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Werner Bätzing untersucht Geschichte, Gegenwart und Zukunft einer Lebensform Stadt, Land, Zwischenraum

Nimmt man das Buch mit dem Titel Das Landleben des Erlanger Kulturgeografen Werner Bätzing zur Hand, so tut man es womöglich in der Annahme, es gäbe eine klare Trennung zwischen Stadt und Land und den jeweiligen Lebensformen in beiden. Mit dieser Lektüre wird einem rasch und eindrücklich klar, dass diese Trennung so schematisch nicht aufrecht zu erhalten ist: Land und Stadt sind zwei Seiten einer Medaille und derart eng aufeinander bezogen. Beide Kulturräume beeinflussen sich stark wechselseitig und so sollte sich auch jedes Nachdenken über die damit verbundenen Lebensformen die Komplexität dieses Verhältnisses erst einmal vergegenwärtigen.

Werner Bätzing rückt dies in seiner Studie gründlich in den Blick und fragt nach den Möglichkeiten, wie in Zeiten der Globalisierung die stärker denn je bedrohte Lebensform »Landleben«, die seit Beginn der Nullerjahre in einer verkitschten und eher artifiziell-medial hergestellten denn realen Form eine Renaissance erlebt, die wenig mit politischen, wirtschaftlichen, demografischen und ökologischen Fakten zu tun hat, eine Zukunft haben kann.

»Kann das Landleben unter den heutigen Rahmenbedingungen wirtschaftlich tragfähig, kulturell bereichernd, sozial vielfältig sein, und kann es eine qualitativ gute Versorgung und eine vielfältige und gesunde Umwelt bieten?« Um diese Fragen zu beantworten nimmt Bätzing zunächst eine Differenzierung des Begriffs Landleben vor, die sich seit den 90er Jahren durchgesetzt hat. Er unterteilt den ländlichen Raum zunächst in Räume, die in der Nähe von städtischen Agglomerationen liegen, solche, die attraktiv sind für den Tourismus, solche mit günstigen Produktionsbedingungen für die Landwirtschaft, gering verdichtete Räume mit wirtschaftlicher Entwicklungsdynamik und strukturschwache ländliche Räume. Je nachdem, um welchen Subtypus es sich bei der Betrachtung des ländlichen Raumes handelt, ob die Raumgeografie es mit »Zwischenstädten« oder »Zwischenstadtland«, also Mischtypen zu tun hat, werden Beschreibung und Bewertung des Landlebens höchst unterschiedlich ausfallen, wenngleich gewisse grundsätzliche Unterschiede zwischen den derart ausdifferenzierten ländlichen Raumtypen und dem Stadtraum bestehen bleiben.

Um den Lesern ein profunderes Verständnis für Stadt- und Landleben zu ermöglichen, erörtert Bätzing zunächst in einem historischen Abriss die Entstehung und Entfaltung der Landwirtschaft, den Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit, wodurch sich der Ackerbau etablierte, sich Siedlungen ausbildeten, sich aber auch urbane Lebensformen entwickelten. Als einschneidende Momente in der europäischen Geschichte der Landwirtschaft begreift er dabei die Auswirkungen der Industriellen und der Französischen Revolution als Ursachen für den Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnung, in der für die Bauern trotz ihrer Eingebundenheit in eine ständische Struktur die Selbstversorgung und die Lebensgrundlage garantiert waren. Diese Auflösung der mittelalterlichen Ordnung erlebten viele Menschen auf dem Land als Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Der kulturelle und politische Unterschied zwischen Stadt und Land vergrößerte sich nicht zuletzt auch durch zentrale juristische Veränderungen, die die Aufhebung der Grundherrschaft, die Parzellierungen und den Verkauf der Allmende als von allen Dorfbewohnern gemeinsam zu bewirtschaftende Fläche und damit ein Erschweren der bäuerlichen Selbstversorgung zur Folge hatten. Die Verstädterung und ein Ausbilden der Landschaft als »schöne Landschaft« lassen sich darauf ebenso zurückführen, wie eine extensivere Bodenpolitik, die allerdings erst mit Beginn der 60er Jahre in der letzten Phase der Industriegesellschaft ihren Höhepunkt in einer forcierten Modernisierung des Landlebens erreicht, ehe der Wandel zur postmodernen Dienstleistungsgesellschaft einsetzt.

