Im Raum, in dem der Kanzlerkandidat feiert, herrscht Bestürzung. Die Zahlen sind schlechter als die schlimmsten Befürchtungen. Flüche werden ausgestoßen, Fassungslosigkeit macht sich breit, die Gespräche verstummen. Tränen fließen. Nur wenige Zimmer weiter ist die Stimmung weitaus besser: Dort feiern jene, die bald, im Rahmen einer Koalition mit der Union, der neuen Bundesregierung angehören werden. Niederlage an der Wahlurne, Stabilität in der Regierungsverantwortung.
So wie der Abend der Bundestagswahl 2013 sind viele Wahlabende für die Sozialdemokratie verlaufen. Der Ausweg aus solchen Krisensituationen war stets der gleiche: Das Personal wurde ausgetauscht. Wer die Geschicke der SPD schon länger verfolgt, war in vielen Hallen, in denen der große Neustart versprochen wurde, dabei blieb es meist bei einem eher unsentimentalen Austausch des Führungspersonals. So kam mit den Jahren eine beeindruckende Riege ehemaliger Vorsitzender und Kandidaten zusammen, aber eine strukturelle Änderung und inhaltliche Neubesinnung blieb aus. Programmatik und Personal werden nach dem Prinzip großer Warenhäuser angeboten, die SPD ist Karstadt: für jeden etwas.
»Eine Partei kann nicht auf Kundschaft hoffen, nur weil die Fassade neu gestaltet und ein neuer Direktor berufen wurde.«
Und parallel zu den großen, urbanen Kaufhäusern, die stolz und auch ein wenig verschlafen auf die Kundschaft warten, entwickeln sich auch die Geschicke der einstigen Volkspartei. Das Angebot ist solide, preiswert und es hat doch früher immer gut funktioniert. Warum blieben die Leute plötzlich weg? Im Falle der Warenhäuser wären Konzepte der urbanen Kurierdienste vielleicht die Rettung gewesen: mit eigenen Fahrern die immensen Lagerbestände in Windeseile an die Haustür, die zentralen Standorte wären ein unschlagbarer Vorteil in der Geschwindigkeit gewesen. Und auch für eine Partei ist es in heutigen Zeiten wichtig, sich zu bewegen, statt auf Kundschaft zu hoffen, nur weil die Fassade neugestaltet und ein neuer Direktor berufen wurde.
Dabei leben wir im Zeitalter der Neuerfindung. Ob im privaten, im gesundheitlichen oder im beruflichen Umfeld: Nichts geht über den Zauber des Anfangs. Bevor etwas gut wird, bevor es wahrgenommen und akzeptiert wird, muss eine Phase der Neuerfindung ausgerufen werden. Auch das beste Casting wird nicht darüber hinweghelfen, dass die Themen und Strukturen der deutschen Sozialdemokratie zu dem Weg passen, den schon die europäischen Schwesterparteien genommen haben. Alle haben das gleiche Problem, alle versuchen, es national zu lösen und alle scheitern mehr oder weniger rasch daran.
An der Wahlurne verschmäht, im politischen Alltag gebraucht
Die historische Niederlage bei der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 ist eine gewaltige Chance für eine Renaissance der ältesten deutschen Partei. An Krisenbeschreibungen mangelte es nicht – wer auch immer sich von nah oder fern für das Schicksal der SPD interessiert, konnte mehr als genug darüber lesen, was alles schiefläuft. Doch es ist nicht das ganze Bild: In vielen Kommunen, Bundesländern und natürlich in der Bundesregierung ist die Sozialdemokratie in der Verantwortung und – um den Begriff zu verwenden, der mehr als alle anderen das Wesen dieser Partei beschreibt – an der Arbeit. Die Möglichkeit einer weiteren Beteiligung der SPD an der Bundesregierung wurde in den Tagen nach der Wahl jedenfalls eher mit Wohlwollen aufgenommen – an der Wahlurne wird die Partei verschmäht, aber dann, im politischen Alltag, soll die Sozialdemokratie durchaus mitgestalten. Und wehe, sie würde sich drücken.
Die Arbeit – säkularer sozialdemokratischer Religionsersatz.
