Debatten über den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden verstärkt geführt, seit sich die Anzeichen einer Erosion der Demokratie mehren und der wachsende Populismus beunruhigt. Hinzu kommt nun der Stresstest der Corona-Pandemie mit ihren Verwerfungen. Gerade in Krisenzeiten steht auf dem Prüfstand, was die Gesellschaft überhaupt zusammenhält, wie sie Zugehörigkeit schafft und gewährleistet. Die Pandemie erfordert Solidarität. Können unsere Gesellschaften sie überhaupt (noch) aufrufen?
Der Zusammenhalt dünnt aus – durch Ausdifferenzierung von Milieus, durch Individualisierung und Vereinzelung, durch Ausgrenzung und vor allem durch weiter zunehmende Ungleichheit. Dabei verspricht die demokratische Gesellschaft, Gleichheit durch Chancengerechtigkeit in der Bildung zu schaffen, die jedem Einzelnen Aufstieg und Teilhabe ermöglichen soll. Wohin führt dieses Versprechen unsere Leistungsgesellschaft? Der Sozialphilosoph Michael J. Sandel von der Harvard-Universität analysiert in seinem aktuellen Buch Vom Ende des Gemeinwohls das Spannungsverhältnis zwischen Leistungsgesellschaft und Gemeinsinn. Ihn interessieren die Auswirkungen einer »brutalen Ethik des Erfolgs«. Sein Resümee fällt düster aus: Es hätte den Brexit und Donald Trumps Wahlsieg 2016 – und die vielen Trump-Stimmen 2020 – nicht ohne jene enttäuschten Wählerinnen und Wähler gegeben, die sich politisch zu wenig repräsentiert sahen und nicht mehr an ihre Chancen glaubten. So kam es zur Antwort der Nichtakademiker auf die Verachtung durch die gebildeten Eliten.
Weil weite Teile der Bevölkerung sich ohnmächtig und gering geschätzt fühlen, weil sie realisieren, dass sie kaum mehr vorankommen werden, sei die Demokratie in Gefahr. Sandel diagnostiziert über die letzten Jahrzehnte eine »Explosion der Ungleichheit« und verdeutlicht das am Beispiel des Zugangs zu den Eliteuniversitäten. Zwei Drittel der Studierenden in Harvard und Stanford stammen aus dem oberen Fünftel der Einkommensskala. Weniger als 4 % der Studierenden der Ivy-League-Hochschulen kommen aus dem unteren Fünftel. Illusionslos betrachtet Sandel, selbst Angehöriger der akademischen Elite, seine Klientel und prangert die »Zulassungsbesessenheit« der amerikanischen Gesellschaft an. Überdies hätten reiche Eltern die Selektionsmechanismen einiger Elite-Unis auszuhebeln versucht in der Überzeugung, ihr Nachwuchs habe das Anrecht auf eine Spitzenposition. Obszön daran sei nicht allein die Manipulation, sondern auch der »geborgte Glanz der Leistung«, der bloße Anschein, es auf eine Eliteuniversität geschafft zu haben. Die Überheblichkeit der »Gewinner« und die Demütigung der »Verlierer« – in dieser Polarisierung sieht Sandel den Kern der populistischen Rebellion gegen die Eliten.
Viele Menschen sind unzufrieden und frustriert, was zumeist mit der Erfahrung des Statusverlusts infolge von Deindustrialisierung und Zuwanderung erklärt wird, auch mit dem als bedrohlich erlebten, von der Globalisierung forcierten ökonomischen Wandel. Laut Sandel greifen beide Befunde zu kurz. Die etablierten Parteien und Eliten seien zu Recht alarmiert, denn gerade sie seien für den wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang der arbeitenden Menschen verantwortlich. Sandel nennt es ein politisches Versagen historischen Ausmaßes, dass sich weite Teile der Bevölkerung würdelos und missachtet vorkommen. Ohne die Aussicht auf Bildung und Wohlergehen, ohne Wertschätzung, ohne Respekt und Zukunftszuversicht entsteht kein Vertrauen auf gesellschaftliche Teilhabe und das Gemeinwohl. Im Gegenteil: Dass wir dem Leistungsprinzip huldigen, produziert Verlierer und untergräbt per se die Demokratie. Aufwärtsmobilität für alle kann es nicht geben. Nicht der Verlust der Hoffnung in der Leistungsgesellschaft ist das Problem, sondern die Idee der Leistungsgesellschaft selbst.
