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Das Bundeskabinett in seiner 108. Sitzung am 17.07.24. ©

picture alliance / Metodi Popow | M. Popow

Risiken ambitionierter Politik in der DemokratieVerflochten und verzettelt

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Als der Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf im Jahre 1970 sein Buch Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung veröffentlichte, setzte er den Ton für eine nüchterne Analyse politischer Prozesse. Scharpf gelang es in seinem Werk, die aus der funktionalistischen Systemtheorie stammende Unterscheidung von Input und Output einem größeren Fachpublikum plausibel zu machen. Es sei zu unterscheiden zwischen verschiedenen Formen der Herstellung politischer Legitimität, denn es gebe zwei Dimensionen der Demokratie: »Herrschaft durch das Volk« und »Herrschaft für das Volk«. Schaffen es politische Systeme, Entscheidungen den Präferenzen der Bevölkerung entsprechend zu treffen, indem möglichst viele Bürger beteiligt sind und teilhaben (Input)? Oder überzeugen demokratische Entscheidungen, indem sie kollektive Probleme lösen, klug durchdacht und in den tiefen Ebenen praktischer Politik umsetzbar sind (Output)?

Dass Scharpf der Output-Dimension normativ den Vorrang gab, kann nur diejenigen überraschen, die nie von seinen Analysen der »Politikverflechtungsfalle« gehört haben, ein Begriff, den er 2009 in einer Schrift für das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung prägte. Scharpf beschrieb damit die »zunehmend negativen Rückwirkungen der besonderen Strukturen des deutschen Föderalismus auf die Problemlösungsfähigkeit der Politik«. In föderal organisierten Staaten, aber auch in supranationalen Gebilden wie der Europäischen Union, werden politische Entscheidungen häufig unter Beteiligung mehrerer Regierungsebenen und Akteure getroffen. Diese Verflechtung ergibt sich just aus der gewollten Kompetenzverteilung und führt zu wechselseitigen Abhängigkeiten und Abstimmungsschleifen im politischen Prozess. Kurz gesagt: Ziele müssen abgesprochen, Entscheidungen koordiniert, Kompromisse gefunden werden. Und das führt nicht zwingend zum jeweils besten Ergebnis, erst recht nicht zu eindeutig zurechenbaren politischen Erfolgen.

Nun soll es hier um keine Exegese des scharpfschen Werkes gehen, sondern vielmehr um einen Problemaufriss. Das Lamento, »ambitionierte« Politik sei in den bestehenden Strukturen der föderalen, parlamentarischen Demokratie kaum umsetzbar, ist nun einmal seit Jahrzehnten die Begleitmusik demokratischer Politik. Noch nie galt demokratische Politik als einfach. Dabei kam Kritik mal aus einer reaktionär-antiliberalen Ecke wie bei Carl Schmitt, der die institutionalisierte Entscheidungsunfähigkeit geißelte. Andere wiederum adressierten vor allem in den 70er Jahren unter dem Stichwort der »Unregierbarkeit« die Selbstüberforderung des modernen Staates, der sich lauter Aufgaben auflade und sich für das Wohlergehen seiner Bürger zuständig erkläre.

Vermessung des politischen Gestaltungsspielraums

Später diente mit einer anderen Stoßrichtung »Globalisierung« als ein Leitbegriff, um die Selbstverkleinerung des Staates zugunsten einer angeblich alternativlosen Politik im Sinne des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus durchzufechten. Häufig geht es in Krisendiagnosen, aber auch in Vorwärtsverteidigungen der Demokratie um eine Vermessung des politischen Gestaltungsspielraums oder auch dessen, was die britische Politikwissenschaft kurzerhand unter politicalfeasibility verhandelt.

Akademische Untersuchungen fragen daher: Was lässt sich wie politisch entscheiden und durchsetzen? Welches politische System, welches Wahlsystem (Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht) und damit welche Regierungskonstellation hat Vor- oder Nachteile? Welche formalen und informalen Vetospieler und welche Pfadabhängigkeiten gibt es? Für Politikwissenschaftler ist schließlich weniger Inkrementalismus, also das Klein-Klein demokratischer Politik, als radikaler Politikwandel (Policy Change) erklärungsbedürftig.

»Wenig effiziente Politik, aber institutionelle Stabilität.«

Dass Politik hierzulande auf breite und stete Koordinationsprozesse zurückgeht und das deutsche System daher als eine mehr oder weniger zähe, aber robuste Verhandlungsdemokratie treffend bezeichnet ist, steht in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zur öffentlichen Debatte, die Schwerfälligkeit und Ränkespiele fokussiert und anprangert. Man hat es wohl mit wenig effizienter Politik, aber institutioneller Stabilität zu tun. Öffentlich wird oft unterschlagen, an wie vielen politischen Vorhaben beispielsweise über den Bundesrat die Landesregierungen – und damit auch wesentliche Oppositionsparteien – beteiligt sind.

Zudem sind blame game und game frame weit verbreitet: In Talkshows wird ständig eruiert, wer denn jetzt im politischen Berlin »gewonnen« und wer »verloren« habe, wer sich durchgesetzt habe oder an einer Blockade der Politik die Schuld trage. Das ist alles nicht falsch, und doch gilt es zu bedenken, dass sich Politik in der parlamentarischen Demokratie nicht gegen Mehrheiten, sondern nur mit Mehrheiten machen lässt. Eine Regierung ist so lange politisch legitim und handlungsfähig, wie sie von einer Mehrheit im Parlament getragen wird, allen Unkenrufen und strategisch motivierten Aufrufen zu Neuwahlen zum Trotz.

