»Warum gibt es in den USA keinen Sozialismus?« Diese berühmte Frage, die der deutsche Soziologe Werner Sombart vor über einem Jahrhundert stellte, wurde von den französischen Medien gleich zu Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes 2022 auf die politischen Verhältnisse in Frankreich übertragen. Die Zustimmung von lediglich zwei bis drei Prozent, die der Kandidatin der Parti socialiste (PS) und Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, in Umfragen zugeschrieben wird, ist jedoch ein Zerrbild.
Auch in Frankreich sind die progressiven Wählerinnen und Wähler nicht verschwunden, allerdings haben die meisten ihre Erwartungen seit 2017 größtenteils entweder an Emmanuel Macron (La République en Marche) oder an Jean-Luc Mélenchon (La France insoumise; Das unbeugsame Frankreich) geknüpft. Mal abgesehen von den vielen Unterschieden, die zwischen diesen beiden bestehen, so haben sie doch eine Gemeinsamkeit: Sie waren schon einmal Mitglieder einer sozialistischen Regierung.
Macron, der von 2014 bis 2016 Wirtschaftsminister in der Regierung von Manuel Valls war und 2017 Präsident der Französischen Republik wurde, werden in aktuellen Umfragen etwa 25 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang zugesprochen. Mélenchon, der von 2000 bis 2002 Minister in der Regierung von Lionel Jospin war, bevor er die PS unmittelbar nach dem Kongress von Reims 2008 verließ, könnte auf etwa 10 Prozent kommen, es sei denn, er kann den Schachzug von 2017 wiederholen, als er durch den Zusammenschluss mit den radikalen Linken fast auf 20 Prozent kam.
Auf dem Höhepunkt der Parteienkrise
Schaut man nur auf die Zahlen, so ist es einfach, der verbreiteten These einer Rechtsorientierung der französischen Gesellschaft zu widersprechen. Politisch gesehen ist die Lage jedoch komplizierter. Was man sagen kann, ist, dass die aktuelle Situation als Höhepunkt einer allgemeinen Krise französischer Parteien und politischer Organisationen interpretiert werden kann, die nicht nur linke Parteien, sondern auch nationale rechte und rechtsextreme Parteien betrifft.
Das Hauptmerkmal dieser Parteienkrise ist die Auflösung des Präsidentschaftswahlrechts, wie es in den 70er Jahren von François Mitterrand und Jacques Chirac eingeführt worden war. Dieser Prozess wurde seit den 80er Jahren strategisch durch den sozialistischen Präsidenten eingeleitet. Durch die Einführung des Verhältniswahlrechts bei den Parlamentswahlen und die öffentliche Debatte über die Ausweitung des Wahlrechts auf Ausländer verschärfte Mitterrand die Spaltung der neogaullistischen Bewegung, wodurch diese zugunsten des Front National von Jean-Marie Le Pen geschwächt wurde.
Zugleich, außerstande den Schutz des Arbeitsmarktes auf nationaler Ebene zu sichern, konnte die PS, zumindest anfänglich, durch ihre Zustimmung zum europäischen Projekt eines transnationalen Arbeitsmarktgesetzes, das bisher hauptsächlich von den Christdemokraten und dem von Valéry Giscard d'Estaing beeinflussten liberalen Rand unterstützt wurde, ihr Potenzial über die traditionelle Wählerschaft hinaus erweitern.
Auf der Linken begann die Krise traditioneller Parteien und politischer Organisationen mit dem Niedergang der Kommunistischen Partei (PCF). Diese war bis zum Zusammenschluss der vereinten Linken1972 einflussreich und konnte sich auf den Gewerkschaftsbund CGT stützen. 1981 allerdings wurde sie vom »Virus« der Regierungsbeteiligung befallen und ab 1989 von der Erosion des Ostblocks in Mitleidenschaft gezogen, dem sie lange Zeit Sympathie, wenn nicht sogar Loyalität entgegengebracht hatte. Bei der Wahl 2022 könnte ihr Generalsekretär Fabien Roussel ein besseres Ergebnis als die PS einfahren, allerdings ohne dabei auf mehr als 5 Prozent der Stimmen zu kommen.
Die Krise der Linken, ausgelöst vor 40 Jahren durch den Niedergang der Kommunistischen Partei, setzt sich in den gegenwärtigen Kalamitäten der Sozialistischen Partei fort. Anders als die Labour Party in Großbritannien oder die SPD in Deutschland, wo Tony Blair beziehungsweise Gerhard Schröder versuchten, die politische Strategie und Kultur neuen Entwicklungen und den globalen Gegebenheiten anzupassen, gelang es der französischen PS nicht, ihre nationale und etatistische Tradition zu überwinden und gleichzeitig eine solide Wählerbasis zu sichern.