Eines der frappierendsten Kapitel dieser Studie ist das sechste, in dem dargelegt wird, wie gegenüber den vergleichsweise weniger bewegten Jahrhunderten zuvor 20 Jahre im 20. Jahrhundert genügten, um das Leben auf dem Land grundstürzend zu verändern. In dieser Zeit wurde durch Dorfsanierung, Schul- und Gebietsreform und das »System der Zentralen Orte«, bei dem im Sinne der »Charta von Athen« aus dem Jahr 1933, die eine Entflechtung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr als Reaktion auf eine zunehmende Verdichtung der Städte vorsah, auch auf dem Land der Versuch unternommen, ausgeglichene Funktionsräume zu etablieren. Vor dem Hintergrund der Spezialisierung und Ausdifferenzierung in dünn besiedelten ländlichen Räumen ist dies jedoch bis heute kaum oder zumindest nicht genügend gut umsetzbar. So hat sich die relative Lebensqualität für viele Landbewohner deutlich verschlechtert.

Die über Jahrhunderte vorherrschende traditionelle Lebensform, in der Leben und Arbeiten auf dem Land eine Einheit bildeten, wurde von den genannten politischen Maßnahmen zur Etablierung der räumlichen Funktionstrennung vielfach unterlaufen und ausgehöhlt. Die Ortszentren wurden ausgeblutet, indem Schulen aufgelöst wurden, Dorfläden verschwanden und stattdessen Schulzentren errichtet und Vollsortimenter an der Peripherie hochgezogen wurden. Dazu wurden entsprechende Straßen und Umgehungsstraßen geplant, Nebenstrecken der Bahn aufgegeben. Die Folgen dieses Prozesses kann man nicht nur in der Geografie selbst, sondern auch in zahlreichen Romanen und Filmen, wie etwa Edgar Reitz' Heimat, Peter Kurzecks Vorabend, Andreas Maiers Die Straße oder Dieter Wielands im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlten Topographien dokumentiert finden.

Das Resultat ist ein Land, wie wir es heute vorfinden und dessen Subtypen bereits benannt wurden: Ein Teil trägt nun urbane Züge, das Leben verläuft arbeitsteilig, Landbewohner sind von Dienstleistungen anderer Menschen abhängig und haben nur noch wenig Natur um sich herum, ein weiterer Teil wird für eine ebenfalls zwischen 1960 und den 80er Jahren forcierte industrialisierte Landwirtschaft genutzt, in der die Kleinteiligkeit früherer ländlicher Lebensformen keinen Raum mehr hat, ein dritter Teil des Landes taugt nicht zur kommerziellen Nutzung, ein vierter Teil wird als Idylle für erholungsuchende Städter eingerichtet oder von ihnen selbst als »Arcadia« realisiert, als eine Art Kulisse und Rückzugsort, wo Gebäude stilvoll renoviert werden und von »Bauerngärten« umgeben sind.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet dieser vierte Teil des Landlebens wohl noch am ehesten dazu dienen könnte, eine Rehabilitierung des Images zu befördern, die Bätzing zu Recht für wünschenswert hält. Doch angesichts globaler Entwicklungen und auch aufgrund tendenziell neoliberaler politischer Entscheidungen der jüngsten Zeit, in denen wieder verstärkt von der Annahme ausgegangen wird, der Markt reguliere sich am besten selbst – Bätzing nennt hier beispielsweise die Stärkung von Wirtschaftszentren anstelle einer Förderung von wirtschaftsschwachen, kleinräumigen und dezentralen Strukturen –, bleibt fraglich, wie die Umwertung, die Aufwertung und die Zukunftsfähigkeit des Landlebens gewährleistet, gefördert und gestützt werden könnten.

Die Wendung der Studie gegen eine fortgesetzte Zersiedlung und gegen den Bau neuer Zwischenstadt-Strukturen und Bätzings leidenschaftliches Plädoyer für eine Stärkung regionaler und lokaler Besonderheiten dürften nicht selten dem Kampf gegen die Windmühlenflügel des Kapitals gleichen.

Indem diese Studie diese Phänomene und Entwicklung aber pointiert und kenntnisreich schildert, ihre Kritik auf fruchtbaren Boden gründet, ihren Wunsch nach einer Rekultivierung des Landlebens mit Augenmaß und ohne vorschnelles Klischeedenken oder kurzlebige Maßnahmen vorbringt, legt sie einen soliden Grundstein für eine bisher unzureichend und zu zögerlich geführte Diskussion, die mehr Aufmerksamkeit und Nachdrücklichkeit dringend benötigte, um die Lebensbedingungen für zukünftige Generationen zu sichern und im Idealfall sogar zu verbessern – ganz gleich, ob ihre Vertreter sich für das Leben in der Stadt oder auf dem Land entscheiden wollen.

Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. C.H.Beck, München 2020, 302 S., 26 €.

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