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Solidarität und Sicherheit – Grundpfeiler des Projekts soziale Demokratie

Die SPD ist gegenwärtig in einer höchst kritischen Lage, aber gewiss noch nicht in der gefährlichsten ihrer 156-jährigen Geschichte. Die Wahlergebnisse der letzten Wochen, Monate, Jahre waren schmerzlich, ja von teilweise vernichtender Qualität, jedenfalls ihren Status als Volkspartei bedrohend. Soll sie deshalb, wie manche empfehlen, diesen Anspruch aufgeben? (Aber was wäre durch diesen Verzicht gewonnen?)

Die Partei befindet sich in einer Übergangsphase – mit offenem Ausgang: Regionalkonferenzen mit starker Basisbeteiligung, die erste und zweite Runde eines Mitgliederentscheids – all das hat stattgefunden und die Partei einige Monate beschäftigt und ihr hoffentlich gutgetan. Ob es ein Fest innerparteilicher Demokratie war und für die SPD neuen Schwung bringt, das wird sich auf und nach dem Parteitag Anfang Dezember zeigen. Die Kriterien für einen nachhaltigen Erfolg sind einfach und deutlich: Wird es gelingen, die grassierende Unfähigkeit der SPD-Mitglieder zu positiver Selbstwahrnehmung (und des in Regierungen und Parlamenten Geleisteten) zu überwinden? Lässt sich die schwer erträgliche, ja zerstörerische Unkultur des innerparteilichen Misstrauens, der Illoyalität, der mangelnden Solidarität (der bereits mehrere Parteivorsitzende zum Opfer gefallen sind) endlich überwinden? Können wir die Fixierung auf die Frage »Ja oder Nein?« zur Großen Koalition hinter uns lassen? Als wäre der Ausstieg aus der GroKo die Erlösung von der Misere. Als ginge es nicht vielmehr um Fragen der inhaltlichen und programmatischen Positionierung der SPD!

Es muss doch allen innerhalb und außerhalb der Partei klar sein, dass die gegenwärtige Große Koalition auf unabsehbare Zeit die letzte ist. Der Kampf gegen sie kommt mir deshalb vor wie eine überflüssige Donquichotterie. Was wäre für die SPD gewonnen, wenn sie aus Selbstmitleid ein ungeliebtes Zweckbündnis jetzt verließe – mit der Aussicht auf ausführliche Selbstbespiegelung ohne Verantwortung? Ohne die inhaltlichen Fragen zu klären, die programmatischen Widersprüche in der Partei aufzulösen. Ohne thematische Zuspitzungen und schärfere Konturierungen. Das vor allem tut not – egal ob in oder außerhalb einer Großen Koalition!

Immer wieder habe ich den Eindruck, dass allzu viele SPD-Aktive und ‑Funktionäre lieber Politik der Grünen oder der Linkspartei machen wollen und des Eigenen, des Sozialdemokratischen gänzlich unsicher geworden sind. Dass identitätspolitische Zersplitterungen überhandnehmen und eine gemeinsame Orientierung der Partei schwieriger wird. Die SPD bedarf deshalb nach meiner Meinung der intensiven Vergewisserung des Eigenen, des die verschiedenen fach- und sachpolitischen Entwürfe, Projekte, Leistungen Verbindenden, der gemeinsamen konzeptionell-programmatischen Grundlage ihrer Fachpolitiken. Und auch der Verständigung darüber, wer die Adressaten, wer die Akteure und was die Ziele ihrer Politik in den gegenwärtigen und zukünftigen vielfältigen Veränderungsprozessen sind.