Einerseits führte das Festhalten an den Verträgen von Maastricht und Lissabon zu Spaltungen, die die Glaubwürdigkeit der Partei in der öffentlichen Meinung untergruben. Andererseits schaffte es die Partei nicht, das Vertrauen der Arbeiterschaft zu bewahren, die angesichts der sozialen Folgen der Globalisierung bei der Einwanderungsfrage eher zurückhaltend war oder gar die Kritik der extremen Rechten unterstützte.
Dominique Strauss-Kahn, der zwischen 2010 und 2011 als vielversprechendster Kandidat eines Linksbündnisses für die Präsidentschaftswahl 2012 gehandelt wurde, und der auch in der Lage gewesen wäre, nach Michel Rocard einen ehrgeizigen und pragmatischen Regierungssozialismus zu verkörpern, geriet allerdings durch staatsanwaltliche Ermittlungen gegen ihn in den USA in solche Schwierigkeiten, dass es zu einer Kandidatur nicht mehr kam.
Weder die unterschätzten Erfolge der Präsidentschaft von François Hollande (2012–2017) noch Benoît Hamons Eintreten für ein allgemeines Grundeinkommen im Präsidentschaftswahlkampf 2017 konnten einen Trend umkehren, der seit Beginn des Wahlkampfs zur Präsidentschaftswahl 2022 inzwischen wie eine Katastrophe anmutet. Die PS, deren parlamentarische Vertretung auf 30 Abgeordnete in der Nationalversammlung abgeschmolzen ist, ist nicht nur mit Blick auf ihr Wahlstimmenpotenzial blutleer. Ihre finanzielle Lage ist durch die Niederlagen prekär – die materiellen Kapazitäten, die für einen Modernisierungsversuch der alten Organisation notwendig wären, sind heute gering.
Auf Seite der Rechten hat sich die politische Landschaft in Frankreich ebenfalls erheblich verändert, seit Nicolas Sarkozy 2012 im zweiten Wahlgang die Präsidentschaft gegen François Hollande verlor. Bei der Wahl 2017 wurden die sogenannten Republikaner (Les Républicains, LR), die die jüngste Ausprägung der neo-gaullistischen Bewegung darstellen, von der extremen Rechten überholt. Angeführt von Marine Le Pen scheiterten sie im zweiten Wahlgang an Emmanuel Macron. Mit einer politischen Meisterschaft, vergleichbar der von François Mitterrand, brachte Macron sozialistische und liberale Wähler zusammen, indem er einen Diskurs à la Tony Blair führte: die notwendige Modernisierung Frankreichs einforderte, für einige Zugeständnisse an Europa bereit war und die historische Kluft zwischen links und rechts zu überwinden versuchte.
Während die linken Parteien seit 2017 die für eine Neuaufstellung notwendige Zeit verstreichen ließen, bewegt sich die französische Rechte in den letzten Monaten vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2022 auf eine neue Dreiteilung zu. Wo der Historiker René Rémond für das 19. Jahrhundert noch eine Aufteilung in »Orleanisten« (liberal), »Bonapartisten« (autoritär und volkstümlich) und »Legitimisten« (reaktionär) erkannte, da gibt es heute die verschiedenen Anhängerschaften von Valérie Pécresse (Les Républicains), Marine Le Pen (Rassemblement National) und Éric Zemmour (Reconquête).
Nicht nur die Namen ihrer jeweiligen Spitzenkandidaten wurden Anfang 2022 bekannt, auch die Kontroversen dieser drei Gruppierungen/Parteien, die das Bekenntnis zur republikanischen Ordnung und den Willen zur Kontrolle der Einwanderung teilen. Alle gehen auf Stimmenfang bei einem konservativen und bürgerlichen Publikum, das durch die Veränderungen in der Welt kulturell oder wirtschaftlich destabilisiert ist. Die Ausbrüche radikaler rechter Rhetorik von Éric Zemmour im Wahlkampf bedeuteten das Ende der Koexistenz zwischen einer traditionellen und einer extremen Rechten, die ihre »Normalisierung« vorangetrieben hatte, indem sie die oft ungezügelte politische Kommunikation ihres historischen Anführers Jean-Marie Le Pen aufgab.
Erfahrener Polemiker, der er ist, geschult im Umgang mit den Medien und überzeugt von der These vom »großen Austausch« radikalisierte Éric Zemmour die Rechte wieder bei den Themen Einwanderung und multikulturelle Gesellschaft, während er sich gleichzeitig vom Rassemblement National (ehemals Front National) abgrenzte, indem er eine radikale Rhetorik beibehielt.
