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Ein Gespräch mit SPD-Generalsekretär Matthias Miersch über linke Politik in Zeiten einer Mitte-Koalition »Von der Handlungsfähigkeit des Staates hängt alles ab«

NG/FH: Herr Miersch, ist die Mehrheit links der Mitte zur Illusion geworden?

Matthias Miersch: Nein. Die Wahlen in Hamburg haben ja gezeigt, dass sie nach wie vor möglich ist. Aber klar ist, dass wir in einer Zeit sehr starker Polarisierung in eine ganz andere Richtung leben, einer Polarisierung durch die extreme Rechte. Das sehen wir international. Von Leuten wie Milei, Trump oder Musk wird die Frage nach der Rolle des Staates sehr radikal gestellt – in Richtung Staatsabbau. Darauf muss es eine linke Antwort geben.

Fehlt es nicht generell an Attraktivität linker Politik, wenn man die internationalen Wahlergebnisse betrachtet?

Es gibt da überall spezielle Gründe. Linke Parteien müssen aber auch generell überlegen, wie sie in Zukunft besser zeigen können, für was sie stehen. Wir als SPD haben über lange Zeit Regierungsverantwortung gehabt, haben da viele Kompromisse schmieden müssen. Manchmal wird dann das eigene Profil nicht mehr so deutlich, wie es das eigentlich sein müsste. In diesen Tagen geht es in Deutschland nun sehr zentral um die Handlungsfähigkeit des Staates. Aus meiner Sicht ist das eine wichtige Grundbedingung für alles, was sich an konkreter Politik anschließt. Da geht es um finanzielle Handlungsfähigkeit, bei der Verteidigung und auch bei Erhalt und Ausbau der Infrastruktur. Es geht um die Basis dafür, dass sich Politik überhaupt durchsetzen lässt.

Bedeutet: Linke Politik braucht vor allem höhere Staatsausgaben?

»Investitionen in die Infrastruktur von morgen sind ein wichtiges Stück Generationengerechtigkeit.«

Diese Behauptung wird gerne als Gegenargument in den Raum gestellt. Aber es geht um konkrete Maßnahmen, um konkrete Projekte. Die muss man natürlich erklären, sie sind kein Selbstzweck.  Aus meiner Sicht sind Investitionen in die Infrastruktur von morgen ein wichtiges Stück Generationengerechtigkeit. Ich bin mir sicher, dass die Menschen es genauso sehen, alle Umfragen bestätigen das. Wenn wir jetzt nicht investieren können, werden die volkswirtschaftlichen Kosten weitaus höher. Nehmen wir das große Thema Transformation und Klimaschutz:  Wenn wir da jetzt nicht investieren, zum Beispiel in CO2-freie Industrie, werden die Kosten zur Bewältigung der Folgen des Klimawandels deutlich steigen. Das sind Punkte, über die Politik sprechen muss, linke Politik ganz besonders.

Der andere Kritikpunkt ist, dass Strukturreformen fehlen neben neuen Ausgabeprogrammen. Haben linke Parteien, hat die SPD in ihren Regierungszeiten Strukturreformen verschlafen?

Das ist wahrlich nicht nur ein Thema mit Blick auf die linken Parteien. Stichwort Staatsverständnis: Wir alle müssen überlegen und auch darüber streiten, was der Staat leisten soll, wo er Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit garantieren soll – und wo vielleicht in der Vergangenheit zu viel geregelt wurde. Für mich ist das Thema Staatsmodernisierung absolut vorrangig. Ich habe in der Vergangenheit zweimal selbst an Föderalismusreformen mitgearbeitet, die im Klein-Klein endeten.

Es ist gut, dass der Bundespräsident die Schirmherrschaft über eine unabhängige Kommission zur Staatsreform übernommen hat. Wir brauchen dringend eine Debatte darüber, wer welche Aufgaben haben sollte: die EU, der Bund, die Länder, die Kommunen. Da stellen sich sehr grundsätzliche Fragen, genauso beim Thema Bürokratieabbau. Wir sammeln Daten ohne Ende, aber die eine Behörde darf sich oft nicht mit der anderen verknüpfen, selbst wenn das ausgesprochen sinnvoll wäre.

Wegen zu viel Datenschutz? Oder schlicht wegen technischer Rückstände bei der Digitalisierung?

Über beides muss man reden. Der Datenschutz ist wichtig, aber an einigen Stellen ist er vielleicht doch zu streng geworden – wenn zum Beispiel Daten bei den Bürgerinnen und Bürgern mehrfach abgefragt werden müssen, die der Staat längst hat. Auch unter den Ländern und auch zwischen Bund und Ländern ließe sich da vieles vereinfachen, ohne Freiheitsrechte zu berühren.

