Menü

Europäische Wirtschaftspolitik im Spannungsfeld von Nachhaltigkeits- und Sozialforderungen Quadratur des Kreises?

» Read the English version of this article

In der ökonomischen Theorie ist Wirtschaftswachstum ein zentraler Bestandteil einer funktionierenden Wirtschaftsordnung. Und schon befinden wir uns im Diskursdilemma moderner demokratischer, liberaler Staaten. Denn wenn Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig sein sollen, dann können sie nicht immer weiterwachsen, dann stoßen sie an die Grenzen natürlicher Ressourcen, an Umwelt- und Klimaproblematiken. Gleichzeitig besteht jedoch die Erwartungshaltung der Bürgerinnen und Bürger auf immer höheren Wohlstand, jeder Generation soll es besser gehen als der vorherigen; Verzicht ist ein Unwort, auch aus sozialpolitischer Sicht. Die Vorstellung vom sozialen Aufstieg geht einher mit dem Besitz materieller Güter, vom Auto bis zur Immobilie, der wiederum Auswirkungen auf die Nutzung knapper werdender Ressourcen hat.

In Deutschland wächst die Wirtschaft seit Jahren nur minimal. Von 2000 bis 2020, mit den beiden Rezessionen 2009 und 2020, stieg das Bruttoinlandsprodukt preisbereinigt nur um durchschnittlich ein Prozent pro Jahr. Für das laufende Jahr liegen die Prognosen um den Nullpunkt, sogar ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung ist nicht ausgeschlossen. Für die EU sehen die Zahlen kaum besser aus. Die OECD erwartet für den Euroraum 0,7 Prozent Wachstum im Jahr 2024. Hier also im Interesse der Nachhaltigkeit bremsen zu wollen, scheint wenig effektiv. Wie kann aber vor diesem Hintergrund eine nachhaltige und sozial ausgewogene Wirtschaftspolitik aussehen?

Dimensionen der Nachhaltigkeit

Im europäischen Diskurs haben sich vier Dimensionen von Nachhaltigkeit eta­bliert: makroökonomische Stabilität, also eine im Kern widerstands- und funktionsfähige Wirtschaft, ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität und Gerechtigkeit.

Die makroökonomische Stabilität der EU ist von Mitgliedsland zu Mitgliedsland sehr unterschiedlich. Die Zahlen von Eurostat für Januar 2024 zeigen, dass die jährliche Inflationsrate in der EU zwischen 0,9 und 7,3 Prozent schwankte. Rumänien wies die höchste Rate unter den EU-Mitgliedern auf, gefolgt von Estland (fünf Prozent), Kroatien (4,8) und Polen (4,5). Dänemark und Italien verzeichneten mit 0,9 Prozent die niedrigsten jährlichen Inflationsraten. Lettland, Litauen und Finnland folgten ihnen mit 1,1 Prozent. Eine einheitliche wirtschaftspolitische Antwort ist angesichts dieser Unterschiede nicht möglich.

Die europäische Wirtschaft ist trotz einer Schwächephase relativ stabil.

In Deutschland schlugen sich vor allem die deutlich gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise negativ in den Bilanzen beziehungsweise den Portemonnaies nieder. Zwar wurde mit Sofortmaßnahmen der öffentlichen Hand auf den Energiepreisschock reagiert, doch dauerhaft sind sie keine Lösung, da sie einerseits den Inflationsdruck weiter erhöhen und die Mittel andererseits für geplante Investitionen, beispielsweise in Nachhaltigkeit, fehlen. Eingebrochen ist die europäische Wirtschaft nicht. Sie ist trotz einer Schwächephase relativ stabil. Doch macht es sich für die ökologische Nachhaltigkeit negativ bemerkbar, wenn der Staat weniger in neue, nachhaltige Infrastrukturprojekte investieren kann.

Ressourcenschonendes Wirtschaften, Materialeffizienz, Kreislaufwirtschaft, Recycling, Optimierung von Produktionsprozessen – das sind die gängigen Schlagwörter in der ökologischen Nachhaltigkeitsdebatte. Doch sind es wirklich bezahlbare Lösungen?

In ihrem Jahresbericht zum nachhaltigen Wachstum 2024 berechnet die Europäische Kommission einen Investitionsbedarf für die EU-Lieferketten der fünf Netto-Null-Technologien Wind, Sonne, Batterien, Wärmepumpen und Elektrolyseure von 92 Milliarden Euro bis 2030. Um die Ziele der diversen Initiativen des europäischen »Grünen Deals« und der grünen und digitalen Transformation unter dem Stichwort »REPowerEU« zu erreichen, werden jedes Jahr zusätzliche Investitionen von insgesamt sogar mehr als 620 Milliarden Euro benötigt. Zum Vergleich: Der Gesamthaushaltsplan der EU für 2024 umfasst 189,4 Milliarden.

