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Jenny Erpenbeck und Julia Franck über die Sozialisation junger Frauen in der Vorwendezeit Unboxing Memories

»Oft liegen unsere Geschichten und unsere Sicht auf die Wirklichkeiten Welten auseinander. Wir erinnern uns an Ereignisse und unsere nächsten Menschen vollkommen unterschiedlich – unterschiedlich, wie wir für uns selbst und voneinander träumen«. Im Herbst 2021 erschienen fast zeitgleich der Roman Kairos von Jenny Erpenbeck und Welten auseinander von Julia Franck, ein in der Gattung nicht näher bestimmter Prosatext zwischen Autobiografie und Roman. Beide Bücher sind Erinnerungsbücher, sie blicken auf eigene Weise auf die Jugend in Zeiten des Kalten Krieges und das Aufwachsen junger Frauen, die eine geboren 1967, die andere 1970 in Ostberlin. Beide Bücher sind situiert in der Vorwendezeit, beide erzählen von Sozialisationen in einem geteilten Deutschland im Kalten Krieg diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Und beide thematisieren das Vergessen und Aktualisieren der teilweise traumatischen historischen Erfahrung des geteilten Deutschlands, das sich in den Biografien der Hauptfiguren bricht.

Die Biografie der Erzählerin in Julia Francks Welten auseinander überschneidet sich mit der ihrer Autorin. Geboren 1970 in Ostberlin reist sie im Alter von acht Jahren mit der Mutter, einer DDR-Schauspielerin, und ihren Schwestern über das Notaufnahmelager Marienfelde nach Schleswig-Holstein in den Westen aus. Die Mädchen wachsen in einem verwahrlosten Bauernhaus nahe des Nord-Ostsee-Kanals auf. Die Mutter, im Westen ohne Engagements, lebt von Sozialhilfe und ist so vollauf mit sich beschäftigt, dass sie sich um ihre Töchter kaum kümmert. Die Jugend der Mädchen gerät zu einer permanenten Bewährungs- und Belastungsprobe. Als junge Erwachsene zieht sie nach Westberlin, weg von der Mutter und den Schwestern.

Man mag sich fragen, warum in Welten auseinander die gesellschaftlichen und geschichtlichen Verhältnisse nur diskret angedeutet werden, warum die Wechselwirkungen zwischen Biografie der Erzählerin und Ereignissen der deutschen Geschichte hier zwar angedeutet, deren psychologische Implikationen zu entschlüsseln aber weitgehend den Lesern überlassen bleibt. Dass die zeitweise Tätigkeit von Julia Francks Großmutter, der DDR-Bildhauerin Inge Hunzinger, als IM für die Staatssicherheit nicht zuletzt auch ihren Enkelinnen ermöglichte, zwischen dem Ost- und dem Westteil Deutschlands ungehindert hin- und herzureisen, erzählte die Autorin bei einer Lesung in Frankfurt. Ihre Figur im Buch erlebt sich immer in einem »Drüben« im Sinne eines »Draußen« – ausgebürgert aus Ostberlin ist die Erzählerin im Westen aufgrund ihrer Lebensbedingungen in der Schule ebenso die Fremde, die Mittellose, die Verwahrloste, die Heimatlose, wie als Westlerin bei ihren Ausflügen in die alte Heimat DDR.

Eine drastische Szene von Welten auseinander beschreibt, wie Julia im Kaufhaus in Rendsburg klaut und dabei in einen regelrechten Rausch gerät. Sie wird vom Kaufhausdetektiv erwischt. Die Polizei fühlt sich für die Zwölfjährige nicht zuständig. Als der Detektiv die Mutter telefonisch verständigt, winkt diese nur ab: »Am anderen Ende war erleichtertes Lachen zu hören. Ach so! Nein, also sie könne jetzt unmöglich alles stehen und liegen lassen und nach Rendsburg fahren. Sie habe kein Auto und auch sonst keine Gelegenheit, mich abzuholen.« Der Detektiv lässt die Erzählerin frei, sie kommentiert: »Ein Jahr Hausverbot bei Karstadt traf mich nicht, denn ich war mir sicher, dass ich nie im Leben Geld haben würde, um dort etwas zu kaufen.«

Wenngleich historische Ereignisse nur am Rande Thema werden, ist etwas von der Erfahrung einer Ortlosigkeit aus der spezifisch historischen Situation der Erzählerin und ihrer Familie ableitbar. Die Unzuverlässigkeit der Familienbeziehungen ist eng verknüpft mit Mangel und dessen Kompensation, einem Mangel, der resultiert aus den Kriegserfahrungen, der Ausgrenzung jüdischer Familienmitglieder und einer Unfähigkeit der Mutter, sich im System der freien Marktwirtschaft zu verankern. In der Diebstahlszene wird dieser Mangel im Spannungsfeld zwischen dem Rausch des Klauens und der totalen Resignation von Mutter und Tochter offenbar.