Ist es nicht aber auch so, dass bei Fragen der Kompetenzverteilung, Beispiel Bildungspolitik, letztlich alle Staatsebenen sich immer wieder gegenseitig blockieren, weil niemand Zuständigkeiten abgeben will?

In der Bildungspolitik hatte das in der Tat manchmal verheerende Folgen. Ich selbst habe deshalb zweimal gegen betreffende Gesetzespakete gestimmt. Bei der ersten Föderalismusreform war ja allen Ernstes das sogenannte Kooperationsverbot von Bund und Ländern bei der Bildung herausgekommen, hineingeschrieben sogar ins Grundgesetz. Wir haben später Jahre gebraucht, das wieder rückgängig zu machen. Ein Denkansatz für die Zukunft ist jetzt: Wir brauchen bei der Bildung einheitliche Standards auf der einen Seite – und auf der anderen Seite vor Ort womöglich mehr Freiheiten. Aber der Rahmen muss stimmen, da ist die Existenz von 16 unterschiedlichen deutschen Schulgesetzen in einem vereinten Europa zumindest diskussionswürdig.

Das klassisch linke Thema ist der Ausgleich von Chancenungleichheit. Vermögensteuer, Erbschaftsteuer, Bürgerversicherung: Ist da nicht wirklich zu viel steckengeblieben – bei den Koalitionen der vergangenen Jahre, aber auch mangels gesellschaftlichem Rückenwind?

Es gab keine Mehrheiten dafür, da hat sich in der Tat dann vieles gegenseitig blockiert. Aber ich halte bei diesen Themen an der Vision fest und glaube auch, dass Mehrheiten dafür in der Sache erreichbar bleiben.

Auch jetzt, nach der Bundestagswahl, fehlen diese Mehrheiten…

Das Ergebnis werden wir sehen, wenn die neue Regierung gebildet wird. Eine Botschaft muss klar sein: Der Staat wird handlungsfähiger, als er zuletzt war. Bei zentralen Fragen wie Tariffreiheit und Mindestlohn muss es klare Fortschritte geben. Uns ist das wichtig, genauso wie die Entlastung der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der Steuerpolitik. Wenn das kommt, ist linke Politik in diesen Punkten klar erkennbar. Das sind dann Richtungsentscheidungen.

Oft finden die Menschen linke Forderungen inhaltlich gut – aber sie wählen anders. Fehlt die attraktive Botschaft über Einzelforderungen hinaus?

Das eine sind die Themen, das andere ist das Wahlverhalten. Mit dieser Differenz müssen wir uns jetzt auch in der Aufarbeitung der Bundestagswahl auseinandersetzen. Waren wir inhaltlich und organisatorisch auf der Höhe der Zeit? Menschen wählen nicht wirklich nur wegen Themen wie der Bürgerversicherung SPD. Da war die schlechte Performance der Ampel, nicht unbedingt wegen der Inhalte. Da wurde der Kanzler als Kopf dieser Ampel gesehen und deshalb nicht gewählt. Wenn es uns gelingt, uns neu aufzustellen, haben wir in Zukunft wieder eine Chance. Da müssen wir jetzt sicher aber auch Graswurzelarbeit leisten, besonders im Osten – was umso schwieriger ist, wenn organisatorisch Strukturen weggebrochen sind.

Die Jungwählerinnen und Jungwähler sind in beide Richtungen weggegangen – nach rechtsaußen zumal im Osten und auf dem Land oder in Richtung Linkspartei vor allem in großen Städten. Zeigt das so etwas wie ein Wertevakuum in der Regierungspolitik?

Es zeigt vor allem die Polarisierung. Wir alle haben vielleicht auch immer noch nicht richtig verstanden, wie sich da die sozialen Medien auswirken, die ja ausdrücklich von Polarisierung leben. Aus meiner Sicht liegt da die größte Herausforderung für die Demokratie, für demokratische Parteien speziell, für die ja Programmatik und Kompromisse und auch Respekt vor anderen Haltungen besonders wichtig sind. Es gibt zu diesem Thema jetzt immerhin eine Debatte. Sie kommt spät, hoffentlich nicht zu spät. Eine Herausforderung im Umgang mit sozialen Medien ist, Blickwinkel von außen anders aufzunehmen als bisher. Denn auch darum geht es ja: Menschen wollen gehört werden.

Jetzt steht aber keine linke Koalition an, sondern eine Mitte-Koalition, nach alten Maßstäben eine Mitte-rechts-Koalition…

…es ist in der Tat heute eine andere CDU als es die Merkel-CDU war. Jetzt sind dort liberale und soziale Ansätze wahrlich nicht in der Mehrheit…

…und am Ende muss eine Politik herauskommen, die auch diese Leute zufriedenstellt?

