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Dystopien von gestern und morgen Vor uns die Sintflut

»Zu viele Kinder sind schlecht fürs Klima«, titelte die Berliner Morgenpost am 18. Juli dieses Jahres. Hintergrund war eine umstrittene schwedisch-amerikanische Studie, die die wichtigsten Einsparmöglichkeiten für Kohlendioxidemissionen auflistete und kommentierte. Ihr Fazit ist, dass die politische »Klimawende« ausgerechnet am kürzesten Hebel ansetze, indem sie mit Stromsparen und Recycling vornehmlich Maßnahmen propagiere, die den geringsten Effekt hätten: »Eine US-amerikanische Familie, die auf ein Kind verzichtet, spart genauso viele Emissionen ein wie 684 Jugendliche, die für den Rest ihres Lebens strikt recyceln«, zitierte die Zeitung die Studienleiterin Kimberly Nicholas.

Ganz so exakt wie in dieser Zahlenspielerei lässt sich das freilich nicht ermitteln, weil auch in den USA nicht alle Kinder unter gleichen Bedingungen aufwachsen. So gibt die Studie an, die Umstellung auf vegetarische Ernährung würde eine Einsparung von 300–1.600 kg Kohlendioxid pro Jahr bringen, der Verzicht auf einen Flug 700–2.800 kg und der Verzicht auf ein Auto 1.000–5.300 kg. Diese Auflistung kaschiert, dass unsere führenden Politiker permanent flugbereit sind und dass selbst ein prominenter Vertreter der Umweltschutzpartei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie Cem Özdemir pro Jahr natürlich weit mehr als einen einzigen Flug absolviert. Da hilft es dann auch nichts, dass er sich vegetarisch ernährt.

Der Verzicht auf ein Kind würde laut der Studie eine jährliche Ersparnis von 23.700–117.700 kg Kohlendioxid bringen. Jedes Neugeborene macht also die Bemühungen eines ganzen Kollektivs fahrradfahrender Vegetarier zunichte und kinderlose Paare sollten hingegen ihre Braunkohlevorräte für den Winter guten Gewissens im eigenen Lastwagen beim Erzeuger abholen können.

Das Problem ist der Mensch

Kinderreichtum ist heutzutage ein Problem. Die weißen Flecken, auf denen Thomas Morus noch seine Insel Utopia platzieren konnte, sind längst von den Landkarten verschwunden. Wir mögen keine »Chindlifrässer« (Kinderfresser) sein wie jener Oger, dessen Abbild einen Brunnen in der Berner Altstadt ziert, doch wir verzehren zumindest jene Ressourcen, von denen Kinder und Kindeskinder einmal profitieren sollten. Unsere Kinder und Kindeskinder tun es uns jedoch gleich. Als Superorganismus betrachtet, ist die Menschheit schon in einen selbstzerstörerischen Zustand übergegangen, sie verzehrt sich durch den nicht nachhaltigen Verbrauch essenzieller Ressourcen indirekt selbst.

Doch die Politik diskutiert über Wachstum und Zuwanderung, Elektromobilität auf dem Boden, eine drohende Verteuerung von Flügen infolge der Pleite von Air Berlin und über eine Verteilungsgerechtigkeit, die ohne grundlegende Veränderungen durch weiteres Wachstum bestenfalls simuliert werden kann. Das eigentliche Problem ist der Mensch. Wir sind zu viele. In Deutschland leben heute mehr Menschen als in ganz Europa um 1500 n. Chr., wovon viele Millionen regelmäßig per Auto und Flugzeug zu Völkerwanderungen nie genannten Ausmaßes aufbrechen, wenn sie Urlaub machen.

Angesichts solcher Zustände lässt sich in der aktuellen Literatur ein bemerkenswerter Wandel feststellen. Hinter den gängigen Dystopien einer von Übervölkerung, Vergiftung, Ausplünderung der Umwelt und Gewaltexzessen heimgesuchten Erde zeichnen sich neue und zugleich alte Utopien ab. Schon im Frühwerk von Arno Schmidt, den ein ausgeprägter Menschenhass charakterisierte, dem Kurzroman Schwarze Spiegel (1951), zogen die letzten überlebenden Menschen durch eine Welt, die durch den Einsatz von A-, B- und C-Waffen weitgehend zerstört worden war. Ausgerechnet die diesjährige Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels Margaret Atwood hat in ihrer MaddAddam-Trilogie dazu ein Gegenstück geliefert. Der Südafrikaner Deon Meyer wiederum, der es als Krimiautor zu Weltruhm gebracht hat, erzählt in Fever von einem Jungen, der mit seinem Vater und etlichen Gleichgesinnten in einem durch eine globale Pandemie entvölkerten Südafrika eine neue Gemeinschaft aufbauen will. Wie bei Atwood hat er dabei gegen die Restbestände gewalttätiger Artgenossen zu kämpfen. In Dirk van Versendaals Nyx bleibt hingegen offen, ob jene Kampfroboter, die ein gigantisches schwimmendes Altersheim schützen sollen, nicht schon dabei sind, die Macht zu übernehmen. Das Bild dieser kilometerlangen schwimmenden Insel mit ihren greisen Bewohnern ist an sich schon imponierend, erst recht, nachdem sich in Edgar-Allan-Poe-Manier dort der Tod eingeschlichen hat. Denn auch in Versendaals Welt wütet nämlich eine Seuche, und in allen drei Werken ist sie von Menschen verursacht worden.

