Vor allem eines lehrt der neueste Essay des österreichischen Publizisten Robert Misik: das genaue Hinsehen. Sein Buch Die falschen Freunde der einfachen Leute verhandelt die übliche Sicht auf »das Volk«, auf die »popularen Klassen«, und weist auf die blinden Flecken dieser Betrachtungsweise hin. Es geht also um die große Unbekannte in der Reflexion über Populismus und Demokratie, über Autoritarismus und Liberalität. Wütend, ignorant, rassistisch – stimmen diese Annahmen über »das Volk« überhaupt? Wie sieht »die zeitgenössische Wirklichkeit der popularen, arbeitenden Klassen« überhaupt aus?
Misik räumt ein, es sei schwer, die »einfachen Leute« zu definieren. Die Kategorie selbst sei diffus, das »einfache Volk« in seiner Mentalität und in seinem Bewusstsein schwer zu greifen. Die Populismusanalysen der letzten Jahre versuchen das zwar, doch oft schwingen dabei Unkenntnis, Unklarheit und Geringschätzung mit, zudem gibt es die Fixierung auf vorwiegend einheimische weiße Frauen und Männer. Das Volk, so lauten die Befunde, sei »grundlegend wütend, zornig oder ressentimentbehaftet«. Es sei politisch nicht repräsentiert, kulturell belächelt und marginalisiert. Zugleich umschwirrten es viele falsche Freunde, vor allem extreme Rechte und Populisten, die Zorn brauchen, um Lösungen zu versprechen. Auch Politiker und Medienmenschen hätten »völlig fantastische Bilder im Kopf, die das Volk mal idealisieren, mal zum Klischeevolk« herabwürdigten.
Misik hinterfragt also zwei gängige Thesen der Populismusdeutung: Was ist dran an der Vorstellung von der weißen Arbeiterklasse, die sich von den zeitgenössischen Progressiven abwendet und als homogenes Wutmilieu das Wählerreservoir für rechtsextreme Parteien bildet? Und stimmt die Annahme, der Aufstieg des Rechtspopulismus verdanke sich gesellschaftlichen Tiefendynamiken wie der Globalisierung und der Identitätspolitik?
Im Rekurs auf Untersuchungen des Politologen Christian Welzel verweist Misik auf das Phänomen der ökonomischen Verwundbarkeit in einer doch immer liberaler und vermeintlich durchlässiger werdenden Gesellschaft. »Die beschleunigte Modernisierung lässt viele Menschen nicht mitkommen, schreckt sie ab, gibt ihnen das Gefühl, mit ihren Wertvorstellungen auf verlorenem Posten zu stehen.« Die Angehörigen der früheren Arbeiterklasse, die sogenannten Unter- und unteren Mittelschichten empfänden deshalb »ein Gefühl des Verlassenseins«. Es sind jene, die in peripheren Regionen und Quartieren leben, jene, die sich politisch nicht repräsentiert fühlen.
Misik schildert »die Buntscheckigkeit« der popularen Klassen, die differenzierten Arbeitsrealitäten, kulturellen Gewohnheiten und Zugehörigkeiten. Auch das Bewusstsein, dass man nichts geschenkt bekommt, dass, wer dazugehören wolle, sich hinten anstellen müsse. Angehörige der Arbeiterklasse, das macht sein historischer Rückgriff klar, »schätzen rigide Selbstdisziplin, weil sie nötig ist, um einen harten Job, den man hasst, vierzig Jahre lang machen zu können«. Weil sich die Arbeiterklasse in mühseliger, zäher Anstrengung von den Armen in das Volk verwandelt, Rechte und sozialstaatliche Absicherung errungen hat, sei die Arbeiterklasse entgegen aller Sozialromantik auch weniger solidarisch mit »den Armen«. Aus der ebenso rebellischen wie traditionellen Arbeiterkultur erwächst eine enorme Heterogenität der popularen Klassen.
Ob prekär Beschäftigte, Arbeiter, technisch-wissenschaftliche Angestellte, Angestellte in Dienstleistungsberufen – wie steht es um deren existenzielle Sicherheit, wie erleben sie ökonomische Dynamiken, gesellschaftliche Modernisierung und Zuwanderung? Erfahren sie eine Sicherheit, auf der alles Weitere – »Respekt, Selbstrespekt, Achtung, Zukunftszuversicht und die Gewissheit, aus seinem individuellen Leben etwas machen zu können« – aufbaut?
