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Dante nach 700 Jahren Unter der Last seines Ruhmes

Dante Alighieri, der vor 700 Jahren, am 14. September 1321, starb, wird seit vielen Jahrhunderten als der größte Dichter des Mittelalters bewundert und verehrt. Er selbst glaubte allerdings nicht, im Mittelalter zu leben, er sah sich in der Nachfolge des alten römischen Kaisertums. Deswegen wählte er Vergil, der in der Aeneis die Gründungsgeschichte Roms erzählt, als seinen Ahnherrn und Begleiter. Unter den Gipfelwerken der Literatur ist die Göttliche Komödie unserer Zeit wahrscheinlich am meisten entrückt, überdies nicht leicht zugänglich. »Es ist, als ob man einen Berg bestiege«, schrieb der schwedische Schriftsteller Olof Lagercrantz, einer der neueren Dante-Exegeten, »je höher man gelangt, desto größer wird die Welt und desto kleiner unser relatives Verständnis«.

Die große Dichtung, die nach dem Willen des Autors eigentlich nur »Komödie« heißen sollte (das Beiwort »göttlich« ist eine Hinzufügung des 16. Jahrhunderts), entstand in den beiden letzten Lebensjahrzehnten Dantes zwischen 1305 und seinem Todesjahr 1321. Sie erzählt von der Wanderung des Dichters durch die drei Reiche des Jenseits: das Reich der Verdammten (»Inferno«: die Hölle), das Reich der erlösbaren Büßer (»Purgatorio«: das Fegefeuer oder der Läuterungsberg), schließlich das himmlische Reich (»Paradiso«), wo ihm am Sitz Gottes die Vision der Trinität gewährt wird. Hier wird der Jenseitspilger von Beatrice geführt, da Vergil als ungetaufter Heide ihm dorthin nicht folgen darf.

Alle drei Jenseitsreiche sind in neun Stufen oder Kreise gegliedert, denen – in der Hölle – immer härtere Strafen und – im Himmel – immer größere Seligkeiten entsprechen, während im Fegefeuer die Stufen der Läuterung zu absolvieren sind. Das gesamte Gedicht umfasst 100 Gesänge, die ungefähr gleiche Länge haben und von denen jeweils 33 den drei Teilen Hölle, Fegefeuer und Paradies zugeordnet sind. Nur der erste Teil umfasst einen Gesang mehr, den allerersten, der als eine Art Prolog anzusehen ist. Dass die Formstruktur nicht nur ästhetischen Gesetzen gehorcht, sondern auch symbolische und figurale Bedeutung hat, sei nur beiläufig erwähnt. Dante war, von heute aus gesehen, ein mittelalterlicher Geist; man wird bei ihm, wie in den großen Kathedralen der Gotik und der Musik der Gregorianik, nicht leicht ein Detail finden, das in aller konkreten Gegenständlichkeit nicht zugleich von spiritueller Transparenz wäre.

Die bedeutungsvolle Drei in den dreimal 33 Gesängen bezieht sich ebenso auf die göttliche Trinität wie auf die dreizeilige Strophe, die Dantesche Terzine, deren gereimte Anfangs- und Endzeile einen Binnenvers umrahmt. Die Dichtung umfasst 14.235 Verse, eine Zahl, der man keine besondere Bedeutung beimessen müsste, stünden nicht genau in der Mitte, im 7.118. Vers, die Worte: »Questo triforme amor qua giù di sotto« (»Solch dreigestaltet Lieben wird beklagt«, wie Richard Zoozmann übersetzt hat). Sie stehen zahlensymbolisch für den Namen Dante Alighieri (Dante ist eine Abkürzung für »Durante«, das heißt »der Ausdauernde«). Das ganze Werk ist durchsetzt von solchen kryptischen Bezügen.

Der Dichter, der seinen Namen im Zentrum des Werks verschlüsselt hat, erscheint auch an dessen Anfang: »Grad in der Mitte unsrer Lebensreise«, beginnt der erste Gesang, »befand ich mich in einem dunklen Walde, / Weil ich den rechten Weg verloren hatte.« Wer ist dieses Ich? Es ist der Pilger Dante, dem man vom Erzähler der »Komödie« unterscheiden muss. Dieser ist ein wissender, erfahrener Mann, jener ein Suchender, der vom rechten Weg abgekommen ist – »in der Mitte unsrer Lebensreise«. Biblisch gesprochen währt ein Menschenleben 70 Jahr, 35 Jahre markieren die Mitte; und da Dante 1265 zur Welt kam, lässt sich die Handlungszeit der »Komödie« auf das Jahr 1300 datieren, genauer vom Karfreitag dieses Jahres bis zum übernächsten Sonntag. Der Gang durch das Inferno ist von Karfreitag bis Ostersonntag anzusetzen.