Was Demokratie bedeutet

Demokratie ist auf die Kompromissfähigkeit der handelnden Akteure, auf ihr aufgeklärtes Eigeninteresse an Kooperation und Aushandlung angewiesen. Demokratische Politik bedeutet letztlich, Mehrheiten zu beschaffen für politische Vorschläge, die dann zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen werden und damit auch für die jeweils unterlegenen politischen (nicht ethnischen, religiösen, soziokulturellen etc.!) Minderheiten gelten. Demokratien stehen immer vor der Herausforderung, überstimmte Kräfte loyal zu halten – das ist bereits eine enorme Ambition dieser Institutionenordnung, die nicht auf eine Logik autoritärer Oktroyierung, sondern auf die Idee eines (auch nur behaupteten) Gemeinwillens setzt.

Nun beschleicht manch einen allerdings mit Blick auf die amtierende Koalition aus SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen das Gefühl, dass es dieser Regierung nicht einmal so recht gelingt, ihre eigene Wählerschaft loyal zu halten, geschweige denn eine gemeinsame Idee von »Gemeinwillen« zu haben. Zu groß sind die Divergenzen, zu disparat die Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. Die Verluste bei der Europawahl, bei den Landtagswahlen und die dabei sichtbaren Wählerwanderungen machen deutlich, dass es um die Problemlösungsfähigkeit dieser Koalition in den Augen der Wähler nicht besonders gut bestellt ist.

»Politik wirkt wie ein ungutes Nullsummenspiel.«

Die deutsche Regierung im Jahre 2024 steckt nicht nur in der zitierten Politikverflechtungsfalle, sondern auch in einer Koalitionsverzettelungsfalle. Politik wirkt hier wie ein ungutes Nullsummenspiel, bei dem die Ak­teure öffentlich darum streiten, in welche Richtung es gehen soll, welche politischen Vorhaben Priorität genießen sollen und wie sie vor allem finanzierbar sind.

Es ist viel weniger das Schielen auf Demoskopie und die Angst vor dem behäbigen Wähler wie unter der Kanzlerschaft Angela Merkels, das den demokratischen Gestaltungswillen zu verkleinern scheint, als das permanente Ringen um die Rahmenbedingungen, insbesondere um einen – verfassungsrechtlich korrekten – Haushalt und um das Einhalten der Schuldenbremse inmitten von Zeiten, die für viele Akteure und Beobachter nach Investitionen und nach Policy Change verlangen. Man muss kein Vertreter eines fiskalpolitischen Schlendrians sein, um zu sehen, dass kluge und in vielerlei Hinsicht nachhaltige Haushaltspolitik nottut und Budgetfragen über politische Ambitionen entscheiden.

Eine Erzählung hat sich durchgesetzt: Zu Beginn der Legislaturperiode erklärte die Ampelregierung, eine »Fortschrittskoalition« zu sein; zu Beginn herrschten Flitterwochen, eine Zeit proklamierter Ambitionen. Doch der Angriff Russlands auf die Ukraine veränderte nicht nur die sprichwörtlichen, sondern auch die konkreten Geschäftsbedingungen deutscher Politik und damit auch dieser Koalition. Der Geschichtlichkeit der eigenen Gegenwart gewahr wurde von Bundeskanzler Olaf Scholz mit großem Ernst eine »Zeitenwende« ausgerufen.

»Ausgerufene ›Wenden‹ verlangen nach Politikwandel.«

»Wenden« verlangen nach Veränderung – und also nach Politikwandel, sonst wären es ja keine Wenden. Dies auszurufen, ist durchaus »ambitioniert« und lässt es politisch geboten erscheinen, dem Ausruf etwas folgen zu lassen. Nur was das sein soll, ist noch nicht ganz klar. Das Sondervermögen für die Bundeswehr ist die offensichtlichste Konsequenz, aber was folgt weiterhin aus der Zeitenwende? Wie lässt sich nicht nur militärische Wehrhaftigkeit, sondern breiter: die Resilienz dieser Demokratie inmitten geopolitischer Verwerfungen und Großkonflikte stärken?

Ob inmitten einer Wende Politik als Nullsummenspiel und die Kontinuität haushalts- und fiskalpolitischer Weichenstellungen weiterhelfen, bleibt eine offene Frage. Darüber muss politisch, nicht akademisch entschieden werden. Doch zugleich eine Wende zu erklären und Wähler in Sicherheit zu wiegen, es werde sich schon nicht so viel ändern, zumal nicht für den Einzelnen, wie es der Bundeskanzler im November 2023 in seiner Regierungserklärung tat, fällt nicht nur hinter eigens erklärte Ambitionen zurück, es hinterlässt auch den Eindruck einer programmatisch orientierungslosen Regierung. Demokratische Politik braucht Mehrheiten, diese gilt es politisch herzustellen. Dazu bedarf es Politiker und Parteien, die Zumutungen begegnen und vermitteln und damit mehr als nur eine kleine Ambition hegen: die des eigenen politischen Überlebens.

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