Niemals wird das passieren und das hängt mit dem säkularen sozialdemokratischen Religionsersatz zusammen, der Arbeit. Wer als Journalist über längere Zeit mit Genossinnen und Genossen zu tun hat, mag es für einen Feldversuch halten: Wie lange kommt ein Mensch ohne Pausen, ohne gutes Essen und freien Blick in die Natur aus? Mag die Gesellschaft insgesamt nach der Work-Life-Balance suchen und sich bewusst machen, dass man nur einmal lebt, also den sogenannten YOLO-Lebensstil kultivieren, so gilt das für die Sozialdemokratie nur bedingt. Hier sind die Organisation, der Fleiß und die Zuverlässigkeit die Quellen des Glücks – stets in dem Bewusstsein, nach Werten und Prinzipien zu handeln. Die unanfechtbare moralische Tradition einer Partei des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, die auch gegen die Sirenenklänge Stalins und seiner Nachfolger taub blieb, bildet gewissermaßen den Fundus, der auch für Gegenwart und Zukunft liefert, was zur Sinnstiftung benötigt wird. Das ist das Kapital und die tägliche Arbeit liefert politische Zinsen.
Es gibt also keine Pause für die Sozialdemokratie – nicht für ihre Spitzenleute, nicht, was die Regierungsverantwortung betrifft und schon gar nicht, was die politische Arbeit angeht. Doch wenn der Blick nur nach unten und nach vorn geht, verengt sich mit der Zeit die Perspektive. Das Feld der Themen, der aktiven Menschen und der politischen Möglichkeiten schrumpft zusammen, bis eine Spiegelstrichliste übrigbleibt, die sich aus der Aktualität ergibt. Wohlmeinende Beobachter haben der Sozialdemokratie den »Markenkern« der sozialen Gerechtigkeit zugeschrieben, als wäre diese uralte, facettenreiche Partei das Sozialamt der Republik. Eine kurze mentale Revue der markanten Momente der deutschen Sozialdemokratie relativiert diese Charakterisierung aber sofort: Das Charisma Willy Brandts, der kühle Kopf Helmut Schmidts während der Zeit des Linksterrorismus, die Zeit des rot-grünen Aufbruchs – all das prägte die Geschichte und die politische Mythologie der Republik, aber die Sozialpolitik war nur ein Aspekt von vielen, ein Pixel in einem faszinierenden Wandgemälde.
Ermutigung zum Gehen neuer Wege
Ein heute nahezu vergessener Intellektueller in der SPD – lange Jahre auch Chefredakteur dieser Zeitschrift –, Peter Glotz, hat das in seinen lesenswerten Memoiren Von Heimat zu Heimat perfekt auf eine Formel gebracht: »Für mich war die SPD eine Partei der Aufklärung, des wissenschaftlichen Fortschritts, der Bürgerrechte und der sozialen Gerechtigkeit.« Und zwar in dieser Reihenfolge. Wenn es eine Empfehlung gibt, die man aus der unendlichen Geschichte der Sozialdemokratie ziehen kann, dann ist es eine Ermutigung zum Gehen neuer Wege. Wobei, ganz neu sind sie nicht. Es gibt schon Pfade, vergessene und verlassene Strecken, auf denen es mal vorwärts ging.
»Auf der nationalen Ebene gleichen die altehrwürdigen Parteien ihrem eigenen Museum.«
Heute ist es Alltag geworden, in Europa und auf der ganzen Welt Waren zu bestellen. Mit der App lasse ich Klamotten aus China und Elektronik aus Kalifornien kommen, es flirrt und huscht nur so über den ganzen Globus. Arbeitnehmer und Unternehmer sind gleichermaßen damit vertraut, den Blick auf die internationalen Zusammenhänge zu richten. Die berühmte Wettbewerbsfähigkeit ist nichts anderes als eine Übernahme der Standards anderer Länder. Doch der Internationalisierung der Wirtschaft entspricht kein politischer Prozess, der eine transnationale Organisation der liberalen linken Parteien fördern würde. Die Sozialdemokratie ist einst genauso angetreten – die internationale Solidarität unter den Männern und Frauen der Arbeit war einst das Besondere einer Bewegung, die so auf der Höhe einer über Grenzen hinweg organisierten Industrialisierung war. Heute sucht man die Partei auf kommunalem, regionalem und eben noch nationalem Gebiet – aber eine europäische Identität gibt es nur in der Programmatik. Auf der nationalen Ebene gleichen die altehrwürdigen Parteien ihrem eigenen Museum – eine matte Gegenwart steht im Schatten einer idealisierten Vergangenheit. Das zieht kein Publikum an und weckt keine Neugierde.
