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2017 hat gezeigt: Die meisten Analysen greifen viel zu kurz Was Wahlen entscheidet

Doch lieber Sicherheit statt Gerechtigkeit als Oberthema? Oder ganz einfach mehr innerparteiliche Basisdemokratie? Am besten »Horst Seehofer weg« (oder Martin Schulz oder gleich Angela Merkel)? Jedenfalls »die Menschen ernst nehmen« und, zum Beispiel, »Zuwanderung radikal begrenzen«? Es wird in den großen Parteien und den großen Medien seit der Bundestagswahl im September viel hin und her diskutiert. Aber viel zu oberflächlich.

Was entscheidet Wahlen? Jedenfalls selten der Wahlkampf selbst, der hat diesmal überhaupt nichts mehr bewegt. Es ist aber genauso wenig das Programmatische alleine, der Wortlaut an sich, sonst wäre Programmlosigkeit nicht so erfolgreich. Von allen Parteien wird demoskopisch-wissenschaftlich zwar sehr genau erforscht, was die Anhänger inhaltlich wünschen, falls sie etwas wünschen, und wo die Programmschwächen der jeweiligen Gegenseite liegen. Nur: Genau das ist zu verkopft gedacht. Das ganze Analyseinstrumentarium greift zu kurz: das der Politik, aber auch das der Demoskopie und das des Journalismus.

2017 gab es viele Wahlen, national wie international: im Saarland und in Großbritannien, in Schleswig-Holstein und Frankreich, NRW und Österreich, Deutschland und Tschechien. Natürlich gibt es da nicht die eine, alles erklärende politische Mechanik. Aber es gibt wiederkehrende Muster, und zwar unabhängig von Inhalten und Programmen. Sie legen nahe, die Grundlagen für politisches Vertrauen (und darum geht es bei Wahlen am Ende) umfassender zu sehen als in den insiderhaften Aufarbeitungsreflexen im Inneren der politischen Zirkel üblich, bei denen Selbstbetrugsrezepte stets groß in Mode sind.

Vor allem drei Faktoren sind für Wahlerfolge wesentlich: Sympathie, Stärke und Wirkung. Es sind nach klassischem Verständnis eher sekundäre, abgeleitete Kriterien. Abzuleiten aus Interessenlagen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen sowie Machtverhältnissen. Aber stimmt das mit der Ableitung noch? Es geht ums Bewusstsein, wohl wahr. Ums Bewusstsein aber in einer bildzentrierten, momenthaften, personalisiert wahrnehmenden, direkt miteinander kommunizierenden Welt, in der persönliche Meinungsbildung ganzheitlicher zu verstehen ist als rein rational. Zunehmend ist es so, dass die individuelle Bereitschaft, konkrete politische Konzepte gut zu finden, ihrerseits eher wie ein sekundärer, abgeleiteter Faktor daherkommt. Abgeleitet aus Gefühlen und Emotionen, die angesprochen oder ignoriert wurden.

Sympathie, Stärke, Wirkung: Letzteres, die Aussicht bzw. Hoffnung auf Wirkung durch die Stimmabgabe, wird im Dreieck dieser Faktoren zu einer Art Grundprinzip für Wahlsiege – soweit nicht die Faktoren Sympathie und Stärke massiv gegenläufig wirken. Das bedeutet: Im Zweifel votieren insbesondere klassische Wechselwähler oder vormalige Nichtwähler gerne für Veränderungsoptionen, außer sie trauen den dafür stehenden Parteien keine starke Staatsführung zu oder deren Spitzenpersonal erscheint nicht sympathisch genug. In inhaltlich sehr unterschiedlicher Weise siegte speziell in Frankreich und Österreich die Wirkungserwartung, in Tschechien sowieso. Wobei Wirkung auch heißen kann: Entschleunigung statt Turbo-Modernisierung, Bremsen von Globalisierungsprozessen und ihren Auswirkungen.

Der Vorrang von Änderungsversprechen hat einiges damit zu tun, dass Wahlakte in der Konsumgesellschaft nur noch sehr begrenzt Ausdruck langfristiger Identitäten und Überzeugungen sind, sondern – vom Alltag her gedacht – eher vergleichbar mit einem konkreten Kaufakt. Im breiten Angebot der Dinge geht es um den Erwerb von Neuem, Anderem. Das Andere ist spannend. Nicht das, was man schon hat. Bei Wahlen heißt das: Lust auf Anderes zieht, die Kritik am Vorhandenen ist in der Mediengesellschaft ohnehin allgegenwärtig und Probleme, Ungerechtigkeiten, Perspektivlosigkeit gibt es in diesem Vorhandenen genug. Selbst Oppositionsparteien, die nicht eindeutig genug für Anderes stehen, werden unspannend.