Unabhängig vom Ergebnis des Wettbewerbs ist die französische Rechte, wiewohl geschwächt durch den Sieg von Emmanuel Macron 2017 und den Rückzug von Nicolas Sarkozy, durch einen Prozess der schöpferischen Zerstörung im Sinne Joseph Schumpeters gekennzeichnet, dessen Ergebnis durchaus eine Erneuerung ihres Programmes sein könnte.
Ansätze für eine Neudefinition der französischen Linken
Auf der linken Seite des politischen Spektrums sind mehrere Szenarien möglich, aber keines ist ausformuliert.
Das erste betrifft den Status quo und eine dauerhafte Spaltung der alten progressiven Wählerschaft in eine sozialliberale Bewegung unter Führung von Emmanuel Macron; eine radikale Linke, die Jean-Luc Mélenchon zu verbünden versucht; eine politische Ökologiebewegung, Opfer ihrer Desorganisation, und schließlich historische Überbleibsel, darunter die trotzkistische extreme Linke, die Kommunisten, sogar die Sozialisten selbst.
Inwieweit dieses Szenario realistisch ist, hängt insbesondere von der Fähigkeit Macrons – und seines möglichen Nachfolgers Edouard Philippe – ab, sich die Unterstützung der Wählerinnen und Wähler zu sichern, die von einer sozialliberalen und europäisch geprägten Ausrichtung angesprochen werden. Sie setzt auch die Fähigkeit von »La France insoumise« voraus, die bereits von Jean-Luc Mélenchon vor Jahren angestrebte »Linksfront« (Front de gauche) in die Tat umzusetzen.
Das zweite Szenario beschreibt die Wiederbelebung der Sozialistischen Partei aus ihren lokalen Ressourcen: in den Gemeinden, Regionen und Departements ist sie immer noch einflussreich. Diese Option geht davon aus, dass aus den Talenten, die bei den letzten Kommunalwahlen in Erscheinung getreten sind, eine neue Generation politischer Führungskräfte hervorgeht. Sie impliziert allerdings ein hohes Engagement, obwohl die PS nie Teil des »sozialdemokratischen Regimes« war, das sich durch Verschränkung einer Partei und einer Gewerkschaft sowie durch ein Netzwerk von Vereinen auf Gegenseitigkeit und Genossenschaften definiert.
Es gibt in Frankreich durchaus Ressourcen für eine solche Annäherung, vor allem wenn der Sektor »Sozial- und Solidarwirtschaft« boomt. Tatsache ist aber auch, dass der selbstreflexive Charakter der Partei im Sinne Niklas Luhmanns sowie das Misstrauen jener Bürger, die sich bislang eher von der ökologischen Bewegung vertreten sahen – sogar von Jean-Luc Mélanchon – dem Aufbau eines »sozialdemokratischen Regimes 2.0« entgegenstehen.
Das Szenario der Konstituierung einer »ökosozialistischen« Gruppierung bleibt möglich, aber schwierig umzusetzen, da die nationalen Anführer der PS und EELV (Europe Ecologie Les Verts) es versäumt haben, ein Bündnis zu schließen und ein gemeinsames Programm zu erarbeiten. Sollte es dennoch dazu kommen, wird sie eher dem Erfolg der Stadterneuerungsexperimente von Marseille oder Bordeaux zu verdanken sein, und nicht aus einem Prozess hervorgehen wie dem, der Olaf Scholz durch Regierungsverhandlungen ins Kanzleramt brachte.
Voraussetzung dafür ist aber die Verabschiedung vom Irrglauben an eine natürliche Komplementarität von lokaler Anstrengung und globalem Interesse. Den offenen Fragen der Versorgungssicherheit, der Energiekosten für Privathaushalte und Unternehmen sowie der Stellenwert der Kernenergie bei alternativen Produktionsweisen und einem anderen Konsumverhalten lässt sich nicht ausweichen.
Welche politische Formation – von LREM bis »La France insoumise« – es aber auch immer schafft, zu einem dauerhaften Pol in der Neudefinition einer französischen Linken zu werden, sie wird sich einer doppelten Herausforderung stellen müssen: sich einerseits selbst zu stabilisieren bei einer gleichzeitigen Ausbreitung der Protestbewegungen und zugleich der Popularität der radikalen Rechten zu trotzen, die eine inhaltliche Verbindung herzustellen versuchen zwischen Kaufkraftgarantie und Finanzierung der sozialen Sicherheit auf der einen Seite mit der Kontrolle der Zuwanderung auf der anderen.
Fehlerteufel in der Printausgabe: Durch einen Übersetzungsfehler heißt es in der Printausgabe dieses Artikels fälschlich, Nicolas Sarkozy habe 2012 im zweiten Wahlgang die Präsidentschaft vor François Hollande gewonnen. Richtig muss es gerade umgekehrt heißen, - wie hier in dem Online-Text -, dass Sarkozy die Wahl verlor und Hollande Präsident wurde.
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