Die von vielen Menschen als bedrohlich empfundenen Beschleunigungen und Entgrenzungen, die der Begriff Globalisierung zusammenfasst, die Migrationsschübe, die Veränderungen der Arbeitswelt durch die digitale Transformation, die ökologische Bedrohung, die zu Änderungen unserer Lebensweise zwingt, die weitere ethnische, kulturelle, religiös-weltanschauliche Pluralisierung unserer Gesellschaft, der demografische Wandel, die Erfahrung von sozialer Ungerechtigkeit, die Ängstigungen durch Terrorismus, Gewalt, kriegerische Konflikte, insgesamt das Erleben einer »Welt in Unordnung« – diese einschneidenden Veränderungsprozesse verstärken auf offensichtlich dramatische Weise das individuelle und kollektive Bedürfnis nach neuen (und auch alten) Vergewisserungen und Verankerungen, nach Identität, nach Sicherheit, nach Beheimatung. Darauf muss die Sozialdemokratie Antworten finden!

Vor allem auch, weil die Gefühle der Unsicherheit, der Gefährdung des Vertrauten und Gewohnten, der Infragestellung dessen, was Halt gibt und Zusammenhalt sichert, insgesamt also ökonomische Abstiegsängste, soziale Überforderungsgefühle, kulturelle Entheimatungsbefürchtungen und tiefgehende Zukunftsunsicherheiten höchst ungleich verteilt sind! So gibt es – drei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution und der deutschen Einheit – eine West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten: nach den ostdeutschen Erfahrungen eines Systemwechsels, eines radikalen Umbruchs sowohl ökonomisch-sozialer wie moralisch-kultureller Art, nach dem vielfachen Erlebnis der Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen.

Und zur Dialektik der Globalisierung gehört offensichtlich eine neue, vor allem kulturelle Spaltung der Gesellschaft (die allerdings die »älteren« sozialen Spaltungen nicht zum Verschwinden bringt). Diese Spaltung wird in unterschiedlicher Terminologie beschrieben: zwischen den »Anywheres« und »Somewheres«, zwischen dem »kosmopolitischen«, libertären, urbanen Teil der Bevölkerung und dem »kommunitaristischen«, lokalorientierten und gebundenen Teil. Wie angemessen diese Termini sind, sei hier nicht diskutiert aber doch festgehalten: Es sind ja nicht die kosmopolitischen Eliten, die Libertären, die auf den Wellen der Globalisierung Surfenden und die Modernisierungsschübe erfolgreich Meisternden, die Entheimatungsbefürchtungen und Entfremdungsängste empfinden. Es sind die Anderen, die die Veränderungen durch Globalisierung und durch das Fremde und die Fremden als Gefährdung ihrer vertrauten Lebenswelt, als sozialen und kulturellen Verteilungskonflikt erfahren. Und genau für diese muss sich die SPD verantwortlich fühlen!

Diese Anderen (vor allem viele Menschen in Ostdeutschland) reagieren auf die Öffnung der Grenzen mit dem Wunsch nach neuen Grenzen, mit dem Wunsch zurück zum souveränen Nationalstaat. Sie reagieren auf die postmoderne Vielfalt und den kulturellen Pluralismus mit dem Wunsch nach kultureller Eindeutigkeit von Identitäten, nach verbindlichen Werten, nach nationaler Leitkultur. Man kann auf solche Wünsche mit purer Ablehnung und Verachtung reagieren, was ich allerdings für falsch halte. Die Rechtspopulisten tun das Gegenteil und das erklärt wenigstens zum Teil ihren Erfolg. Zeiten also für Populisten, die großen und kleinen Vereinfacher und Schuldzuweiser, die die Sehnsüchte nach Erlösung von den ängstigenden Unsicherheiten zu befriedigen versprechen. Zumal eben in Ostdeutschland. Denn hier trifft die gegenwärtige Veränderungsdramatik auf Menschen, die die die enormen Veränderungen seit 1989/90 mit Schmerzen, Opfern, Verlusten noch nicht gänzlich und vor allem nicht alle gleichermaßen erfolgreich bestanden haben. So viel Umwälzung in kurzer Zeit, die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und biografischen Umbrüchen! Das macht nicht wenige empfänglich für die einfachen, radikalen Botschaften. Für das Angebot alt-neuer konservativ-nationaler Gewissheit und wütend-aggressiver Abwehr. Eine erfolgreich-gefährliche Mischung – nicht nur im Osten Deutschlands.