Ganz anders bei Jenny Erpenbeck. In Kairos wird in einer langen Rückblende der 1967 geborenen Erzählerin Katharina, die nach dem Tod ihres ehemaligen Geliebten Hans zwei Kartons mit Erinnerungsstücken erhält, geschildert, wie sich aus einer Verliebtheit eine Abhängigkeitsbeziehung entwickelt. Auch deren Entstehung und Verlauf ist wesentlich von historischen Entwicklungen mitbedingt: Die 19-jährige Katharina trifft den 53-jährigen Radiojournalisten und freien Autor Hans in einem Ostberliner Bus. Die beiden verlieben sich, trotz des großen Altersunterschieds. Die Faszination, die Hans, der überzeugte Sozialist, der freiwillig aus Göttingen nach Ostberlin übergesiedelt ist, auf Katharina ausübt, ist beträchtlich, wenngleich Hans seine Frau nicht verlassen will. Hans steht in enger Verbindung zum Ostberliner Intellektuellen- und Künstlermilieu, verkehrt mit Autoren wie Stephan Hermlin, Heiner Müller, Christa Wolf. Obwohl Katharina aus einem bildungsbürgerlichen Milieu stammt, kann Hans ihren Horizont noch einmal erheblich erweitern: Literatur, Theater und vor allem Musik werden für sie nochmal anders zugänglich.

Das Verhältnis mit pygmalionhaften Zügen gewinnt an Intensität, bis sich Katharina in Frankfurt/Oder zur Bühnenbildnerin ausbilden lässt, im Theater Vadim kennenlernt und eine Nacht mit ihm verbringt. Daraufhin setzt der eifersüchtige Hans eine Maschinerie des Psychoterrors in Gang: Katharina soll ihm in Form von Geständnissen alle Details ihrer Beziehung zu Vadim offenlegen und ihm Kalender, Briefe, Notizen, präsentieren.

Die Geständnisse und die Art, wie Hans sie Katharina abpresst, erinnern an Verhöre. In die Liebesgeschichte mischen sich im Verlauf des Romans immer expliziter zeitgeschichtliche Ereignisse. Eine Reise Katharinas in den Westen, nach Köln zur Großmutter, schildert, wie Katharina dort eben nicht nur den Verheißungen des Kapitalismus beziehungsweise der freien Marktwirtschaft begegnet, sondern auch deren hässlichen Fratzen, die sie in einem Sexshop erkennt: »Die Freiheit richtet ein Massaker an und macht, dass ihr schlecht wird«, heißt es, und später: »Wer hätte gedacht, dass die Hölle mit billiger Auslegeware ausgelegt ist? Und wenn die Erfüllung der Sehnsüchte hier allein eine Frage des Preises ist, verwandelt sich dann nicht jegliche Sehnsucht in die Sehnsucht nach Geld?«

Wie Kairos Zeitgeschichte deutet und zuspitzt, zeigt sich mit Blick auf Erpenbecks Bamberger Poetikvorlesungen. Die Autorin, die sich in Kairos autobiografischen Materials bedient, schildert darin, dass sie, anders als Katharina, erst nach dem Mauerfall zu einer Tante nach Westberlin reist, aber eben nicht im Pornoladen landet: »Nach dem Mauerfall dann habe ich meine Tante irgendwann einmal besucht. Die Sickingenstraße war nicht schön und duftend, sondern laut und schmutzig. […] Der freigelassene Westen sah gar nicht so aus, roch gar nicht so, hörte sich gar nicht so an wie der Westen als er noch in meinem Kinderkopf seine Blüten trieb.«

Der von der Autorin erinnerte Westen, die »zweite Welt«, das Westberliner »Drüben« erscheint in der realen Erinnerung Erpenbecks »laut und schmutzig«, aber längst nicht als kapitalistische, geldgierige »Hölle«.

Es ist offensichtlich, dass Hans, der 1933 in die Zeit des Nationalsozialismus hineingeboren wurde, unter einem kalten, gewaltsamen und autoritären Erziehungsstil zu leiden hatte. Nach seiner freiwilligen Umsiedlung in die DDR ist er zunächst als IM-Mitarbeiter tätig, wird aus diesem Amt aber schließlich suspendiert. Er wird gleichermaßen als Sadist wie als Geschundener charakterisiert. Die Qual, der er Katharina bis hin zur körperlichen Gewalt unterwirft, lässt den Gequälten erkennen, der zum Quälenden wird, nachdem er im Ortswechsel als Systemwechsel den Traum vom besseren Leben als nicht realisierbar erfahren hat.

