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Martin Mosebachs neuer Roman »Krass« Sittengemälde einer erschöpften Gesellschaft

Martin Mosebach, dieser »Menschenschilderer und Rekonstrukteur menschlicher Motivationen«, wie er sich selbst genannt hat, lässt seinen Roman Krass mit einer trügerischen Zaubererszene beginnen. Er entfaltet die Geschichte eines extremen Mannes, Ralph Krass. Ein Schelm, wer dabei an Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer denkt. Auch Mosebachs erzählerische Fesselungskünste sind beträchtlich. Sie zu durchschauen, ist Teil des Lesevergnügens.

Neapel 1988 ist Schauplatz der ersten knapp 200 Seiten des Romans, überschrieben mit: »Allegro imbarazzante«: heiter-peinlich, mit Ralph Krass im Mittelpunkt. Es folgt der introspektive zweite Teil in der französischen Provinz: »Andante pensieroso«, aus der Perspektive von Matthias Jüngel erzählt; die »Marcia funebre«, der Trauermarsch, bringt in Kairo die drei eminenten Protagonisten – Krass, Jüngel und Lidewine Schoonemaker – 2008 wieder zusammen. Ralph Krass, dieser »schwere Mann mit großem Kopf«, ist brachial und maßlos in allem, was er unternimmt. Er ist es gewohnt, sich alle Menschen seiner Umgebung zu unterwerfen, mehr noch: »Sie wissen ja, ich pflege Menschen zu kaufen.« Pompös und einschüchternd im Auftreten, agiert der zunächst erfolgreiche Waffenhändler überaus großzügig und hält seine Entourage fast zwanghaft aus, getreu seiner Maxime: »Mehr ist mehr.« Unablässig geht es um Lokale mit Traumblicken auf den Golf von Neapel, um exquisite Speisen und erlesene Weine. Krass, der sich alles leisten kann und will, entscheidet über Tagesablauf, Ausflugsziele und Verweildauer. Zu seinen befremdlichen Gewohnheiten gehört, beim Umgang mit Büchern die gelesenen Seiten einfach herauszureißen, bis der Band »verschlungen« ist. Massenhaft Geld ist seine Macht.

Sein Adlatus Matthias Jüngel, ein Kunsthistoriker, ist der Groß-Arrangeur dieser von Wohlleben, Trägheit und exzessiver Völlerei geprägten Runde. Er spürt geeignete Lokale auf, organisiert Besichtigungen, erklärt und übersetzt alles, trägt den Geldkoffer, denn grundsätzlich wird bar bezahlt. Jüngel, man muss das so deutlich sagen, ist ein unterwürfiges Würstchen. Knechtisch akzeptiert er Krass' gebieterisches Gebaren und bewundert es: »Bei aller Sonderbarkeit doch ein einzigartiger Mann. Meistens schweigend, das kann auch etwas Unheimliches haben, und dann hat er uns heute Abend seine Genietheorie entwickelt – unerhört! Ungebildet, aber ein Naturintellektueller!«

Auf Krass' Geheiß heuert er Lidewine Schoonemaker als Begleiterin an, eine junge Belgierin, von der es heißt, dass sie nie über den Augenblick hinausdenkt. Ihre selbstbewusste Erscheinung reizt und schmückt Krass. Als Bedingung ihres Engagements muss sie sich zu sexueller Enthaltsamkeit verpflichten, wie auch Krass zusichert, sie nicht anzurühren. Zunächst aber sorgt Jüngel dafür, dass sie neu eingekleidet wird, ein Pretty Woman-Reflex, der hier Einzug in ein literarisches Werk hält. Wie alle in der Entourage ist Jüngel hingerissen von Lidewine und ihrer flexiblen Haltung: »Ich habe keine Gesichtspunkte.« Sie ist jedenfalls keine Frau, die sich unterwirft. Der Kontrast zwischen der souveränen Lidewine und dem devoten, ängstlichen Faktotum könnte nicht schärfer sein. Als Jüngel sie mit einem Hotelangestellten ertappt, informiert er Krass umgehend. Lidewine wird sogleich entlassen. Wenig später muss auch Jüngel gehen. Damit endet die Neapel-Episode.