Sandel erinnert an die 80er Jahre, als mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher ein technokratisches Wirtschafts- und Politikverständnis aufkam. Im Vertrauen auf den Markt und die Segnungen der Globalisierung wurden vornehmlich die Gewinner gesehen, kaum die Verlierer und ihre Erfahrung, jederzeit ersetzbar zu sein. Die Angehörigen einer polyglotten, erfolgreichen Klasse mögen begrüßen, dass nationale Identitäten und Loyalitäten schwinden, doch ängstigt es jene, die sich ausgeschlossen fühlen. Was Menschen kränkt, enttäuscht und marginalisiert, lehnen sie ab.
Menschen werden klassifiziert und ordnen sich selbst ein, sie hegen Vorstellungen über ihre Zugehörigkeit und die der anderen. Weil diese Vorstellungen überaus wirkmächtig sind, sprach Didier Eribon von einer »Gesellschaft als Urteil«. Wer steigt auf und warum? Wer bleibt auf der Strecke, und wie wird er angesehen? »Fördern durch fordern« oder »what you earn depends on what you learn« (Bill Clinton) – mit diesen Parolen verspricht die Leistungsgesellschaft hohe Durchlässigkeit und gleiche Chancen für alle. Sandel geißelt solche »Phrasen vom Aufstieg«, schildert die Kehrseite des meritokratischen Gesellschaftsbildes, welches Erfolg als persönliches Verdienst ansieht: Wenn jeder seines Glückes Schmied ist, was ist dann mit den Erfolglosen? Die Überheblichkeit der Eliten zeigt sich an der Herablassung gegenüber denen, die es nicht geschafft haben. Das demoralisiert, da Anerkennung und Selbstachtung einander bedingen. Strengt sich jemand an, der gering geschätzt wird?
Die Leistungsgesellschaft scheint inzwischen mehr zu zerstören als ermutigend zu wirken. Sie vertieft Ungleichheit, statt sie zu reduzieren. Daniel Markovits, Rechtswissenschaftler an der Yale University, spricht von der »Meritokratie-Falle«: Sie halte uns in der Vorstellung gefangen, dass sozialer und wirtschaftlicher Erfolg, gegründet auf Talent, Mühe und Leistung, verdient sei. Sie ersticke die soziale Mobilität und mache zuletzt auch die scheinbaren Gewinner unglücklich, indem sie ein gedeihliches, auf gemeinsame demokratische Ziele orientiertes Miteinander untergrabe. Die Meritokratie-Falle schnappe auch für die Progressiven zu, wenn sie sich auf Identitätspolitik und Armutsbekämpfung konzentrieren, um die Unzufriedenheit der Mittelschicht zu bekämpfen. Markovits wie Sandel kritisieren, dass auch die Mitte-Links-Parteien auf jene herabgeschaut hätten, denen der Aufstieg durch Bildung nicht gelungen sei. Auch sie hätten einen Anteil daran, dass die Arbeiter sie »als Teil der Verachtung der Eliten für die unten identifizieren«.
»Dank und Demut sind wichtig für das Gemeinwohl«
Wie die meritokratische Macht brechen? Sandel schlägt vor, den Universitätszugang nicht durch Wettbewerb, sondern über eine Vorauswahl und Losverfahren zu organisieren. Diese seien gerechter. Mit ihrer Hilfe könnten Überheblichkeit, Selbstüberschätzung und Machtmissbrauch ausgebremst werden. Schweizer Wirtschaftsforscher haben dies auch für die Besetzung von Leitungspositionen in Unternehmen angeregt.