Es ist also völlig ausgeschlossen, dass die EU das selbst finanzieren kann. Dafür sind nationale Mittel und private Investitionen absolut unabdingbar. Gewünscht sind aber auch weitere Investitionen in den Übergang zur Kreislaufwirtschaft, in die Rückgewinnung und Ersetzung kritischer Rohstoffe und die Nutzung von Sekundärrohstoffen zur Maximierung der Werterhaltung.

Ressourceneinsatz und Verbraucherverhalten

Vom Standpunkt der ökologischen Nachhaltigkeit aus, bedarf es der Nutzung anderer, besserer oder weniger Ressourcen, Rohstoffe und Energie in wirtschaftlichen Produktionsprozessen und eines anderen, besseren, eventuell reduzierten Konsums der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wie ist es also beispielsweise um das Verbrauchsverhalten im Nachhaltigkeitskontext bestellt? Eine Studie von Deloitte aus dem Jahr 2022 zeigt, dass während das Bewusstsein für Nachhaltigkeit bei deutschen Verbraucherinnen und Verbrauchern weiter zunimmt, die Bereitschaft, entsprechende Preisaufschläge hinzunehmen eingebrochen ist. Während 2021 in der Befragung 67 Prozent höhere Preise akzeptierten, sind es 2022 nur noch 30 Prozent, im Non-Food-Bereich sogar nur 24 Prozent.

Auf der Produktionsseite wird im Kontext der Nachhaltigkeit die Nutzung von Sekundärrohstoffen als Mittel der Wahl propagiert. Vor dem Hintergrund des Fehlens von natürlichen Rohstoffen in der EU wäre dies in doppelter Hinsicht eine sinnvolle Option – statt neue Rohstoffe teuer im Ausland einzukaufen verwertet man die bereits im System befindlichen erneut. Doch die praktische Umsetzung hat durchaus noch ihre Tücken. Am Beispiel von Batterien für eAutos und den darin enthaltenen kritischen Rohstoffen lässt sich das gut zeigen: In ihrer Untersuchung aus dem Jahr 2023 schätzen die Forscher Eleni Kastanaki und Apostolos Giannis, dass 2030 ein verbessertes Batterierecycling zwischen 5,2 und 7,2 Prozent des EU-Bedarfs an Lithium, Kobalt, Nickel und Kupfer für neue Batterien decken könnte. Die für die Verarbeitung von Lithium-Altbatterien erforderliche Infrastruktur ist derzeit in der EU aber nicht vorhanden. Und aus energetischer Sicht könnte das inländische Recycling 2030 zusätzliche Kapazitäten in Höhe von 15–28 Gigawattstunden erfordern. Hier muss abgewogen werden, ob die entsprechenden Investitionen unter dem Strich tatsächlich Ressourcen schonen.

Das führt zur dritten Dimension der wirtschaftlichen Nachhaltigkeitsdebatte, zum Thema Produktivität. Sie gilt als Hauptmotor für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. In der EU stagniert sie jedoch seit zehn Jahren. Im Jahreswachstumsbericht 2024 analysiert die Europäische Kommission, dass die größten Hindernisse für das Produktivitätswachstum in einem uneinheitlichen und schleppenden digitalen Wandel und im Fachkräftemangel in verschiedenen Wirtschaftszweigen bestehen. Forschung und Innovation sind unabdingbar für den wirtschaftlichen Fortschritt. Doch wenn Unternehmertum durch Bürokratie, steuerliche und administrative Überlastung erstickt wird, Expansion durch unterschiedliche nationale Rechtsvorschriften im unvollendeten EU-Binnenmarkt verhindert oder Fachkräften keine Arbeitserlaubnis erteilt wird, ist es nicht verwunderlich, wenn Unternehmen abwandern.

»Der Mangel an Wachstumspotenzial in Europa ist besonders für innovative technologiebasierte Unternehmen relevant.«

In dem im September 2024 veröffentlichten Bericht von Mario Draghi zur EU-Wettbewerbsfähigkeit ist belegt, dass 30 Prozent der zwischen 2008 und 2021 gegründeten »Unicorns«, also Start-ups, die später einen Wert von über einer Miliarde US-Dollar erreichen, ihren Hauptsitz ins Ausland, vor allem in die USA, verlegt haben. Der Mangel an Wachstumspotenzial in Europa ist besonders für innovative technologiebasierte Unternehmen relevant, und noch mehr für Unternehmen der Spitzentechnologie.

