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Literaturpreise für eine selbstbewusste Erfahrung des Fremden im Eigenen Vom Ankommen

In diesem November wird die 1946 im türkischen Malatya geborene Emine Sevgi Özdamar mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet, dem wichtigsten Preis für deutschsprachige Literatur. Im Frühjahr hatte mit dem 1979 in Nettetal geborenen Dinçer Gücyeter zum ersten Mal ein Lyriker, dessen Eltern als Arbeitsmigranten aus der Türkei nach Deutschland kamen, den Peter-Huchel-Preis bekommen, der als wichtigster Preis für deutschsprachige Gegenwartslyrik gilt. Die 1986 in Karlsruhe geborene Fatma Aydemir stand mit ihrem Roman Dschinns auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022. Und die Stadt Frankfurt hat den Debütroman Streulicht der 1988 ebendort geborenen Deniz Ohde ins Zentrum des etablierten Festivals »Frankfurt liest ein Buch« 2023 gestellt. (Zu den Romanen von Aydemir und Ohde auch: Carsten Otte in der NG|FH 9|2022).

Der Weg zu diesen Würdigungen von Romanen und Gedichten aus der Feder migrantischer Autorinnen und Autoren, in diesen Fällen mit türkischen Wurzeln, war weit, ihn exakt nachzuzeichnen, sprengte den Rahmen dieses Artikels. An dieser Stelle soll gezeigt werden, wie die Erfahrungen von Fremdheit und Befremdung, von Marginalität und Sprachbarrieren fruchtbar wurden für eine Literatur, deren Reichtum auch die literatur- und kulturgeschichtliche Dimension einschließt, wie über eine sprachliche Annäherung an Kontexte, Kunstwerke und Diskurse im Schreiben die deutschsprachige Literaturlandschaft als Teil der europäischen Kulturlandschaft entscheidende Impulse und neue Perspektiven gewinnen konnte.

1979 siedelte der 1929 in der Türkei geborene und 1999 verstorbene Lehrer und Schriftsteller Fakir Baykurt nach Duisburg um. Seit er in Deutschland lebte, befasste er sich in seinen Romanen, die er in seiner Muttersprache verfasste, vor allem mit dem Alltag türkischer Arbeitsmigranten, erzählte aber auch türkische Volksmärchen, wie etwa das vom klugen Hahn Sarkarça, das 1987 ins Deutsche übersetzt wurde.

Auch die Romane seines zehn Jahre jüngeren Autorenkollegen Aras Ören, der schon zehn Jahre vor Baykurt nach Westberlin emigriert war, befasst sich mit den Themen Fremdheit, Identität, dem Leben derer, »die mit nichts anderem als einem Plastikkoffer in der Hand in einem fremden Land ankommen«. Was macht Niyazi in der Naunynstraße hieß sein 1973 erschienener Gedichtband, der zusammen mit den Bänden Der kurze Traum aus Kagithane und Die Fremde ist auch ein Haus in der »Berliner Trilogie« 2019 neu aufgelegt wurde: »Wer waren sie? Am Anfang Hunderttausend, dann Zweihunderttausend, dann eine Million, dann zwei Millionen, dann drei (...)«, schreibt Ören über die Arbeitsmigranten im Vorwort zu dieser Trilogie, und weiter: »Und plötzlich waren sie namenlose Niemands, eine anonyme nicht eben vertrauenswürdige Masse Mensch, Fremde aus einem fremden Land, mit einer fremden Kultur«.

In Örens Gedichten begegnen sich die Migranten in Berlin-Kreuzberg auf der Straße, Frau Kutzer, Ehefrau des kommunistischen Arbeiters, und der Arbeiter Niyazi Gümüskiliç. Es ist das Milieu der kleinen Leute, in dem sich beide und viele weitere Figuren begegnen, in dem sich manchmal zaghaft Verbindungen herstellen, die mit Klassenzugehörigkeit zu tun haben, wo sich aber auch Ressentiment und Ablehnung immer wieder Bahn brechen.

»Du bist und bleibst ein anderer«

Die Erfahrung von Fremdheit war es auch, die im Jahr 1995 im Debüt des 1964 im türkischen Bolu geborenen Feridun Zaimoğlu mit dem Titel Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft das vorherrschende Thema war. Darin versammelte er dramatisierte Versionen von aufgezeichneten Gesprächen, die er in türkischen Milieus in Deutschland zusammengetragen hatte, um das Leben in Deutschland für junge Deutsch-Türken, die sich als »Kanaken« identifizierten, zu beschreiben. »Kanake, du bist und bleibst ein anderer«, heißt es in diesem Roman an einer Stelle.