Das Bemühen, nicht nur gut, sondern besser als andere zu sein, wirkt laut Sandel auf die Gesellschaft und das Engagement für das Gemeinwesen negativ zurück: »Das starke Streben nach Leistung blendet aus, dass Erfolg nicht allein dem einzelnen Individuum, sondern den vielen geschuldet ist, die daran mitgewirkt haben. Dank und Demut, die wichtig sind für das Gemeinwohl, geraten aus dem Blick.« Sandels kommunitaristisches Credo setzt auf die Tugend der Gemeinschaftlichkeit und des Miteinanders. Er appelliert an das große »Wir«, ruft die Stärke der politischen Gleichheit auf, die zum Anerkennungsmaßstab werden müsse. Wertschätzung sei entscheidend. Sandel fordert besonders die Anerkennung nichtakademischer Arbeit.
Im Herzland des Aufstiegsversprechens, in dem das Glücksstreben in der Verfassung verankert ist, wächst der Zweifel am individualistisch interpretierten Leistungsprinzip und mündet in eine massive Eliten-Kritik. Der flexible Mensch ist ökonomisch hoch attraktiv, aber sozial gefährdet, da seine Bindungen ausdünnen. Aufstiegsversprechen können locken und stimulierend wirken, entfalten aber auch eine desintegrierende Kraft. Wenn das Versprechen der Chancengleichheit sich für viele nicht erfüllt, schwindet die Attraktivität der Demokratie. Sandel verdeutlicht den psychosozialen Mechanismus: Menschen verachten eine abgehoben-überhebliche Elite, weil sie von ihr verachtet werden. Der »Homo Reziprocans«, der moderne, in Demokratien sozialisierte Mensch, reagiert mit Rückzug, wenn er meint, dass es nicht gerecht zugeht. Menschen stellen ihr Engagement für das Gemeinwesen ein, sobald in einer Welt »mit zweierlei Maß gemessen wird und man sich als Einziger ›an die Regeln hält‹«.
Zur Frage nach dem belastbaren Zusammenhalt, nach der Bindungskraft einer Gesellschaft gehört sicher, wieviel Ungleichheit sie verträgt. Dabei sollte es um wirtschaftliche Ungleichheit und Fragen der Einkommensverteilung, aber auch um die kulturellen Aspekte der Ungleichheit gehen. Lohnend wäre eine öffentliche Debatte darüber, was eigentlich Erfolg in unserer Gesellschaft bedeutet und wie er zustande kommt. »Leistung und Erfolg werden oft gleichgesetzt«, schreibt Nina Verheyen in ihrem Buch Die Erfindung der Leistung. »Doch individuelle Leistung gibt es nicht, sie ist ein soziales Konstrukt, anders gesagt: Sie ist die Leistung von vielen.«
Wie kann eine Politik mit solidarischer Perspektive aussehen, die einfache Menschen wertschätzt und sie für das Gemeinwohl gewinnt? Wird endlich die Würde der Arbeit zum neuen Narrativ, wie Sandel vorschlägt, eine »am Produzenten orientierte Ethik«? Wie die Hinwendung zu den Nichtakademikern konkret gelingen kann, ob damit die Fixierung auf das Bildungsideal, die Erzählung vom Aufstieg durch Bildung an ihr Ende kommt, ist offen. Die Tyrannei der Gebildeten zu bekämpfen, bedeutet jedenfalls ein gewandeltes politisches Verständnis von Bildungsaufstieg. Der Kanzlerkandidat der SPD Olaf Scholz sagte kürzlich im Gespräch mit Michael Sandel: »Bildung ist nicht die Antwort auf jede Frage.«
Michael J. Sandel: Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. S. Fischer, Frankfurt/Main 2020, 448 S., 25 €.
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