Während Versendaals Roman ein raffiniert kulminierender Thriller ist, entpuppt sich die Dystopie bei Atwood und Meyer hingegen als Kippfigur. Bezeichnenderweise heißt das zentrale Werk von Atwoods Trilogie Das Jahr der Flut (The Year of the Flood, 2009) und spielt auf die Sintflut an. Allerdings ist diese Sintflut wasserlos über die Menschheit hereingebrochen. Stattdessen als verheerende Seuche, die der geniale Gen-Designer Crake geschaffen hat: »Ja, dadurch roch eine Zeitlang alles sehr schlimm«, heißt es im Nachruf auf die Menschheit, aber wie im alttestamentlichen Vorbild gibt es einige Überlebende. Diese gehen friedlich in den bunten Reihen jener »Craker« auf, die ihr Namensgeber als Ersatz für die dysfunktionale Menschheit geschaffen hat. Craker sind zwar menschenähnlich, jedoch reine Pflanzenesser sowie sehr sozial und empathisch. Vom Baum der Erkenntnis haben sie allenfalls genascht.

Kleine und große Fluchten

»Selig sind die Friedfertigen und die, die schlichten Geistes sind« heißt es im Matthäus-Evangelium. Selig sind aber auch die zu nennen, die fernab der geschäftigen Welt zu leben vermögen. Atwood wie Meyer haben ihre Dystopien in apokalyptischer Weise als unversehrte Wiederherstellung beschrieben, wobei die Krankheit, die die Menschheit vernichtet, die Welt zugleich heilt. Meyers Helden finden sich in einem Südafrika wieder, dessen Ressourcen die wenigen Überlebenden über Generationen hin nicht einmal annähernd ausschöpfen könnten. Wie bei vielen »gemütlichen Katastrophen« folgt auf die apokalyptisch anmutende Weltwende eine Robinsonade. Die Kameraden sind abgesoffen, und die Schiffsladung lädt zu hemmungsloser Selbstbedienung ein. Doch während Atwood mit offenen Karten spielt, hält der Krimiautor Meyer lange zurück, wer sich dazu erhoben hat, die Welt durch einen Massenmord zu kurieren, selbst aber zu überleben.

Atwoods mörderischer Weltenretter Crake hingegen kommt um. Schon im ersten Band Oryx and Crake (2003) ist er dabei, sich in eine mythische Gestalt zu verwandeln, denn eine neue Schöpfung braucht einen neuen Mythos. Was die verbliebenen Menschen ihren wissbegierigen Nachfolgern erzählen, ist auf eher schlichte Gemüter zugeschnitten, weil die empfindsamen Craker so nah am Wasser gebaut sind, dass allzu traurige Passagen unweigerlich eine neue Flut auslösen würden.

Überhaupt wächst beim Wiederlesen der Eindruck, dass Atwoods neue Menschen so neu nicht sind, denn auch ihre Vorgänger hörten zwar gerne Geschichten vom Weltuntergang, wollten aber, dass sie gut ausgehen. Tun sie es nicht, wird ihnen, wie jener eingangs zitierten schwedischen-amerikanischen Studie, schnell die Aufmerksamkeit entzogen. Schon 1983 hat der Philosoph Ulrich Horstmann in seinem Buch Das Untier die »Konturen einer Philosophie der Menschenflucht« umrissen. Damit sorgte er vor allem in Kreisen der Friedensbewegung für erhebliche Verstimmung, weil er eine atomare Selbstvernichtung als konsequenten Abschluss der bisherigen Menschheitsgeschichte darstellte.

Verglichen damit, scheint der Verzicht auf Kinder oder zumindest auf weitere Kinder leichter zu verschmerzen. Die Praxis aber, exzessive Vielfliegerei mit Bonusmeilen zu belohnen, die Verfügbarkeit billigster Tickets als Menschenrecht zu propagieren und die letzten idyllischen Flecken der Meere mithilfe von dieselgetriebenen Kreuzfahrtschiffen zu verpesten, erscheint als gemeingefährlicher Wahn in einer Welt, in der man ernsthaft überlegen muss, ob man in sie noch einmal hineingeboren werden möchte.

Margaret Atwood: Das Jahr der Flut. Piper Tb, München 2017, 480 S., 12 €. – Dies.: Die Geschichte von Zeb. Piper Tb, München 2017, 480 S., 12 €. – Dies.: Oryx und Crake. Piper Tb, München 2017, 384 S., 12 €. – Deon Meyer: Fever. Rütten & Loening, Berlin 2017, 702 S., 19,99 €. – Dirk van Versendaal: Nyx. Rowohlt, Reinbek 2017, 448 S., 22,95 €.

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