Wer wählt, will eher etwas bewegen als etwas erhalten. Natürlich ist dies das Einfallstor für Populisten aller Art. Aber bei inhaltlicher Abgrenzung und gekonnter Inszenierung – siehe wiederum Frankreich, beinahe sogar Großbritannien, in jedem Fall Österreich – können auch Kandidaten aufsteigen, die selbst bislang Teil des Systems waren. Die Leute haben gleichwohl das Gefühl, sie könnten mit deren Wahl etwas bewirken.

Zwingende Voraussetzung ist dann aber die Erwartung von Stärke. Durch Abwahl verschlissener oder schwacher Amtsinhaber, siehe einige deutsche Landtagswahlen und im Trend sogar die Bundestagswahl. Und/oder durch Projektion von Hoffnungen auf vermeintlich neue Stärke. Wobei erwartete Stärke insbesondere bei Menschen zieht, die sich durch ihre Stimmabgabe direkt an der Führungsentscheidung beteiligen und nicht nur milieubezogene Interessenssicherung betreiben wollen, beim traditionellen Publikum der Volksparteien also.

Dort funktioniert dann nach wie vor der alte Magnetismus der Macht, der am Ende Wählerstimmen auf die erwartete Gewinnerseite zieht. Speziell die CSU wittert in der Flüchtlingspolitik längst die Gefahr, die für sie von dem ausgeht, was sie selbst »Kontrollverlust« (also: Schwäche) nennt. In Bayern lebte sie seit Jahrzehnten von der Symbiose zwischen Partei und Staatshandeln, von der Machtaura als Staatspartei. Als die Stärkevermutung wegfiel, und sei es durch selbstbekundete Verunsicherung aus Angst vor der AfD, erschien Kaiser Seehofer plötzlich wie nackt.

Auch die Wahlen in Rheinland-Pfalz 2016 und Niedersachsen 2017 stehen für einen solchen Magnetismus politischer Stärke, begünstigt dort durch schwache Popularitätswerte und fehlende Mehrheitsperspektiven der jeweiligen Herausforderer: dann lieber starke Amtsinhaber behalten. Daraus folgt, dass unrealistische Wahlziele aus der Opposition heraus (wie: SPD-Kanzlerkandidaturen ohne vorbereitete und deshalb vorstellbare Bündnisse jenseits der Union) zu Abstoßeffekten im Publikum führen, einen Magnetismus der Schwäche sozusagen.

Wer sich selbst schwach redet, trägt dazu bei. In einem repräsentativen Demokratiesystem wirken zum Beispiel endlose interne Debatten oder gut gemeinte Demutsgesten gegenüber der Parteibasis schnell wie der Abschied vom Anspruch auf politische Führung. Denn Veränderung alleine reicht nicht als Wahlkampfziel. Mindestens zwei der drei Faktoren Sympathie, Stärke und Wirkung braucht es zum Erfolg, am besten jedoch alle drei. Aber die offene Diskussion darüber ist innerhalb der professionellen politischen Welt mit ihren ständigen gegenseitigen Beobachtungen und Konkurrenzkämpfen extrem schwierig. Erst recht zum Faktor Sympathie, der übersetzt ja immer in der Frage mündet, von welcher Art Menschen sich andere Menschen gerne repräsentieren lassen. Sich dem rational zu nähern, ist nicht ganz unmöglich, stets hoch problematisch, aber letzten Endes realitätsnäher als davor wegzutauchen. Charismatische Überzeugungskraft zum Beispiel oder zumindest ein dauerhafterer »Hinhörfaktor« ist in bestimmten Situationen sogar messbar, zum Beispiel an den Ein- oder Abschaltquoten während der Statements einzelner Personen bei Talkshows. Eigenschaften wie Verlässlichkeit, Ernsthaftigkeit, Erdverbundenheit, Ehrlichkeit, Zugewandtheit, Authentizität oder Attraktivität werden in den demoskopischen Marktstudien der Wahlkampfplaner sehr wohl abgefragt, hinsichtlich der »eigenen« Kandidaten ebenso wie bezogen auf die gegnerischen.

Politische Kategorien im traditionellen Sinn sind es nicht. Und es geht hier um Erfolgseigenschaften, die nicht immer deckungsgleich sind mit denen, die innerhalb der politischen Systeme zählen. Sympathiegefühle im kurzen, TV-visualisierten Draufblick sind etwas völlig anderes als Vertrauenserlebnisse im mühsamen Partei- und Parlamentsgeschäft. Verkniffene, eher funktionärshaft wirkende Menschen aus den Gremien der Politikwelt signalisieren nach außen Distanz, ohne dass sie das merken. Lebensfrohe Optimisten tun sich mit medialer Nähe leichter.

Wobei Lebenslust und Leichtigkeit, nicht selten janusköpfig verbunden mit Frechheit und Unseriosität, als politische Erfolgsfaktoren nie zu unterschätzen sind. Die geradezu frappierende Leichtigkeit so mancher FDP-Wahlkämpfer, ihre locker-flockige Inszenierung eines jungen Individualismus, hat sehr wohl viel Publikum gefunden. Immer in Abgrenzung zur fast zur Marke gewordenen sorgenvollen Schwermütigkeit in mancher Altpartei, inklusive der GRÜNEN.