Heute muss ein radikaler Neubeginn auf europäischer Ebene her. Es müsste Routine sein, dass sich europäische, liberale und demokratische Linke in Brüssel treffen und von dort zu den nationalen Medien sprechen, Strategien formulieren und eine einheitliche Linie der Kommunikation herausarbeiten. Wo es konservativen Parteien zunehmend schwerfällt, sich gegen die radikale Rechte zu behaupten, fällt Sozialisten und Sozialdemokraten die Verdeutlichung ihres politischen Raums leicht: gegen Oligarchenregimes russischer, amerikanischer oder asiatischer Provenienz, für eine liberale bürgerliche Öffentlichkeit und solide Formen von Rechts- und Sozialstaat. Für Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Eine Linie in den einzelnen Fragen zu finden ist sicher kein leichtes, eher ein labyrinthisches Unterfangen – aber es ist nicht unmöglich.
Daraus ergibt sich als zweiter Auftrag, mit dieser neu formierten europäischen, namentlich deutsch-französischen Sozialdemokratie den Anschluss zu suchen an jene Institutionen und Milieus, die oft schon an der Seite der Sozialdemokratie standen, die aber heute von ihr völlig vernachlässigt werden: die Welt der Wissenschaft, der Hochschulen und der Schulen. Oder jene der Kreativwirtschaft und der Spitzentechnologie. In diesen Teilen der Gesellschaft, wo nach vorne gedacht wird und die internationale Entwicklung besonders aufmerksam verfolgt wird, gibt es heute keine oder nur schwache Verbindungen in die Sozialdemokratie. Das ist übrigens auch gar kein Widerspruch zu der ebenfalls dringenden Notwendigkeit, kommunikativ und organisatorisch ins Milieu der Arbeiter und prekär Beschäftigten, kurz gesagt auch der Armen vorzudringen. Jener, die keinen Bildungsabschluss vorweisen können und in ländlichen Gebieten leben. Eine Neuerfindung der Organisation und eine Diversifizierung des Personals eröffnen Möglichkeiten in vielen Milieus dieses Landes und in Europa.
»Es war gerade der Witz der Sozialdemokratie, eine Bewegung der No Names zu sein.«
Dabei ist ein weiterer Schritt hilfreich, der wegführt von der derzeitigen Fixierung auf Spitzengenossinnen und -genossen: Die Förderung des Teamprinzips auch in der Führung der europäischen Sozialdemokratie. In der Familie, in der Firma, selbst in der Schule sind die Zeiten vorbei, in denen vorne jemand steht, während alle anderen brav mitschreiben und gehorchen. Doch in Parteien wird es noch immer anders praktiziert. Dabei war es gerade der Witz der Sozialdemokratie, eine Bewegung der No Names zu sein, also der Menschen, die nicht von Geburt an für große Dinge vorgesehen sind. Heute hat sich aber ein medial befördertes Prominenzprinzip herausgebildet, das gerade diese Originalität entkräftet.
Deswegen ist die SPD mit der Fixierung auf immer neue Retterinnen und Retter und die Suche nach dem neuen Willy Brandt nicht besonders gut beraten gewesen. In der Politik ist Prominenz ohnehin eine zweifelhafte Qualität. Schaut man sich die Liste jener Länder an, in denen die Menschen am zufriedensten sind und die jährlich veröffentlicht wird, fällt eines auf: Ob Norwegen, Finnland, die Schweiz oder Dänemark – das sind immer die Spitzenreiter – dort amtieren Politikerinnen und Politiker, die nur ihren Landsleuten bekannt sind, die problemlos im Supermarkt einkaufen gehen. Um weiteren Wahlkatastrophen vorzubeugen, genügt es nicht, Personal und Programm auszutauschen. Struktur und Image der Partei müssen in die Ära der europäischen Integration überführt werden, sie muss sich öffnen, neugierig sein und mit politischer Fantasie überraschen. Dann zieht sie auch in die neue Zeit.
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