Das Inferno als Hölle auf Erden

Der Pilger Dante findet sich eingangs in einem dunklen Wald, wo er von drei wilden Tieren bedroht und in einen Hohlweg getrieben wird. Dort kommt ein Fremder ihm zu Hilfe, der sich als Römer zu erkennen gibt, zu Julius Caesars Zeit geboren, kein anderer als Vergil, der Dante einen Ausweg aus seiner Notlage zeigt, auch wenn dafür ein gewaltiger Umweg erforderlich ist: durch Hölle und Fegefeuer. So beginnt die große Wanderung, zunächst in die Unterwelt, zu den zu ewiger Qual Verdammten. Sie durchschreiten das Höllentor, das die berühmte Inschrift trägt: »Durch mich geht man hinein zur Stadt der Schmerzen; / lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten.« Das »Inferno« ist in Dantes Vorstellung ein ebenso fantastischer wie realistisch imaginierter Ort, ein Amphitheater der Qualen, aus neun konzentrischen Höllenkreisen gebildet. Je tiefer die Pilger gelangen, desto furchtbarer die Qualen, denen sie begegnen.

Ein Gang durch die Hölle ist kein Vergnügen. Warum heißt das Werk dennoch Commedia? Die Bezeichnung muss man verstehen vor dem Hintergrund der Zeit: Dante verwendete die italienische Volkssprache, die im Unterschied zum Lateinischen von vornherein in die Sphäre des Niederen verwies. Dabei enthält die »Komödie« jede Art von Dichtung, und man kann ihren Stil und ihre Sprache durchaus erhaben nennen. Das Werk ist ein enzyklopädisches Lehrgedicht, in dem die physikalisch-kosmologische, die ethische und die geschichtlich-politische Weltordnung insgesamt vorgestellt wird. Es ist ferner eine Dichtung, in der nach den Worten des Philologen Erich Auerbach alle denkbaren Bezirke des Wirklichen auftreten: Gestalten der antiken Mythologie, manchmal fantastisch dämonisiert; allegorische Personifikationen und symbolische Tiere spätantiker und mittelalterlicher Herkunft; Engel, Heilige und Selige als Träger einer Bedeutung aus der Welt des Christentums; es erscheinen Apollo, Luzifer und Christus, Fortuna und die Frau Armut, Medusa als Emblem der tieferen Höllenkreise und Cato von Utica als Wächter des Fegefeuers. »Doch nichts von all dem«, schrieb Auerbach, »ist im Rahmen einer Bemühung um hohen Stil so neu und so problematisch wie der unmittelbare Griff auf die gegenwärtige Wirklichkeit des Lebens«. Damit ist die Wirklichkeit Italiens und von Dantes Heimatstadt Florenz gemeint, der jahrhundertelange Zwist zwischen den papsttreuen Guelfen und den kaisertreuen Ghibellinen, schließlich auch der fundamentale Konflikt mittelalterlicher Politik zwischen dem päpstlichen und kaiserlichen Anspruch nach dem Primat des geistlichen und des weltlichen Regiments. Dante erlebte die Wirklichkeit seiner Zeit als Hölle auf Erden: ihren schlimmsten Übeltätern kann man in seinem Inferno begegnen.

Der erste Teil der Jenseitswanderung ist in der Konzeption Dantes nicht der wichtigste, denn sie zielt letztlich darauf, den Pilger an der Seite Beatrices in die himmlischen Gefilde zu führen, wo er die Vision der göttlichen Trinität empfängt. In der Kraft poetischer Ausgestaltung hat Dante das »Inferno« aber nicht überbieten können, gemäß dem künstlerischen Gesetz, dass das Böse, Hässliche, Finstere, Verworfene der Fantasie mehr Raum lässt zur Ausgestaltung als das Reine, Vollkommene und Göttliche. Wie sollte ein Zustand ewiger Ruhe, unbegrenzter Seligkeit in Worten zu malen sein! Richard Wagner gab Franz Liszt, als dieser an einer Dante-Sinfonie arbeitete, den Ratschlag, das Paradies unvertont zu lassen.