So zufällig wie frappant ist, dass es auch in Erpenbecks Roman eine Diebstahlszene gibt: Nach dem Fall der Mauer stiehlt Katharina mit ihrer Freundin Rosa regelmäßig im Westen, die jungen Frauen nennen diese Handlung »Holen«, sie definieren es als einen Akt der Rache: »Eine ganze Partisanenarmee bislang unbescholtener Ostmädchen schwärmt aus, um den Westen da, wo er seine verletzlichste Stelle hat, nämlich in der Frage von Besitz und Bezahlung, vernichtend zu schlagen. Die irregeleiteten Märzwähler, die für den Geschwindigkeitsrekord im Zusammenschluss zweier vollkommen verschiedener Länder verantwortlich sind, stehen noch am Bratwurststand, um die deutsche Einheit zu feiern, da schiebt Anne lächelnd einen Rasenmäher am Ladendetektiv vorbei aus dem Baumarkt. Die Gesetzeslücke zwischen dem einen und dem anderen Staat heißt Anarchie«.

Es ist ein merkwürdiger Kontrast, der sich aus der Gegenüberstellung insbesondere dieser beiden Szenen innerhalb des Vergleichs beider Bücher ergibt: hier die in der DDR groß gewordene junge Frau, die Besitz und Geld aus guten Gründen verachtet und quasi in die Offensive gegen das westliche System geht, dort das aus der DDR ausgereiste Mädchen, dem der Besitz von Dingen so bedeutungsvoll erscheint, dem paradoxerweise dennoch die Leere, die mit Besitz verbunden ist, bewusst ist, und die in die Defensive geht.

Der Prozess der Sozialisation verläuft in beiden Büchern quasi in gegenläufiger Richtung: Der Erzählerin in Francks Buch aus ihrer »Nomadenkindheit« in Ost und West vollauf mit sich und der Suche nach einem Ort beschäftigt, wo sie sich einrichten und entfalten kann, bleibt wenig Aufmerksamkeit übrig für das politische Weltgeschehen. Während die Freunde der Mutter in Westberlin nach dem Gipfeltreffen von Reagan und Gorbatschow schon das Ende des Kalten Kriegs heraufziehen sehen, nimmt sie davon kaum Notiz, was den Eindruck verstärkt, dass hier etwas Traumatisches mit einer fast ostentativen Ahnungslosigkeit kompensiert wird: »Was konnte ich damals schon wissen vom Weltgeschehen«. Sie sucht schreibend nach einer eigenen Stimme und findet im Westberlin des Kalten Krieges in einem Mitschüler ihre erste große Liebe, der ein tragisches Ende beschieden ist.

Der Emanzipationsprozess der Erzählerin in Kairos verläuft offensiver, in direkterer Kritik und Analyse der gesellschaftlichen Bedingtheiten. Doch wenngleich Erpenbecks Roman stärkere Zuspitzungen vornimmt, wirkt auch seine Hauptfigur in politischen Fragen eher unbedarft: Als am 7. Mai 1989 die Volkskammer gewählt wird, streicht Katharina auf ihrem Wahlzettel alle Namen durch. Als die Mauer fällt, holt keiner der beiden das »Begrüßungsgeld« ab, auch in Katharinas übriger Familie wird es abgelehnt: »Anfüttern wollen sie uns, hat ihr Vater gesagt. Das Begrüßungsgeld habe wie Lackmus-Papier die Mängel der sozialistischen Volkswirtschaft für jeden Bundesbürger anschaulich gemacht. Nackt habe es die DDR-Bürger gemacht, für jeden zu besichtigen in ihren Wünschen und Sehnsüchten.« Hans wird nach der Auflösung der DDR seinen Posten beim Rundfunk verlieren, die Beziehung der beiden wird endgültig enden. Sie erscheint jetzt geradezu als Sinnbild für das Verhältnis zwischen den beiden Teilen Deutschlands.

Beide Romane erzählen in Form einer langen Rückblende, beide Erzählerinnen kennen also den Verlauf ihrer Geschichte. Beide wissen um die immense Macht der Ökonomie bis in die privatesten Beziehungen hinein. Und beide Autorinnen wissen um die Chancen, die erzählende Literatur bietet, wenn es darum geht, den Einfluss geschichtlicher Prozesse auf das eigenen Leben in Text zu verwandeln. Man hüte sich also strengstens, aus der altersgemäßen relativen Naivität der beiden Figuren in beiden Romanen auf die Autorinnen rückzuschließen. Beide sind klug genug, die Wechselwirkungen zwischen Biografischem und Geschichtlichem für die Interpretation zu öffnen. Wenn nicht alle Kartons, mit deren Hilfe sich Katharina erinnert, geöffnet werden, nicht alle »Archivboxen« der Geschichte vollständig ausgepackt werden, sind sie doch im Raum der Erinnerung eingelagert, bergen sie das Material zu neuen Blicken auf eine vermeintlich vertraute Historie.

Jenny Erpenbeck: Kairos. Roman. Penguin, München 2021, 384 S., 22 €. – Julia Franck: Welten auseinander. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 368 S., 23 €.

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