Menü

Von Desinteresse und Gegnerschaft zu Anerkennung und Respekt Stärkung des sozialen Zusammenhalts

Soziokulturelle Identitätsdebatten und sozioökonomische Schieflagen werden seit einigen Jahren von stärker werdenden Debatten zum gesellschaftlichen Zusammenhalt begleitet. Vor allem die antagonistischen Initiativen zur Corona-Politik, zum Klimawandel, zur Migrations- und Asylpolitik, zur geschlechtergerechten Sprache, der Ehe für alle und dem Dieselmotor werden als Belastung für den sozialen Zusammenhalt erlebt. Sie alle tangieren grundlegende Kultur- und Lebensstilaspekte. Dabei werden persönliche Lebensstile zu gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven verbunden und in einer sehr emotionalen Weise vermittelt. Kultiviert und verstärkt wird eben dieses Spaltungspotenzial durch den Resonanzboden sozialer Medien, die in sogenannten Echokammern fragmentierte Teilöffentlichkeiten generieren. Damit wird die Suche nach gruppenübergreifenden Perspektiven behindert und eine abgeschottete Unerbittlichkeit zwischen den jeweiligen gesellschaftspolitischen Präferenzen gefördert und zementiert.

Unsere Gesellschaft hat zwar die eigenen Traditionen modifiziert und sich von ihren tragenden Organisationen entfernt, ohne diese jedoch aufzugeben. Sie ist globalisierter, diverser, digitalisierter und individualisierter geworden, was auch gesellschaftspolitische Auswirkungen hat. Dahinter steht nämlich nicht nur eine sich zuspitzende Unverträglichkeit von Gruppen, zwischen denen immer weniger gemeinsame Erfahrungen, Überzeugungen und Ziele bestehen, sondern wir erleben eine in diesem Kontext angesiedelte populistische Bewegung gegen das »Establishment«.

»Oben« und »unten« strukturieren Herrschaft und Zugänge in marktwirtschaftlichen Demokratien. Diese waren so wie andere politische/ökonomische Systeme davor meist durch Herkunft, Besitz, Einkommen und Status geprägt, wobei verteilungspolitische Kategorien maßgeblich waren. Das hat sich von der Struktur her nicht verändert; gleichwohl haben sich die inhaltlichen und symbolischen Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Konflikte verändert. Ungeachtet dessen, ob es sich dabei wirklich um eine essentialistische Kulturalisierung gesellschaftlicher und ökonomischer Konfliktlagen handelt, oder ob sich hinter den im Vordergrund stehenden kulturellen Konfliktmustern nicht doch mehr soziale und ökonomische Disparitäten verbergen als es auf den ersten Blick den Anschein hat, gibt es offenbar neue Konfliktlinien als gesellschaftliche Sortier- und Zuordnungsmuster. Offensichtlich ist, dass mit dem Erstarken des Rechtspopulismus nunmehr eine Infragestellung politischer Gewissheiten eingekehrt ist. Neue Themen, Argumente und Akteure in der Corona-Krise (Querdenker, Partei dieBasis etc.) haben die damit einhergehende Unübersichtlichkeit weiter vorangetrieben.

Die Verschiebung der Konfliktstrukturen in der öffentlichen Aufmerksamkeit von sozioökonomischen Verteilungskämpfen hin zu sozioökonomischen Identitätskonflikten kann durch die analytische Etablierung einer eigenen, grundlegenden Konfliktachse zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen diskutiert werden. Auch wenn dies Idealtypen sind, könnte die darauf aufbauende Konfliktachse mit ihren zentralen Protagonisten dabei helfen, die Gefährdung des sozialen Zusammenhalts besser zu verstehen. Wodurch zeichnen sich die damit adressierten Sozial- und Lebensmuster aus und wie konnte aus dem bisherigen Nebeneinander eine aktivere gegenseitige Abneigung, Geringschätzung und Respektlosigkeit entstehen? Was könnte getan werden, um diese Respektlosigkeit wieder abzubauen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken?

