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Vom gelingenden Rhythmus des Lebens Welche Zeitprobleme?

Voranzustellen sind zwei zusammenhängende Thesen, um welche der Artikel kreist. Erstens: Unsere Zeitwahrnehmung schwingt zwischen Beschleunigung und Intensivierung (Andreas Reckwitz). Dies liegt daran, dass Zeit von uns (fast) ausschließlich sozial codiert und strukturiert wahrnehmbar ist – (fast) nur ein soziales Phänomen. Nur knapp wird zu umreißen sein, dass dasjenige, was Gesellschaft überhaupt erst als solche ausmacht, die Einführung unterschiedlicher Zeitregime ist (Cornelius Castoriadis, Hartmut Rosa). Zweitens: Obwohl wir mittels der Beschleunigung Zeit sparen, verschwenden wir sie irrig-konsumistisch (Theodor W. Adorno, Gérald Bronner) in unseren Müdigkeitsgesellschaften (Bjung-Chul Han). Mitunter vermag diese Konstellation allerdings hoffentlich gelungene Lebensrhythmen aufscheinen zu lassen.

Dort, wo die meiste Zerstreuung lauert, in der Digitalität, liegt der größte uns je bekannte Zeitfresser – und das in einer Phase der Menschheitsgeschichte, in der so viel Zeit wie nie freigesetzt wurde. Nie konnten die Menschen auf so viele technische Hilfsmittel und Erleichterungen zurückgreifen wie heute. Während mit dem Gasherd bis hin zum Thermomix immer mehr Lebenszeit der Bewältigung des Haushalts abgetrotzt wurde, galt dies auch für eine Vielzahl anderer Bereiche der beruflichen wie der privaten Lebenswelt.

Was also tun mit der Zeit? Der Konsumismus hat diese Frage in einer Weise beantwortet, gegen die bereits Adorno vehement protestierte. Für ihn, wie auch für Max Horkheimer, Herbert Marcuse und später Mark Fisher verfeuert(e) die Kulturindustrie (hier: der konsumkapitalistische Medienkomplex) die zeitökonomischen Erleichterungen der industriellen Revolution in einer stumpfsinnigen Höllenlandschaft der Aufmerksamkeitsökonomie.

Kein Medium ist an sich inhaltlich verdorben. TikTok etwa kann sowohl ein Mittel für Emanzipation sein wie auch etwa didaktisch reduzierte Einstiege in ökonomische Theorien à la MMT (Modern Monetary Theory) bieten. Fraglich ist nur, ob diese andauernden audiovisuellen Störfeuer der Konzentrationsfähigkeit nicht einen Bärendienst erweist – sie womöglich gar zunichte macht. Dieses Phänomen ist in der Tendenz ähnlich der Schwierigkeit, nach mehrstündigem Fernsehkonsum noch ein komplexes Buch lesen zu wollen: möglich, aber mühsam.

Achtsamkeit als Lösung?

Zur Lösung des Problems wird Achtsamkeit gegenüber der Digitalität empfohlen: ob im deutschen Raum mit Manfred Spitzer, der Schulen pädagogisch auffordert, auf das Smartphone zu verzichten, oder im französischen mit Gérald Bronner, der gar von einer »kognitiven Apokalypse« titelt. Ist in mancherlei sozialwissenschaftlichem Diskurs von anthropologischen Konstanten die Rede, so scheinen essenzialistische Fehler der Vergangenheit wiederholt.

Doch die desolate Lage unserer Aufmerksamkeitsökonomie zeigt uns überdeutlich: Wir sind beständig blinkenden Lichtern und einem Feuerwerk ausgesetzt, denen wir in pawlowscher Manier Folge leisten. Noch die strammste Kantianerin wird eines Tages ihren uhrwerkenden Verstand wider Willen von anrüchigen Bildchen überlistet sehen.

Unnachgiebig dem glücksversprechenden Sirenengesang schnurstracks auszuweichen, mag umgekehrt zum Zerschellen an den kommunikativen Klippen lebensweltlicher Isolation führen: worüber sprechen, wenn Referenzen wechselseitig auf taube Ohren stoßen? Während manch' Gegenwartsdiagnostiker mutig zum Anbinden an den Odysseusmast in digitalen Gewässern rät, um dem Sirenengesang zu entgehen, scheint Reduktion das pragmatischere Gebot der Stunde; doch setzt diese Bewusstsein ihrer selbst und auch die nötige Selbstüberwachung: Zeitmanagement voraus. Schulen einige Werke unter dem solidarisierenden Leitstern selbstbestimmter Lebensqualität »Vom Zeitbesitzer zum Zeitnutzer«, so vermag aus dem frommen Wunsch der Uhr die Herrschaft zu entreißen, die dröge Praxis werden, es ihr in ihrer Taktung allzu gleich zu tun.

»Zeit ist Geld«. Zeitarmut ist allgegenwärtig und schlägt dennoch bei prekär Beschäftigten und Arbeitslosen doppelt bitter zu. Fehlt bei den einen die Zeit für ökonomischen Aufstieg wie für besinnliches Privatleben, halten utility-maximierende Jobcenter die anderen in Beschäftigungstherapien fragwürdigen gesellschaftlichen Nutzens. An den Hochschulen haben die Bologna-Reformen ihre fatalen Spuren hinterlassen. Wer dort ökonomisch weniger betucht ist und ein erfolgreiches Studium, Nebenjob und Aktivismus unter einen Hut bekommen möchte, wird spätestens beim motivationalen Kreislaufkollaps vor Netflix verendend mit letzter Kraft einige Verse aus John Lennons Working Class Hero nuscheln – oder Disarstars husten.