Mehr Leichtigkeit wagen: Wie macht man das, wenn man sie selbst kaum mehr hat? Und wie lassen sich solche Faktoren in formalisierten Politikprozessen aufgreifen? Die Masche der Populisten ist es, leicht und direkt vorhandene Gefühle anzusprechen. Das Unsicherheitsgefühl gegenüber Fremdem. Das Gerechtigkeitsgefühl bei Verteilungsfragen, aber auch hinsichtlich des Werts von eigener und fremder Leistung generell. Das Zugehörigkeitsgefühl zu lokaler oder auch sozialer Heimat.

Keines dieser Gefühle ist von sich aus böse. In ihrer populistischen Ausnutzung werden sie zu »Verstand-Blockern«. Aber als Triebkräfte für politische Mehrheitsbildung sind sie nicht mehr wegzudiskutieren. Gefühle werden mit dem Zerfall sozialer Zusammenhänge in der Gesellschaft zunehmend als tatsächliche – persönliche – Realität erlebt. Wer in Zukunft Wahlen gewinnen und demokratische Führungsrollen ausfüllen will, wird sich über Programm-Spiegelstriche und juristische Gesetzesprojekte hinaus erfolgreich in den Gefühlswelten bewegen müssen.

Diese Herausforderung ist der Kern dessen, was in der Politiksprache »die Sorgen der Menschen ernst nehmen« heißt und viel zu oft ausschließlich programmatisch gemeint ist. Sensible Volksnähe, wenn sie denn so übersetzt würde, wäre in diesem Zusammenhang kein falscher Begriff. Unverdächtiger ausgedrückt: emotionale Anschlussfähigkeit. Nicht Gefühlsduselei, sondern Anerkennung der direkten politischen Relevanz von Emotionen. Es gilt nicht nur im alten Lafontaineschen Sinne, dass niemand andere begeistern kann, der nicht von sich selbst begeistert ist. Es gibt hochrelevante politische Strategiefragen, auf die sich neue mehrheitsfähige Antworten erst finden lassen, wenn Kopf und Bauch wieder zusammenfinden.

Ist die Perspektive für EU-Europa nicht viel zu lange immer nur vom Modell einer eigenen europäischen Staatlichkeit her gedacht worden, die es in diesem Jahrhundert nicht mehr geben wird? Muss supranationale Politik künftig also nicht viel stärker auf Heimatgefühlen aufbauen, auf Verwurzelung statt Entwurzelung? Oder: Trägt der staatliche Autoritätsverlust im Zusammenhang mit alltäglichen Dienstleistungen – z. B. Bildungssystem, Sicherheitsfragen, Postauslieferung – nicht massiv dazu bei, auch Wahlen und ihre Ergebnisse für weniger wichtig zu halten, weil jegliche Politik letzten Endes doch wieder droht, in Ohnmacht zerrieben zu werden?

Wer eine attraktive neue Erzählung für demokratische und zugleich verändernde Politik sucht, der kommt an solchen Fragestellungen im weiten Feld zwischen Gefühl und Programm nicht vorbei. Mit Parteitagsanträgen zu diesem oder jenem Politikfeld lassen sich einzelne Facetten klären, der große Rahmen aber nicht. Um diesen muss es gehen. Um ein positives Lebensgefühl in Deutschland als weltoffenem, aber auch wertegebundenem Land, mitten in Europa. Dazu bräuchte es so etwas wie eine Programmatik der Emotionen, eine ganzheitlichere Erweiterung des politischen Diskursfeldes.

Wohl wahr: Je mehr an den Wahlurnen frei nach dem Wünsch-Dir-was-Prinzip gewählt wird, desto schwieriger wird es hinterher, seriöse Kompromisse zu finden. Eine Schwierigkeit, die dann öffentlich schon wieder kaum mehr akzeptiert wird. Weil für die Emotionswelt, in der sich Medien und Publikum bewegen, die Vor-Wahl-Programme gar nicht mehr so wichtig erscheinen. Weil das Prozedurale sofort wieder Wahrnehmung und Stimmung prägt, nicht das Inhaltliche. Die täglichen Politikerinterviews stehen beispielhaft dafür: Der Oberflächenjournalismus will nur noch wissen, ob man sich einigt, sich bekämpft, sich widerspricht oder eben nicht.

Aus dem Publikum schallt es dann »Einigt Euch!«, weil subjektiv ja Stärke gewählt wurde. Aber dasselbe Publikum wird mit Frustreaktionen nicht zögern. Vor dem nächsten Wahltermin kommt dann die alte Sehnsucht wieder hoch – nach Sympathie, Stärke und Wirkung.

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