Debattenpanorama

Die Kontroversen zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus wurzeln in den 80er Jahren. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage der Realisierung von Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, die zugleich universalistische wie auch partikularistische Orientierungspunkte besitzt. Insgesamt sensibilisiert die Debatte für soziomoralische Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts in modernen Gesellschaften angesichts von Individualisierungsschüben und Wertewandel. Im Kern geht es um eine suggerierte Konfrontation zwischen »Menschen, die das Leben in der überschaubaren Gemeinschaft von Gleichen gegen Globalisierung und Massenzuwanderung verteidigen wollen, und jenen, denen die umfassende Öffnung der Gesellschaft – gerade auch für Migranten – willkommen ist« (Thomas Meyer, NG|FH 3/2017). In dieser Logik treffen sogenannte Modernisierungsgewinner, die sich durch ein überdurchschnittliches Einkommen, eine tendenziell positive Einkommensentwicklung sowie die Präferenz für pluralistische Öffnungen auszeichnen, auf potenzielle Modernisierungsverlierer. Letztere sind durch eine niedrigere Bildung, ein Gefühl sozialer Unsicherheit, das eher zu Schließungspräferenzen führt, traditionellere Lebensformen sowie einen starken Bezug auf den Nationalstaat gekennzeichnet. Diese im Diskurs verbreitete Polarität zwischen Kommunitaristen und Kosmopoliten bildet die Wirklichkeit der Einstellungen der allermeisten Menschen nicht oder nur gebrochen ab. Da viele andere Faktoren da hineinspielen, ist auch davon auszugehen, dass die erlebten sozialen Situationen durch ein entsprechendes Handeln von Staat und etablierten Parteien beeinflusst und geprägt werden kann.

Es sind vor allem größere Teile der Unterschichten und der unteren Mittelschichten, die sich aus einem Gefühl des »Verlassenseins« (Johannes Hillje), wenn nicht des gedeuteten Verrats, von der etablierten Politik abgewandt haben. Den etablierten Parteien ist es immer weniger gelungen, die Lebens- und Gefühlslagen von Menschen in den unteren Mittelschichten und Unterschichten so zu erreichen, dass Exklusionserfahrungen abgebaut und Perspektiven des Aufstiegs ermöglicht werden. Dagegen sind die Rechtspopulisten in diesen Bereichen zuweilen dadurch anschlussfähig, dass sie soziale Fragen in kulturell-ethnische »Wir-Sie-Gegensätze« transformieren. Die Abwertung der anderen wertet die eigenen Lebensumstände auf und befriedet temporär subjektive Abstiegsängste und Zukunftssorgen.

Andreas Reckwitz versucht diese hier beschriebenen Konflikte aus einer kulturessenzialistischen Perspektive zu erklären. Demnach ist der Rechtspopulismus eine Art Befreiungsbewegung gegen den liberalen Kosmopolitismus: »Die zentrale Trägergruppe der postindustriellen Gesellschaft der Singularitäten, die neue Mittelklasse der Wissens- und Kulturökonomie mit ihrem Selbstbewusstsein eines avancierten, zeitgenössischen Lebensstils, verwandelt sich in der rechtspopulistischen Perspektive damit in einen Gegner des ›wahren Volkes‹, in ein parasitäres Außen« (Die Gesellschaft der Singularitäten). Vor dem Hintergrund dieser kulturell überlagerten Singularisierungsprozesse wird übrigens auch die integrative Rolle der beiden Volksparteien skeptisch bewertet. Die These lautet, dass die Interessen der Modernisierungsverlierer angesichts der Herausforderungen der Globalisierung nicht nur unzureichend berücksichtigt wurden. Vielmehr wurden bewusst alternative Perspektiven ausgeschlossen, womit die Parteien durch eigenes Zutun den Kontakt zu den unteren Mittel- und Unterschichten verloren hätten.

Herausforderungen und Perspektiven

Der Befund aus der Analyse lautet, dass es bisher nicht gelungen ist, die neuen Konfliktthemen als Chance für eine Strategie der Anerkennung und des Respekts zu entwickeln. Welche Schlüsse müssen aus diesen Beobachtungen gezogen und welche Weichen gestellt werden, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Integrationsfähigkeit gesellschaftlicher Organisationen und Parteien zu fördern? Die Arbeitshypothese für diese strategischen Überlegungen lautet: Eine Gesellschaft für alle braucht auch Begegnungsräume für alle. Das ist kein Plädoyer gegen abgeschottete Räume. Sie waren und sie sind wichtig, weil sie die Möglichkeit des Lebens in wechselseitiger Verbundenheit ermöglichen; was übrigens auch eine zentrale Quelle von Solidarität ist. Werden allerdings die Prinzipien der Abschottung und Schließung zum Maß der gesellschaftlichen Orientierung, dann ist der soziale Zusammenhalt, der auch starke Brücken zwischen den Gruppen und viele Gemeinsamkeiten benötigt, gefährdet. Es muss darum gehen, gemeinsame Erfahrungsräume auszuweiten, um bestehende Ressentiments abzubauen und gegenseitige Akzeptanz sowie Respekt zu schaffen. Kosmopolitische und kommunitaristische Logiken müssen in diesem Sinne keine Widersprüche sein, sondern sie könnten sich auch wechselseitig befruchten.