In einer Gesellschaft, die Gleichheit postuliert, gehören Herablassung, Arroganz und Machtgefälle zu den subtilen Verletzungen, die schon Richard Sennett und Jonathan Cobb in The Hidden Injuries of Class anführen und die auch politisch wirksam sind. Jeder Arbeiterjugendliche hat diesen Wettstreit um Würde und Anerkennung erfahren, gleich, wie weit sie oder er es geschafft hat. Misik unterstreicht den Zusammenhang zwischen Anerkennung und Selbstachtung. Doch die Globalisierung bringt die Erfahrung, jederzeit ersetzbar zu sein. Die ökonomische Bedrängnis infolge der Globalisierung geht einher mit vielfältigen Verwundungserfahrungen, mit Verachtung und dem Verächtlichgemachtwerden. Der ökonomische Wandel wird als bedrohlich erlebt. Diese permanente Gefährdung führt zu einer Entsolidarisierung, die in alle Lebensbereiche einsickert: »Wenn progressive Sozialinitiativen Nachhilfe, Ausflüge oder Ferien für Kinder aus unterprivilegierten migrantischen Familien organisieren, fragen sich die Hiesigen: ›Warum tun sie das nicht auch für uns?‹«
Verwundbarkeit durch Wandel
Robert Misik, dieser engagierte Zeitdiagnostiker und Anreger, überdies Co-Kurator der neuen Ausstellung im Museum Arbeitswelt in Steyr/Österreich, hat sich intensiv mit der Arbeiterkultur beschäftigt, ohne in eine instrumentelle Empathie zu verfallen, wie sie bei Linken verbreitet ist. Sein Buch beweist, wie erhellend-verständnisvoll man über Menschen nachdenken und schreiben kann, die in politischen Analysen zumeist als Objekte betrachtet, doch keineswegs um ihrer selbst willen geachtet oder gewürdigt werden. Der Paketbote wie die Altenpflegerin, die Leiharbeiter und die Verkäuferinnen zeigen eben deshalb eine »zerrissene Solidarität«, weil sie selbst nichts geschenkt bekommen. »Nichts untergräbt schließlich Solidarität mehr als das Gefühl, dass man als Einzelkämpfer darauf achten muss, selbst zu überleben.« Die »einfachen Leute« fühlten sich nicht authentisch wiedergegeben, »sondern auf ungerechte Weise abgewertet«. Es sei politisch fahrlässig, ihre Erfahrungen und Urteile nicht einmal mehr wahrzunehmen. Denn im Unterschied zu den migrantischen arbeitenden Klassen hätten die weißen arbeitenden Klassen eine Abstiegserfahrung gemacht. Mit dem Rassismusvorwurf nehme man all jenen mit Deklassierungserfahrungen die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge zu artikulieren. Die Mühsal des erreichten Wohlstands und die Wertschätzung gelten als Maßstab, nicht die Mühelosigkeit im Erreichen staatlicher Zuwendung. »Nirgends wurde der ›Arbeitsscheue‹ mehr verachtet als in der Arbeiterklasse«, ruft Misik in Erinnerung. Gerade wer harte Arbeit leistet, will nicht, dass andere »auf seine Kosten« leben.
Zeigen also die Wahlsiege von Donald Trump bis Viktor Orbán, von Jair Bolsonaro bis Rodrigo Duterte, von Herbert Kickl und Norbert Hofer bis Boris Johnson tatsächlich eine Art populare Revolte? Misiks Antwort fällt ambivalent aus: »Teile dieser Milieus sind für die klassischen demokratischen Parteien nicht mehr erreichbar, sie fühlen sich betrogen und verraten und zählen zum Wählerreservoir eines aggressiven Populismus. Aber: Bei Weitem nicht alle, noch nicht einmal die Mehrheiten dieser Milieus sind für einen ethnonationalistischen Autoritarismus à la Trump oder Björn Höcke.« Misiks emphatischen, sozialpsychologisch grundierten Betrachtungen sensibilisieren dafür, dass der Verwundbare nicht den Wandel schätzt, sondern Stabilität und Gemeinschaft. Und dass die Identität der einfachen Leute vor allem mit Respekt und Selbstrespekt zusammenhängt. Der Dichter Nicolas Born hat es in die Verse gefasst: »Die Menge geht auf der Erde/und nichts vergeht in der Menge/auf den Rücken summender Webstühle/erreichen wir den großen Widerspruch:/das Erscheinen eines jeden in der Menge«.
Robert Misik: Die falschen Freunde der einfachen Leute. Edition Suhrkamp, Berlin 2019, 138 S., 14 €.
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