Es fehlt, erneut, an gezielten Investitionen. Mario Draghi spricht von bis zu 800 Milliarden Euro pro Jahr. Doch während es an Geld zu wenig gibt, gibt es an Regulierung in der EU zu viel. In seinem Bericht listet Draghi auf: »Erstens schrecken komplexe und kostspielige Verfahren in fragmentierten nationalen Systemen […] junge Unternehmen ab, den Binnenmarkt zu nutzen. Zweitens, behindert die ordnungspolitische Haltung der EU gegenüber Technologieunternehmen die Innovation: Derzeit existieren rund 100 technologieorientierte Gesetze und über 270 Regulierungsbehörden, die in allen Mitgliedstaaten in digitalen Netzen tätig sind. Drittens werden digitale Unternehmen davon abgehalten, über Tochtergesellschaften in der gesamten EU tätig zu werden, da sie mit heterogenen Anforderungen, einer Vielzahl von Regulierungsagenturen und einem gold plating [über die EU-Vorgaben hinausgehende Anforderungen; die Red.) der EU-Gesetzgebung durch nationale Behörden konfrontiert sind. […] Diese Fragmentierung benachteiligt die Unternehmen in der EU gegenüber den USA und China.«

»Aus wirtschaftspolitischer Sicht sind vor allem Investitionen in die (berufliche) Bildung, in Weiterbildung und Arbeitnehmermobilität hilfreich.«

Dieses Zurückfallen gegenüber den wichtigsten globalen Wirtschaftsnationen hat auch Auswirkungen auf die finale Dimension der Nachhaltigkeit, auf den Bereich Soziales und Gerechtigkeit. Wie kann eine Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund sinkender globaler Wettbewerbsfähigkeit und Relevanz sozial ausgewogen bleiben? Wie kann es Unternehmen gelingen, profitabel zu bleiben, gute Löhne zu zahlen, wenn ihre Produktionskosten um vieles höher sind als die der ausländischen Konkurrenz? Der europäische Arbeitsmarkt hat die Coronakrise und das verlangsamte Wirtschaftswachstum vergleichsweise robust überstanden. Die Beschäftigungsquote hat 2023 ein Rekordniveau erreicht und die Arbeitslosenquote ging in der EU auf sechs Prozent zurück. Gleichzeitig fehlen jedoch Fachkräfte, vor allem in der Gesundheitsversorgung und im Bereich Informations- und Kommunikationstechnik. Auf europäischer Ebene gibt die sogenannte »Europäische Säule sozialer Rechte« den Rahmen für die Sozialpolitik vor und hat sich soziale Aufwärtskonvergenz zum Ziel gesetzt. Aus wirtschaftspolitischer Sicht sind vor allem Investitionen in die (berufliche) Bildung, in Weiterbildung und Arbeitnehmermobilität hilfreich.

Aktionsrahmen von Wirtschaftsakteuren erweitern

Die europäische Wirtschaftspolitik steht an einem Scheideweg. Enorme Investitionen in den Umbau des Wirtschaftssystems, insbesondere in der Energie- und Ressourcennutzung und bei der Digitalisierung sind vonnöten. Gleichzeitig sind sowohl die nationalen wie auch die europäischen finanziellen Mittel sehr begrenzt, während globale Konkurrenten mit Subventionen ihre Wirtschaftsakteu­re in signifikanten Umfang unterstützen. Damit geraten europäische Unternehmen doppelt ins Hintertreffen: ihnen stehen keine staatlichen Mittel in entsprechendem Maße zur Verfügung, und aufgrund ihrer hohen Produktionskosten (Energiekosten und Bürokratiekosten) sind sie international auf dem Markt nicht konkurrenzfähig.

Europäische und nationale politische Entscheidungsträger müssen sich entscheiden, ob sie in der kommenden Legislaturperiode weiterhin einen vollständig risikoaversen, »precautionary« wirtschaftspolitischen Ansatz mit umfangreicher und detaillierter Regulierung, auch unter dem Deckmantel des Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzes, weiterführen oder ob sie den Aktionsrahmen von Wirtschaftsakteuren erweitern und erleichtern, also Regulierung vereinfachen und bürokratische Vorgaben abbauen wollen. Bessere Rechtsetzung heißt nicht, weniger Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder von Umwelt und Klima. Bessere Rechtsetzung heißt, europäischen Wirtschaftsakteuren einen Vertrauensvorschuss zu geben, sie vor unfairem Wettbewerb aus Drittstaaten zu schützen und ihr Agieren auf dem europäischen Markt zu vereinfachen.

Kleine und mittlere Unternehmen zu unterstützen heißt nicht, »dem Druck der Wirtschaft nachgeben«, sondern es heißt, Rahmenbedingungen wie gute Ausbildung zu fördern, Infrastruktur zu ertüchtigen, bezahlbare Energie zur Verfügung zu stellen und Abgabenbelastung zu reduzieren. Unternehmensge­winne von heute sind die Investitionen von morgen. Und diese werden dringend gebraucht, sowohl im Sinne der Nachhaltigkeit wie im Sinne der sozialen Gerechtigkeit.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben