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Warum das Festhalten an der Einheit Europas falsch ist Vom Kurs abgekommen

Mit seiner letzten Rede zur Lage der Nation im September dieses Jahres wollte Jean-Claude Juncker, Kommissionspräsident der Europäischen Union (EU) das europäische Integrationsprojekt mit viel Schwung und »Wind in den Segeln« voranbringen. Nach seiner Vorstellung soll das europäische Segelschiff in Richtung mehr Einheit steuern. Zu diesem Zweck schlägt er eine Ausweitung der Eurozone und des Schengenraums vor. Der Euro soll die Währung aller EU-Mitgliedsländer werden (mit Ausnahme derer, die sich vertraglich eine Opt-out-Klausel zugesichert haben) und es soll ein einheitlicher Raum ohne Grenzen entstehen. Seine Vorstellungen zur Zukunft der Europäischen Union sind allerdings nicht zielführend. Nicht mehr Einheit, sondern ein rechtmäßiger, offener und geregelter Umgang mit Vielfalt sollte die Maxime zukünftiger EU-Politik sein. Ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten ist notwendig, um die Problemlösungsfähigkeit der EU zu erhöhen und sie demokratischer zu machen.

Mit seinem Festhalten an der Einheit Europas vollzieht Juncker eine Kehrtwende und erteilt Plänen nach einem Europa der mehreren Geschwindigkeiten, wie sie zuletzt vor allem in französischen und deutschen Regierungskreisen favorisiert wurden, eine Absage. Das »Weißbuch zur Zukunft Europas«, das die Europäische Kommission im Frühjahr vorgelegt hatte, um einen Diskussionsprozess über den Fortgang der Europäischen Integration anzustoßen, wies noch in eine ganz andere Richtung. Bemerkenswert an dem Weißbuch war, dass die Europäische Kommission ein »Mehr« an Europa nicht als alternativlos dargestellt hat, sondern ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten und sogar einen Rückbau an Kompetenzen offen zur Diskussion gestellt hat. Das war ein Novum. Schließlich war die Europäische Kommission in der Geschichte des Integrationsprozesses immer eine Verfechterin des föderalistischen Traums einer immer engeren Union. Die Rede Junckers zur Lage der Nation knüpft – im Widerspruch zum Weißbuch – an diese alte föderalistische Tradition an. Demnach ist »mehr Europa« in jedem Fall besser. Einheit geht vor Vielfalt und Schengen; der Euro sollte nun auch allen anderen Mitgliedsstaaten verordnet werden. Die in der Rede verwendete Metaphorik spricht Bände. Juncker unterstreicht: »Europa muss mit beiden Lungenflügeln atmen, dem östlichen und dem westlichen. Ansonsten gerät unser Kontinent in Atemnot.« Prägnanter könnte man die Forderung nach Einheit und Unteilbarkeit nicht formulieren.

Gegen eine Ausweitung der Eurozone spricht allerdings, dass die makroökonomischen Ungleichgewichte schon jetzt die Funktionsfähigkeit der Eurozone gefährden. Leistungsbilanzdefizite gegenüber Überschussländern erzwingen innerhalb der Europäischen Währungsunion eine interne Abwertung, die das Wachstum dämpft und deflationär wirkt. Zudem erschweren auseinanderdriftende Leistungsbilanzsalden eine adäquate Geldpolitik, weil der Außenwert des Euro für die eine Ländergruppe zu hoch und für die andere zu niedrig ist. Mit der Aufnahme weiterer Länder in die Eurozone wird diese noch uneinheitlicher und das Risiko, dass die Europäische Zentralbank mit ihrer Geldpolitik nicht angemessen auf die Erfordernisse nationaler Volkswirtschaften reagieren kann, steigt.

Doch auch aus Sicht der mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländer ist es fragwürdig, ob eine Einführung des Euro aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll wäre. Wie Fritz W. Scharpf in einem aktuellen Papier für das Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung überzeugend darlegt, orientieren sich die gegenwärtigen Regeln des aktuellen Eurozonenregimes einseitig an exportstarken Hartwährungsländern wie Deutschland. Das Ziel der Krisenpolitik der letzten Jahre war es, dieses Modell auch den südeuropäischen Eurozonenländern aufzuzwingen. Er spricht in diesem Zusammenhang von »asymmetrisch erzwungener struktureller Konvergenz«. Die Verordnung von Sparpolitik und das Erzwingen niedriger Lohnkosten haben die Krise in den südlichen Eurozonenländern aber noch verschärft. Eine angemessene EU-Wirtschaftspolitik hätte die strukturellen Gegebenheiten der südeuropäischen Volkswirtschaften, insbesondere den großen Binnensektor, berücksichtigen sollen. Ähnlich wie in Südeuropa kann die implizite Ausrichtung der Regeln des Eurozonenregimes an exportorientierten Hartwährungsländern wie Deutschland ein Hindernis für die Entwicklung osteuropäischer Volkswirtschaften darstellen.

Das zweite von Juncker vorgeschlagene Projekt, nämlich eine Ausweitung des Schengenraums, ist ebenso fragwürdig. Laut Kommissionsangaben erfüllen Bulgarien und Rumänien vollständig und Kroatien weitestgehend die Kriterien des Schengener Abkommens. Technisch spricht also nichts gegen eine Aufnahme dieser Länder in den Schengenraum. Eine Ausweitung ist mittelfristig auch aus politischen Gesichtspunkten sinnvoll, um Vertrauen zwischen den Mitgliedsländern aufzubauen. In der aktuellen politischen Situation, in der viele Mitgliedsstaaten vor großen sicherheitspolitischen Herausforderungen stehen, widerspricht Junckers Vorschlag aber dem Sicherheitsempfinden vieler EU-Bürger/innen. Zudem hat die Flüchtlingskrise Ängste vor einem sicherheitspolitischen Kontrollverlust in einigen Mitgliedsländern genährt und den Wunsch nach mehr nationaler Autonomie im Bereich der Grenzpolitik gestärkt. Im Kontext dieser Entwicklungen sendet der Vorschlag Junckers das falsche politische Signal: Im Sinne von mehr Bürgernähe täte die Kommission gut daran, die wahrgenommene Realität der EU-Bürger/innen ernst zu nehmen.

Bei beiden Vorschlägen Junckers offenbart sich ein grundsätzliches Problem, das in der Geschichte des Integrationsprozesses immer wieder kontrovers diskutiert wurde, nämlich beim Verhältnis von Einheit und Vielfalt im europäischen politischen Gemeinschaftsgefüge: Ist die Europäische Union bereit, flexiblere Formen der politischen Kooperation, also ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, zuzulassen oder hält sie an dem föderalistischen Ideal einer »immer engeren Union«, wie es in Artikel 1 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, fest?

Die diskutierten Beispiele zeigen die Grenzen einer »Einheitsunion« auf. Bestimmte EU-Politiken sind für einige Mitgliedsländer sinnvoll, während sie für andere kontraproduktiv sind beziehungsweise eigentlichen nationalen Interessen widersprechen. Vor diesem Hintergrund stellt ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten eine Chance dar: Ein solches Europa könnte die Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems der EU erhöhen und die Union demokratischer machen. Lässt man sich auf flexiblere Formen der Integration, wie sie derzeit schon mit dem Eurozonenregime und dem Schengener Abkommen existieren, ein bzw. baut diese sogar noch weiter aus, wird die EU ermächtigt, differenzierter auf die verschiedenen Probleme in den Mitgliedsländern zu reagieren. Ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten trägt der Verschiedenartigkeit der europäischen Bevölkerung und den diversen nationalen Befindlichkeiten angemessen Rechnung.

Ein offener und geregelter Umgang mit Vielfalt wäre ein erster Schritt auf dem Weg zum Ideal einer »European Demoicracy«, ein Konzept, das etwa von Kalypso Nicolaïdis, Richard Bellamy und Frank Schimmelfennig propagiert wird: Demnach stellen die Mitgliedsstaaten eine schützenswerte, demokratische Arena dar, in der historisch gewachsene Institutionen für einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen sorgen. Daher sollten politische Entscheidungen, die im Nationalstaat getroffen wurden, nicht vorschnell durch supranationale europäische Institutionen übergangen werden. Ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten könnte somit einen Ausweg aus dem Demokratiedefizit der Europäischen Union bieten.

Junckers Vorstellung von einer Einheitsunion mit eigener einheitlicher Währung und einem Raum ohne Grenzen wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Mit dem Festhalten an überkommenen Einheitsvorstellungen riskiert die EU, die verschiedenen nationalen Interessen und die nationalen sozioökonomischen Gegebenheiten nicht genügend zu berücksichtigen. Macht die Kommission so weiter, wird sich die EU nicht zu einem Segelboot mit Wind in den Segeln entwickeln, sondern zu einem unbeweglichen Tanker, der langsam aber sicher vom Kurs abkommt.

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