Es sind harte Auseinandersetzungen, bis es da eine gemeinsame Politik gibt – und die Diskurse werden schwer bleiben. Trotzdem sage ich: Unser Ziel bleibt, die zentralen Forderungen aus unserem Wahlprogramm umzusetzen. Handlungsfähigkeit des Staates, Reform der Schuldenbremse, Besteuerung hoher Vermögen, höherer Mindestlohn, Klimaschutz, sichere Rente: Wir lassen uns da nicht unter Druck setzen.

Also läuft es doch wieder eher auf eine Konflikt-Koalition hinaus?

Vom Koalitionsvertrag verspreche ich mir auch, dass ein gemeinsamer Geist skizziert wird. Wir leben in einer Welt, die sich rasant verändert. Die Frage ist: Welche Rolle spielt Deutschland in der Wertegemeinschaft Europa? Wie organisieren wir in dieser stürmischen Zeit, die von großer Unsicherheit geprägt ist, Sicherheit? Nicht nur innere und äußere, auch soziale Sicherheit. Von der Programmatik her könnten da ein christdemokratisches und ein sozialdemokratisches Wertebild durchaus zusammenpassen.

Bleibt dabei die Diskussion über äußere Sicherheit so militärlastig, wie sie derzeit geführt wird, während die Entwicklungspolitik von Kürzungen bedroht ist?

Auch da sind wir sehr sehr selbstbewusst. Wir haben einen weiten Sicherheitsbegriff und wir sehen Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik als gemeinsame Herausforderung, über die auch gemeinsam verhandelt werden muss.

Wie lässt sich erreichen, dass sich junge Menschen nicht lieber den Rändern zuwenden, weil dort umso radikaler Veränderungen propagiert werden? 

Meine Antwort ist zweigeteilt. Die zentrale Herausforderung ist der Zusammenhalt, die Solidarität in der Gesellschaft. Und: Der Staat muss zukunftsfähig sein. Klimaschutz, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind Zukunftsthemen, bei denen es sinnvoll vorangehen muss. Demokratie lebt meistens aber von Kompromissen und eine Koalitionsbildung ist immer eine Kompromissfindung. Da muss ich Abstriche machen, doch ich muss sagen können: Aus diesen Gründen machen wir das. Die sozialdemokratische Erzählung ist für mich jetzt: Wir leben in total unsicheren Zeiten, damit müssen wir umgehen. Wir als Sozialdemokratie sichern dabei vieles, was in anderen Ländern aufgrund des Rechtsrucks inzwischen geschliffen wird.

Mit dem Rechtsruck werden Themen hochgespült, die wahrlich keine klassisch sozialdemokratischen sind. Wie damit umgehen?

Wer behauptet, Migration sei kein Thema, geht über die Meinung in der Bevölkerung hinweg. Natürlich ist es ein Thema. Aber wer es dann mit dem rechten Narrativ bedient, die Migration sei der Kern der sozialen Probleme, betreibt das Geschäft der Rechtsextremen und begibt sich in ihre Fänge. Wir haben das ja auch anhand der Union gesehen, die bei der Bundestagswahl dann nicht besonders glorreich abgeschnitten hat. Sie hat die AfD stabilisiert und teilweise noch stärker gemacht.

Eine Sozialdemokratie, die sich vorwiegend als Stabilisierungsfaktor sieht, gibt aber auch links viel Raum preis…

Es ist das alte Thema der Sozialdemokratie, dass sie bei manchen Themen mit sehr guten Gründen ein Sowohl-als-auch vertritt. Uns muss jetzt die Botschaft gelingen, dass eine Haltung gegen die Polarisierung die einzig verantwortliche Haltung ist. Dafür müssen wir werben und die Strategie der Polarisierer links und rechts entlarven.

Ist das ein Weg, der jemals wieder zu einer linken Mehrheit führen kann?

Ich stehe dafür, dass wir auch in solchen Zeiten vernünftige Diskurse im linken Spektrum nie verweigern. Was daraus wird, werden wir sehen. Viele von uns haben jenseits der Tagespolitik das Gespräch im Spektrum zwischen SPD, Grünen und Linkspartei nie einschlafen lassen. Da hilft es durchaus, dass viele derer, die bei der Linkspartei vernünftige Politik besonders schwer gemacht haben, jetzt beim BSW gelandet sind. Die derzeitige Linkspartei ist eine, mit der man den Diskurs führen kann und muss.

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