Dante und die Nachwelt

Die Wirkungsgeschichte von Dantes Gedicht war immens, größer vermutlich als jedes anderen Literaturwerks der hochchristlichen Zeit. Poeten, Literaten, Komponisten und bildende Künstler aller Zeiten und vieler Länder haben Inspirationen aus der »Komödie« gezogen. Die bildenden Künstler stehen hier an erster Stelle: Sandro Botticelli, Johann Heinrich Füssli, William Blake und Gustave Doré haben das Gedicht in großen Bilderserien illustriert, ferner die deutschen Nazarener und die englischen Präraffaeliten, angeführt von dem Künstler, der den Namen seines Vorbilds trug: Dante Gabriel Rossetti. Sogar Vertreter der Pop-Art wie Robert Rauschenberg haben Bildideen aus Dantes Werk gezogen. Und der große Zeitgenosse Giotto di Bondone hat Dante porträtiert: In diesem Bildnis sind die beiden Portalfiguren der frühen Renaissance, eines zum Humanismus sich öffnenden christlichen Mittelalters vereinigt. Giottos Fresko hängt im Bargello in Florenz und zeigt Dante mit seinen charakteristischen, scharfgeprägten Zügen, voran die Hakennase, die in allen späteren Bildnissen wiederkehrt.

Ein Wort zum Übersetzungsproblem. Es hat viele Versuche gegeben, Dantes »Komödie« ins Deutsche zu übertragen, seit Lebrecht Bachenschwanz 1767 eine erste deutsche Prosafassung wagte. Karl Ludwig Kannegießer legte 1814 die erste Übersetzung in deutschen Terzinen vor. Seither verging kaum ein Jahrzehnt ohne neue Dante-Übersetzung, offenbar weil keine ganz zu befriedigen vermag, bei aller Gründlichkeit, allen Qualitäten im Einzelnen. Große Namen sind unter den Übersetzern: August Wilhelm Schlegel und Stefan George (die nur einzelne Partien übersetzt haben), Rudolf Borchhardt, die Romanisten Karl Voßler und Hermann Gmelin. Voßler schrieb zur Frage der Übersetzung: »Dantes dreireimige Kettenstrophe bedeutet in der an Reimen, besonders an Endungsreimen so reichen italienischen Sprache viel eher eine Anregung als eine Fessel. Im Deutschen, wo die Reime selten und bedeutungsvoll stammbetont sind, verhält es sich umgekehrt. Was sich im Italienischen so leicht, so beiläufig und musikalisch ergibt, wirkt schwer im Deutschen, wo nicht gar gezwungen. Durch 100 Gesänge von ungefähr je 150 Versen hindurch eine so gedankenvolle und scharf umrissene Dichtung wie die Göttliche Komödie im Freireim einzudeutschen, das ist eher eine akrobatische als künstlerische Aufgabe.« Manche Übersetzer haben daraus die Konsequenz gezogen, ganz auf Metrum und Reim zu verzichten, um dem Wortsinn möglichst nahe zu kommen, wie Kurt Flasch in seiner Prosaübersetzung von 2011.

Sie macht das Werk zwar »lesbarer« als alle Nachdichtungsversuche, so dass man es fast liest wie einen Roman, aber das eigentlich Poetische geht weitgehend verloren. Schon Voßler wies darauf hin, dass Strophe und Reim dem Werk nicht äußerlich sind. Der Dreireim hängt mit dem Aufbau des ganzen Gedichts, mit seiner zahlensymbolischen Struktur, nicht zuletzt mit dem dreieinigen Gottesbegriff zusammen. All das macht die Commedia zu einer Summe der christlich-mittelalterlichen Welt, gleichermaßen geprägt von Antike, Christentum und scholastischer Theologie. Das gesamte Wissen der Zeit in historischer, physikalischer, astronomischer, theologischer und philosophischer Hinsicht ist hier vereinigt. Gleichzeitig steht diese Dichtung am Anfang der italienischen Literatur als ihr nie mehr erreichter oder gar übertroffener Gipfel. In einer Zeit, in der das Lateinische noch seinen Vorrang behauptete, brach Dante der Volkssprache die Bahn und führte sie zur Vollendung. Auch in dieser Hinsicht ist die Göttliche Komödie nichts weniger als ein Wunderwerk.

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