Zaimoğlu war sich sehr wohl bewusst, dass er mit diesem Porträt der zweiten und dritten Generation von türkischen Einwanderern aneckte. Die explosive Sprache seiner Protagonisten pochte auf die Fremdheit der Perspektive derer, die zuvor immer wieder als Fremde abgestempelt worden waren. Nicht nur in einer Fernsehdiskussion mit Heide Simonis und Wolf Biermann geriet Zaimoğlus literarische Stilisierung der Kanaken heftig in die Kritik.

Wer Ein von Schatten begrenzter Raum, den jüngst erschienenen Roman von Emine Sevgi Özdamar vor diesem Hintergrund liest, dem erscheint es beinahe als ein Wunder, unter welch widrigen Bedingungen ihr Theaterstück »Karagöz in Alamania« 1986 in Frankfurt zur Aufführung kam, und damit zum ersten Mal ein deutschsprachig verfasstes Stück einer deutsch-türkischen Autorin auf einer bedeutenden deutschen Bühne inszeniert wurde. Glück und Zufall spielten eine Rolle, dazu kam in der gut vernetzten westdeutschen Theaterszene auch der intensive Einsatz des damaligen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann, der Sondermittel bereitstellte und Stück und Publikum zusammenbrachte.

Es waren auch politische Entscheidungen wie die Hoffmanns, die eine Emanzipation mehrsprachiger Autoren und Autorinnen beförderten, deren selbstbewusste Haltung stärkten und damit auch die Wertmaßstäbe und den Kanon verändert haben und weiter verändern werden, sodass es inzwischen auch selbstverständlich erscheint, dass Feridun Zaimoğlu, der soeben mit Bewältigung einen Roman vorgelegt hat, der den Nationalsozialismus, seine Bedingungen und die fortwährende Strahlkraft Hitlers in einer Annäherung an Hitlers innere Verfasstheit, an »den Österreicher« fassen will.

Während sich Özdamars jüngster Roman mit Texten, dem Theater, der Musik, dem Kino als aufklärerischen Kräften befasst, steigt Zaimoğlu zu den diffusen, nebulösen und abgründigen Aspekten von Kunst und Mythos hinab, sucht Stätten wie Richard Wagners Bayreuth auf, um zu erkunden, was bis heute in der Gesellschaft im Land an Hitlerfaszination weiter gärt, welche antiaufklärerischen Kipppunkte auch die Kunst in sich birgt.

Was in der Lektüre der hier genannten Romane und Gedichte immer wieder auffällt, vor allem, wenn man dazu die Äußerungen ihrer Autorinnen und Autoren in Interviews verfolgt, ist, welch tragenden Stellenwert nicht nur die Bildung, sondern insbesondere die Kunst für die Entfaltung des eigenen kreativen Potenzials spielt. Wie sich etwa die Erzählerin Emine in Ein von Schatten begrenzter Raum im Rahmen ihrer Mitarbeit im Theater sowohl die deutsche wie die französische Sprache, maßgeblich über die Chansons von Edith Piaf, bis zur Romanreife aneignet. Durch die intensive Lektüre von Romanen, insbesondere aber von Lyrik, hat sich auch Dinçer Gücyeter, etwa bei Else Lasker-Schüler und Rainer Maria Rilke, mit dem Deutschen vertraut gemacht. Feridun Zaimoğlu hat seinen Stil unter anderem an Lektüren von Ernst Jünger und Martin Luther geschärft.

Die Bewältigung der Erfahrungen von Fremdheit und des Außenseitertums wird durch ein sprachliches Besetzen von Objekten, Räumen und Personen angestrebt. In Özdamars Roman Ein von Schatten begrenzter Raum taucht immer wieder die Frage auf: »Wo wohnen Sie, Madame?« Die Antwort fällt entsprechend der jeweiligen affektiven Besetzung der Erzählerin immer wieder anders aus. Sie kann lauten: »Ich wohne in einem Istanbuler Kinderspiel«, wenn die Erzählerin gerade ein solches gespielt hat, »In den Chansons von Edith Piaf«, »Ich wohne mit den Toten in einem Schuhkarton«, wenn die Erzählerin während eines Besuchs bei ihren Eltern in der Türkei die Artikel durchgelesen hat, mit denen die Mutter die gesellschaftlichen Umbrüche im Land im Zusammenhang mit dem dritten Militärputsch unter der Leitung von Kenan Evren am 12. September 1980 dokumentiert, in dessen Folge es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen kam.