Was tun? Erstens bedarf es für die Überwindung der Kluft zwischen den abgeschotteten Räumen, Milieus und Teilöffentlichkeiten einer (Re-)Etablierung von Räumen, in denen häufigere und intensivere Begegnungen zwischen unterschiedlichen Lebenslagen, Lebensstilen und kulturellen Präferenzen möglich sind. Dafür spielt die kommunale Ebene die entscheidende Rolle. Es geht dort um Bildungsinstitutionen, Medien, Vereine, soziale Bewegungen, Parteien und Verbände. Gerade weil die Integrationskraft der intermediären Organisationen schwächer geworden ist, muss über weitere, zusätzliche Räume nachgedacht werden. Dabei kommt dem Sport und dem Umweltschutz vermutlich eine wichtige Rolle zu. In diesem Rahmen ist auch die digitale Ebene wichtig. Soziale Medien, die gegenwärtig als Katalysator für die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts betrachtet werden, müssen hin zu Räumen der respektvollen Begegnungen und des Austauschs transformiert werden.

Zweitens geht es um gute Institutionen der Bildungssozialisation (Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Weiterbildung) und der materiellen Leistungserbringung (vom Sozialstaat zum Flächentarifvertrag), welche die an sie gerichteten Anforderungen erfüllen, wobei dem wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich besondere Bedeutung zukommt. In diesem Zusammenhang ist auch die Institutionalisierung vorausschauender Praktiken wichtig, um veränderte gesellschaftliche Herausforderungen und Bedarfe frühzeitig zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Im Rahmen dessen sollte ein verbindlicher Rahmen für eben diese Institutionen geschaffen und ebenfalls langfristig garantiert werden, um einen selektiven Zugang (Herkunft, Bildung, kulturelles und soziales Kapitel) zu verhindern. Bürgernähe darf kein Slogan sein, sondern gelebte Praxis, um Vertrauen zu entwickeln und Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen zu stärken.

Zudem bedarf es breit aufgestellter und demokratiefreundlicher öffentlich-rechtlicher Medien, die alle gesellschaftlich und kulturell relevanten, demokratisch eingebetteten Positionen umfassen. Auf dieser Basis könnte auch eine positive Ausstrahlung auf die privaten Medienangebote erreicht werden. Dass dies kein Selbstläufer ist, zeigten unlängst die Auseinandersetzungen um eine leichte Erhöhung des Rundfunkbeitrags.

Drittens ergibt sich aus der Geringschätzung der beruflichen Bildung, also der nicht-akademischen Arbeit, und dem inflationären Anstieg der akademischen Partizipation eine neue Schieflage, die selbst zu einer strukturellen Basis für umfassendere gesellschaftliche Spaltungsprozesse geworden ist. Die Rede ist vom »Akademisierungswahn« (Julian Nida-Rümelin). Daraus ergeben sich nicht nur arbeitsmarktinterne Problemlagen wie den Fachkräftemangel. Mit dieser Entwicklung geht auch ein gesellschaftlich relevantes Anerkennungs- und Respektproblem einher. Es müssen also Strategien entwickelt werden, um den Respekt und die materielle Anerkennung für die nichtakademischen Berufe zu erhöhen.

Diese drei zentralen strategischen Zugänge – soziale Räume, gute Institutionen und die Förderung nicht-akademischer Berufe – müssen konkretisiert und zum Ausgangspunkt für eine strategische Debatte zu einer neuen Politik des sozialen Zusammenhalts gemacht werden. Verordnen lassen sich Respekt und Anerkennung nicht, sie können aber erstritten und erarbeitet werden. Im Kern braucht eine resiliente Demokratie das Zusammenspiel zwischen wertebasierten, robusten und vorausschauenden Politikerinnen und Politikern sowie Organisationen und Institutionen auf der einen Seite und einer Bevölkerung, die sich mehrheitlich an den Wertvorstellungen der Demokratie orientiert und sich dafür engagiert.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben