dass die AfD in der russlanddeutschen Bevölkerung jedoch ein (zukünftiges) Wählerpotenzial sieht, lässt sich auch daran erkennen, dass sie die einzige Partei ist, die ihr Grundsatzprogrammin russischer Übersetzung anbietet. Zugleich betreibt sie den YouTube-Kanal »Russlanddeutsche für die AfD« und versucht über Social Media, diese Wählergruppe für sich zu gewinnen. Die einzigen Russlanddeutschen, die jemals im Bundestag saßen, sind zudem AfD-Politiker: Waldemar Herdt, Anton Friesen und Eugen Schmidt.

Bezüglich der Anfälligkeit der russlanddeutschen Community für russische Staatspropaganda ist zunächst festzustellen, dass 80 Prozent in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis überwiegend oder ausschließlich Deutsch sprechen; jedoch gaben lediglich drei Prozent an, ausschließlich Deutsch zu sprechen. Ungefähr 40 Prozent sprechen zu Hause ausschließlich Russisch. Die Russlanddeutschen informieren sich sowohl über russischsprachige, als auch über deutschsprachige Medien.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass beispielsweise auch Russia Todayin deutscher Sprache sendet. Bevor beide deutschen Russia Today-YouTube-Kanäle im September 2021 gesperrt wurden, hatten sie über 600.000 Abonnenten. Wie viele Russlanddeutsche unter diesen waren ist unklar. Bekannt ist allerdings, dass diese Gruppe häufiger an der Unabhängigkeit deutscher Medien zweifelt als andere Zugewanderte, was einen überproportional hohen Anteil der Russlanddeutschen an den Russia Today-Zuschauern in Deutschland wahrscheinlich macht.

Gleichzeitig – und das ist ein wichtiger Befund – hält die Mehrheit der Russlanddeutschen die deutschen Medien jedoch für glaubwürdiger als die ihres Herkunftslandes. Ob die Russlanddeutschen im Ukraine-Krieg teilweise auf der Seite Russlands stehen, ist bislang noch nicht eingehend erforscht worden. Alarmierend ist jedoch, dass eine Mehrheit von 60 Prozent die Annexion der Krim durch Russland gutheißen, während »nur« knapp 40 Prozent der Deutschen ohne Migrationshintergrund derselben Meinung sind.

Eindeutig zeigt sich, dass die russlanddeutsche Community in Deutschland erkennbar skeptischer gegenüber Migration ist als die Gesamtbevölkerung. Diese Einstellungen mündeten bislang jedoch nicht in einer signifikant höheren Zustimmung zur AfD. (Spät-)Aussiedler/innen scheinen jedoch empfänglicher für russische Propaganda zu sein beziehungsweise mehr Verständnis für das russische Vorgehen in der Ukraine aufzubringen. Inwiefern diese Gruppe jedoch den Angriffskrieg von Putin klar unterstützt und ob die Russlanddeutschen in diesem Krieg tatsächlich als Putins trojanisches Pferd in Deutschland bezeichnet werden können, ist bislang (noch) nicht eindeutig zu beantworten.

Die Politik sollte also die russlanddeutsche Community gezielter adressieren, um zu verhindern, dass sich große Teile der Russlanddeutschen gesellschaftlich isoliert fühlen und sich aus diesem Gefühl heraus (weiter) abkapseln.

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