Vom Wachen und Schlafen

Auf leisen Sohlen wiederum kam die Hektik kaum auf uns zu, vertraut man den Soziolog*innen Reckwitz, Rosa und Barbara Adam. Obschon wir sie schleichenden Schrittes das Ureigenste unserer chronologisch entfremdeten Müdigkeitsgesellschaften haben kolonisieren lassen: die Nacht ward zum Tag gemacht und mit diesem Wandel folgte die moderne Reduktion der Schlafmenge wie Qualität.

Schlagen Schlafforschende wie Matthew Walker (»lack of sleep is a slow form of self-euthanasia«) unlängst medizinischen Alarm, lohnt ein vergleichender Blick gen naher Vergangenheit: So schlief Simone de Beauvoir gerne mal zehn Stunden und beklagte sich »merklich« über sechs, vertraut man dem anekdotischen Zeugnis ihrer Briefe. Konnte das ökonomische Prekariat weniger schlafen, so ist dies kein Gegenargument, derweil dem Schlafmangel qualitativ nun auch die oberen Schichten zum Opfer fallen und bestehende Gesundheitsschäden allerseits quantitativ steigen. Zeitbeherrschung scheint, unserer Kontrolle entglitten, vielmehr uns zu beherrschen.

Doch was nimmt uns letztlich die Zeit? Nebst ökonomischen Nöten der Imperativ, das meiste aus sich herauszuholen und im Zweifelsfall auch den Raubbau am eigenen Körper zu riskieren. Zeugnis davon, dass diese kannibalische Logik unseres kapitalistischen Gesellschaftssystems ihrer Humanressource zu sehr ans Eingemachte geht, findet man mittlerweile sublimiert vor. Von sich neu gebender, aber altbekannter Achtsamkeit über Esoterik kurioser Couleur bis hin zu kommerzieller Erschließung des Zen: der corporate identity ist jedes Mittel recht, um noch das selbstgeschaffene Problem der Ausbeutung spirituell auf Funktionsfähigkeit einzuhegen und das ersehnte marktwirtschaftliche Seelenheil uns kränkelnden Schäfchen per duftkerzendem Odem einzuhauchen.

Intensivierung des Zeiterlebens ist so mit Reckwitz das Ying zu dem Yang rationalistischer Zeitbeherrschung. Flow-Momente, Ekstase, quality-time; scheinbar besteht das »wesentliche Ziel spätmoderner Lebensformen darin […,] die Erfahrung der Zeit in der Präsenz des gegenwärtigen Moments […] zu intensivieren« (Reckwitz). Pendeln wir, im Zeitkern eingeschlossen, zwischen Raserei und Goethes »Verweile doch! Du bist so schön!«?

Die Frage, welche Rolle Zeit für die Gesellschaft spielt, rührt an einem Geheimnis. Folgt man dem Philosophen Castoriadis, so entspricht Zeit, oder genauer ihre Wahrnehmung, der Gesellschaft beziehungsweise dem Gesellschaftlich-Geschichtlichen. Dieser Gedanke kann sich in Grundzügen auf philosophische Traditionen berufen. Kant und diverse Phänomenolog*innen betrachteten das Zeiterleben, genauer Zeitlichkeit bereits als Wesen der individuellen Subjektivität, wohingegen manche von ihnen das Zeiterleben auch als etwas Kollektives denken und dachten.

Wie relevant der Begriff der Zeit für die Gesellschaft ist, bemisst sich nicht zuletzt an deren Kosmologie: Während mancherlei Hindus bis heute an einem zyklischen Zeitmodell festhalten (wie einst: neolithische Kulturen; Babylonier; Chinesen; Mayas; amerikanische Ureinwohner), setzte sich samt semitischer Verbreitung abendländischen Gedankenguts insbesondere ein Verständnis linearer Zeit durch – am Ende: das Himmelreich Gottes nach Jüngstem Gericht. »Die Zeit«, so Reckwitz »gibt es also gar nicht, sondern diverse Zeitlichkeiten«. Freilich liegen auch in der Natur Rhythmen vor (Jahreszeiten etwa), jedoch können wir sie (fast) gar nicht anders als aus einer jeweilig sozialisierten Zeitwahrnehmung heraus deuten und erleben.

Die Lösung für unser Zeitproblem? – nichts weniger als die bewusste Veränderung unserer Gesellschaft! Technologien haben sich an unsere Bedürfnisse anzupassen – nicht wir an sie. Individuelle Achtsamkeit und betriebswirtschaftlich eingepreiste Yoga-Stunden mögen das Schlimmste für die nächste Zeit verhüten, doch das Voranschreiten der, durch die kapitalistische Wirtschaftsweise verursachten, Klimakrise raubt uns die Zeit. Eine unzeitgemäße Debatte über den Wert unser aller Lebenszeit muss gesamtgesellschaftliche Konsequenzen, einen gelungenen Rhythmus des Lebens zeitigen.

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