Im Jahr darauf erholt sich Jüngel, den die Ehefrau verlassen und sein Verlag geschasst hat, in einem Ferienhaus im Départment Indre bei Châteauroux. »Ein schiffbrüchiger Passagier, der aus dem Strudel des Untergangs eine kleine verlassene Insel schwimmend erreicht hat – ist der eigentlich gerettet?« Seine Tagebuch-Einträge bieten eine von schwer erträglichen Sentenzen triefende Lektüre. Musik ist dem Lamentierenden »eine Pumpe, welche die Qual aus mir heraushob, nachdem sie ihr zunächst eine schöne Form gegeben hatte«. Jüngel nimmt in seiner Geld- und Liebesnot Kontakt zu Frau Krass auf, lernt sie auch persönlich kennen, seine Hoffnung auf finanzielle Hilfe wird jedoch enttäuscht. Mosebach genießt es geradezu, diesen selbstmitleidigen Helden zu entblößen: »Ich war so weichgekocht, wie ein Stück Suppenfleisch, das in kleiner Hitze zieht.« Jüngels Gedanken kreisen um den fernen Krass, ja er träumt von ihm. Ein nahes Kloster, der Gesang der Mönche faszinieren ihn. Er lernt den alten Schuster Desfosses kennen, einen ergebenen Katholiken und Verehrer von Marschall Pétain. Seine Treue und Traditionsgewissheit, die Akkuratesse, mit der er sein Handwerk ausübt, flößen ihm Zutrauen ein. Gemeinsam unternehmen sie einen kulinarisch ausschweifenden Sonntagsausflug mit Hasenbraten. Da beide kräftig zechen, landen sie nächtens mit dem Auto im Straßengraben. Jüngel ist bereit aufzubrechen.

Abgesang am Nil

Im dritten Teil des Romans, der 20 Jahre später in Kairo spielt, geht alles rasch, denn Krass ist wieder da. Eine Panzer-Transaktion hat zur Verstimmung eines wichtigen Generals geführt. Was bis vor Kurzem noch wie eine Fülle von Optionen aussah, ist zerfallen. Der Hotelier hat Krass bereits mit Rauswurf gedroht, wenn er die Rechnung nicht begleicht. Er läuft ziellos durch die laute fremde Stadt. Ihn durchzuckt die Erinnerung an einen im Gefängnis gestorbenen Geschäftspartner: »Gestorbene mochte er nicht, in ihrem Mangel an Durchhaltevermögen lag etwas Verächtliches, rechnen mußte man mit solchen Verlierern jedenfalls nicht mehr.« In einer Moschee entkräftet auf dem Boden hockend, zieht sein Leben an ihm vorüber: »Unversehens verblaßte die Empfindung seiner Selbstherrlichkeit, und er wurde von einer Ohnmacht wie von einer großen Welle fortgetragen.« Wiedererwacht und ratlos, wohin er sich wenden könne, begegnet ihm der Rechtsanwalt Mohammed, der ihn in all seiner Schwäche respektiert. Wiewohl Krass völlig mittellos ist, nimmt er ihn bei sich auf und bringt ihn wenig später in der verlassenen Wohnung eines Klienten unter. Krass' Lebenskraft flackert kurz wieder auf: »Widrige Verhältnisse verdienten, daß man ihnen den Rücken kehrte.« Unterdessen ist auch Jüngel in Kairo, wo er, Urbanistik-Professor in Wuppertal, ein Auslandssemester verbringt. Und im selben Hotel logiert Lidewine, die weltläufige, erfolgreiche Galeristin. Sie ist freundlich zu Jüngel, als sei sein Verrat vergessen, den er sehr wohl erinnert: »Ich wollte dieser selbstbewußten Frau schaden.« Mosebachs erzählerisches Raffinement lässt beide auf Mohammed treffen. Und allmählich begreifen sie, wen er meint, wenn er von der Sorge um seinen schwer kranken Vater spricht. Mohammed, die einzige barmherzige Figur in diesem Roman, hat Krass nach einem Zusammenbruch ins Hospital gebracht und versorgt ihn. Sein letzter Wunsch – man möge seine Frau anrufen. Als das gelingt, sagt sie höhnisch: »In Kairo? Warum nicht. Wünsche, gut zu sterben.«

Martin Mosebach hat ein drastisches literarisches Triptychon geschaffen. Seine drei Teile sind höchst unterschiedlich nach Schauplatz, Erzählperspektive und Stil. Das Buch ist reich an Kunstbetrachtungen und an Reflexionen über den Tod und die Möglichkeit einer natürlichen Religion. Seine Charaktere zeichnet aus, dass es ihnen an Charakter fehlt. Geltungssüchtig verlangt es sie nach Überfluss, blind glauben sie an die Unendlichkeit ihrer Chancen. So ist Mosebachs Roman, dessen Protagonist kläglich endet, ein böses, kluges, weitschweifiges Buch über Leben und Sterben eines Mannes, der sich selbst überschätzt, das Sittengemälde einer erschöpften und sich im Niedergang noch einmal aufbäumenden Gesellschaft.

Martin Mosebach: Krass. Roman. Rowohlt, Hamburg 2021, 528 S., 25 €.

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