Wir können ahnen, dass sich die Veränderungsdramatik in diesem Jahrhundert wohl nicht verlangsamen wird. Und diese ist eben eine sowohl soziale wie kulturelle Herausforderung. Die SPD sollte deshalb ihren Identitätskern, nämlich Gerechtigkeitspolitik, nicht nur sozial, sondern auch kulturell definieren. Ihr programmatisches wie pragmatisches Angebot darf sich nicht nur an die urbanen Eliten, die Modernisierungs- und Globalisierungsgewinner richten, sondern ebenso an den Facharbeiter, die Ingenieurin, den Pädagogen, die Handwerksgesellin, den Krankenpfleger usw. Insofern hilft es nichts, sie muss eine »catch-all-party« bleiben, darf den Anspruch, Volkspartei zu sein nicht aufgeben (man mag das meinetwegen auch »Brückenpartei« nennen oder »Partei der Vermittlung«). Dass muss z. B. angesichts der andauernden Herausforderung Migration für die Sozialdemokratie heißen, Integration in doppelter Perspektive zu begreifen und als doppelte Aufgabe zu praktizieren: Die zu uns Gekommenen sollen, sofern sie hierbleiben wollen und können, heimisch werden im fremden Land – und den Einheimischen soll das eigene Land nicht fremd werden. Nur in solchem Verständnis und solcher Praxis wird es gelingen, Mehrheiten für diese langwierige und dauernde Aufgabe zu gewinnen und zu sichern.

Es gibt den objektiven, strukturellen Bedarf wie auch das verbreitete subjektive Bedürfnis nach einer linken Politik, die politisch und moralisch, finanziell und sozial, wirtschaftlich und kulturell für die Zukunft investiert: in den Zusammenhalt der Gesellschaft (die ethnisch, sozial, kulturell, kommunikativ so zersplittert ist wie nie zuvor und es auch bleiben wird); in die Mehrung der öffentlichen Güter (die allen gleichermaßen fair und gerecht zugänglich sind); also in Bildung und Schule, in Forschung und Innovation (zur Sicherung des Aufstiegsversprechens auch in einer Migrationsgesellschaft und in der digitalen Transformation der Arbeitsgesellschaft); in die Modernisierung von Infrastruktur, also in bezahlbares Wohnen, öffentlichen Verkehr, ökologisch verantwortbare Energieversorgung (auch um das weitere Auseinanderklaffen von urbanen Zentren und ländlichen Regionen zu verhindern); in die Gestaltung des Klimawandels, also die ökologische Transformation unserer Produktions- und Lebensweise; in eine internationale Friedensordnung und ein solidarisches Europa. Eine Fülle von Aufgaben, denen sich die SPD nicht entziehen kann und darf.

Ins Zentrum des politischen Projekts der sozialen Demokratie (das die genannten Aufgaben zusammenfasst) gehören wieder und aufs Neue die Begriffe Solidarität und Sicherheit – als Antwort auf Krisenempfinden, Veränderungsdramatik, Ungerechtigkeitserfahrungen. Den Sozialstaat zu modernisieren und den Staat der Regeln und des Schutzes zu stärken, das ist die alte und wieder neue Verpflichtung der Sozialdemokratie. Die sozial und kommunikativ zersplitterte und digital transformierte Welt verlangt nach einer neuen Begründung und Konkretion von Solidarität (als den Basiswert sozialdemokratischen Handelns). Die globalisierte, offene Welt verlangt nach Regeln und nach elementaren Gemeinsamkeiten, die den konfliktreichen Pluralismus lebbar machen. Deshalb ist auch im 21. Jahrhundert eine starke und handlungsfähige und überzeugende Sozialdemokratie notwendig!

Kommentare (1)

  • Guido Klein
    Guido Klein
    am 24.07.2021
    Gute Analyse! Es gilt, die richtigen Schlüsse daraus umzusetzen!

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