Objekte und Personen in der Vorstellung zu bewohnen, sich in ihnen zu spiegeln, erinnert beinahe an schamanistische oder religiöse Praktiken: Der Versuch einer totalen Assimilation an Inhalte und die damit durchaus in quasireligiösem Sinne zu verstehende Wandlung, die hier in der Vorstellung der Erzählerin vollzogen wird, die Vorstellung, etwas zu bewohnen, ermöglicht der Migrantin, sich überall einen Ort zu schaffen, an dem Leben zumindest für einen bestimmten Zeitraum genügend gut und in befriedigender und fruchtbarer Weise möglich wird.

Wie diese aneignende Bewegung ins Schmerzhafte bis ins Unerträgliche gesteigert werden kann, zeigt Feridun Zaimoğlus Bewältigung. Wie heikel sein Unterfangen, sich dem Bösen zu nähern tatsächlich ist, wird immer wieder vom Text reflektiert, etwa in der Schilderung eines Abendessens, bei dem Adolf Hitler im Hause Wagner in Bayreuth zu Gast ist: »Wie weiter? Was muss geschehen, auf dem Papier, in seiner Geschichte über Hitler? Was tut der Österreicher nach seinem Besuch am Grab? Er nimmt die Einladung zum Abendessen an. Das Dienstmädchen bittet zu Tisch, es nehmen Platz die hohe Dame, Siegfried, Winifred und der Mann Hitler. Cosimas goldene Busennadel blinkt im dämmrigen Licht. Der Österreicher hat vor seinem Auftritt in der Villa sein Nasenbärtchen ordentlich gebürstet. Es kommt zur ersten leichten Verstimmung, als H. seinen Rotwein süßt und geräuschvoll trinkt. H. bemerkt es, seine Wangen brennen vor Scham. Was könnte ihn verstimmen? Was wird serviert? Gebackene Schwarzwurzeln auf Spinat, es zieht ihm an den Zähnen beim Essen. Der hochgerutschte Hanswurst zu Gast beim deutschen Bürgertum. Es wird sich zwanglos unterhalten. Worüber? Die Menschen am Tisch kauen sorgfältig, und sie reden über die Not und darüber, dass sie der Gnade bedürftig seien. Man liebt in diesem Haus das Palaver, man führt in diesem Erbauungskreis das große Wort. Und natürlich kommen alle Tischgenossen zischend auf das zu sprechen, was sie beben lässt, was sie eint: die Juden. Cosima tupft mit der perlweinfarbenen Serviette die kleinen niedlichen Spuckebläschen von den Mundwinkeln und ruft so laut, dass das Dienstmädchen vor Schreck zusammenzuckt: ›Fluch ihnen, Halunken sind es, die ihr Brötchen in Blut tunken!‹«

Ja, so wird es gehen, der Autor schreibt es schnell im Stehen hin. Und was macht Hitler? Er macht das, worauf er sich am besten versteht: Er macht Hitlerei. Was könnte er, der schmatzende Schwätzer im deutschesten aller deutschen Horte, sagen? Der Autor schreibt: »Es wird der Tag kommen, dass wir die Sache gerade ziehen. Genug davon, genug. Das sind verdorbene Worte. Der Autor hat das Gefühl, als habe ihm ein fremder Mann zwischen die Seiten seines Notizhefts gespuckt.« Der Autor in Bewältigung wird letztlich an seinem Projekt scheitern. Doch der Roman zeigt, dass der Anspruch des Unterfangens gerade deshalb so drängend und prägnant ist, weil er nicht erfüllt werden kann.

Sehnsucht nach Erweiterung des Bewusstseins

In ihrem Ansinnen, vermittels Sprache drängende Fragen aufzuwerfen, Verhaltensmuster und gesellschaftliche Bewegungen zu verstehen, und dabei eventuell zu scheitern, können sämtliche der hier genannten Texte als engagierte begriffen werden. Lesen und Lernen aus der Sehnsucht nach einer Erweiterung des Bewusstseins konvergieren nicht nur in Özdamars Texten von Beginn an häufig mit einer künstlerischen Haltung, die auch Georg Büchner vertrat.

Die Hinwendung zu den Unterdrückten, Benachteiligten, Zukurzgekommenen, Randständigen und Außenseitern, für die Büchners Lenz als ein Stellvertreter steht, und das im Rahmen eines Tischgesprächs in dessen Novelle zum Ausdruck kommt: »Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung: man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete. (…) Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon; doch seien sie immer noch erträglicher als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen; unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist. Das Gefühl, daß, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. (…) Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel.«

Indem die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung Emine Sevgi Özdamar auszeichnet, beglaubigt sie gleichermaßen auch eine Haltung gegenüber der Kunst, die das Kleine, Marginale, Hässliche, Periphere einschließt und Ansätze zu einer Bewältigung der Erfahrung von Fremdheit und des Außenseitertums über die Literatur bereit hält. Damit belobigt sie indirekt auch die Haltung der anderen hier genannten Autorinnen und Autoren.

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